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Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
 
 
 
{T 0/2} 
 
1C_397/2014  
   
   
 
 
 
Urteil vom 20. November 2014  
 
I. öffentlich-rechtliche Abteilung  
 
Besetzung 
Bundesrichter Fonjallaz, Präsident, 
Bundesrichter Aemisegger, Karlen, 
Gerichtsschreiber Störi. 
 
Verfahrensbeteiligte 
Bundesamt für Strassen,  
Beschwerdeführer, 
 
gegen  
 
A.________, 
Beschwerdegegner, 
vertreten durch Rechtsanwalt Dr. Hermann Roland Etter, 
 
Departement des Innern des Kantons Solothurn, vertr. durch Motorfahrzeugkontrolle, Abteilung Administrativmassnahmen.  
 
Gegenstand 
Aberkennung des ausländischen Führerausweises, 
 
Beschwerde gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts des Kantons Solothurn vom 23. Juni 2014. 
 
 
Sachverhalt:  
 
A.   
Die Staatsanwaltschaft Solothurn verurteilte A.________ mit Strafbefehl vom 29. Juli 2013 wegen grober Verletzung von Verkehrsregeln im Sinn von Art. 90 Abs. 2 SVG zu einer bedingten Geldstrafe von 120 Tagessätzen und einer Busse von Fr. 2'000.--. Sie hielt für erwiesen, dass A.________ am 12. Januar 2013, um 20:28 Uhr, am Steuer eines Personenwagens die zulässige Höchstgeschwindigkeit von 80 km/h auf der Verzweigungsrampe BE/BS der Autobahn A2 in Härkingen um netto 64 km/h überschritten hatte. Der Strafbefehl blieb unangefochten. 
 
Am 3. Dezember 2013 aberkannte das Departement des Innern A.________ den (ausländischen) Führerausweis in Anwendung von Art. 16c lit. a bis und Art. 90 Abs. 4 SVG für zwei Jahre. 
 
Am 23. Juni 2014 hiess das Verwaltungsgericht des Kantons Solothurn die Beschwerde von A.________ gegen diese Entzugsverfügung teilweise gut, hob sie auf und setzte die Dauer des Warnungsentzugs auf 5 Monate fest. 
 
B.   
Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten beantragt das Bundesamt für Strassen (ASTRA), dieses Urteil des Verwaltungsgerichts aufzuheben und A.________ den Führerausweis für die Dauer von 2 Jahren abzuerkennen. 
 
C.   
Das Verwaltungsgericht beantragt, die Beschwerde abzuweisen. A.________ beantragt, die Beschwerde abzuweisen, soweit darauf einzutreten sei. Das Bau- und Justizdepartement, Abteilung Administrativmassnahmen im Strassenverkehr, beantragt, die Beschwerde gutzuheissen. 
 
 
Erwägungen:  
 
1.   
Angefochten ist ein kantonal letztinstanzlicher Entscheid über einen Führerausweisentzug. Dagegen steht die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten nach Art. 82 ff. BGG offen; ein Ausnahmegrund ist nicht gegeben (Art. 83 BGG). Das ASTRA ist zur Beschwerde befugt (Art. 89 Abs. 2 lit. a BGG i.V.m. Art. 10 Abs. 4 der Organisationsverordnung für das Eidgenössische Departement für Umwelt, Verkehr, Energie und Kommunikation vom 6. Dezember 1999, SR 172.217.1). Die übrigen Sachurteilsvoraussetzungen geben zu keinen Bemerkungen Anlass, sodass auf die Beschwerde einzutreten ist. 
 
2.  
 
2.1. Nach dem in Rechtskraft erwachsenen Strafbefehl ist in tatsächlicher Hinsicht davon auszugehen, dass der Beschwerdegegner beim fraglichen Vorfall auf einer Autobahn die signalisierte Höchstgeschwindigkeit von 80 km/h um netto 64 km/h überschritt. In rechtlicher Hinsicht wird dies von der Staatsanwaltschaft als grobe Verkehrsregelverletzung im Sinn von Art. 90 Abs. 2 SVG qualifiziert.  
 
Das ASTRA hält diese rechtliche Würdigung für falsch und vertritt die Auffassung, es handle sich um einen qualifiziert groben Verstoss gegen die Verkehrsregeln im Sinn von Art. 90 Abs. 3 und 4 SVG. Das entspreche einer schweren Widerhandlung gegen die Verkehrsregeln im Sinn von Art. 16c Abs. 1 lit. a i.V.m. Abs. 2 lit. a bis SVG, was verwaltungsrechtlich mit einem Führerausweisentzug von minimal 2 Jahren geahndet werden müsse. 
 
2.2. Der Gesetzgeber hat im Rahmen des Handlungsprogramms des Bundes für mehr Sicherheit im Strassenverkehr ("Via sicura") die Strafbestimmungen des SVG per 1. Januar 2013 verschärft (AS 2012 6291; BBl 2010 8447). Dabei hat er zu den beiden bisherigen Kategorien von Verkehrsregelverletzungen - der als Übertretung strafbaren einfachen (Art. 90 Abs. 1 SVG) und der als Vergehen strafbaren groben Verkehrsregelverletzung (Art. 90 Abs. 2 SVG) - eine dritte Kategorie von als Verbrechen strafbaren, besonders bzw. qualifiziert groben Verkehrsregelverletzungen hinzugefügt (Art. 90 Abs. 3 SVG). Danach wird mit Freiheitsstrafe zwischen einem und vier Jahren bestraft, "wer durch vorsätzliche Verletzung elementarer Verkehrsregeln das hohe Risiko eines Unfalls mit Schwerverletzten oder Todesopfern eingeht, namentlich durch besonders krasse Missachtung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit, waghalsiges Überholen oder Teilnahme an einem nicht bewilligten Rennen mit Motorfahrzeugen". In Art. 90 Abs. 4 SVG wird sodann aufgelistet, welche Geschwindigkeitsübertretungen in jedem Fall nach Abs. 3 geahndet werden. Wird, was dem Beschwerdegegner vorgeworfen wird, die zulässige Höchstgeschwindigkeit von 80 km/h um mindestens 60 km/h überschritten, liegt eine qualifiziert grobe Geschwindigkeitsüberschreitung im Sinn von Abs. 3 vor (Art. 90 Abs. 4 lit. c SVG).  
 
2.3. Das Verwaltungsgericht führt im angefochtenen Entscheid aus, Art. 90 Abs. 4 SVG ergebe nur auf den ersten Blick den klaren Sinn, dass derjenige als "Raser" strafbar sei, der die zulässige Höchstgeschwindigkeit von 80 km/h um 60 km/h oder mehr überschreite. Art. 16c Abs. 2 lit. a bis SVG verlange nämlich neben der vorsätzlichen Verletzung elementarer Verkehrsregeln primär das hohe Risiko eines Unfalls mit Schwerverletzten und Toten, welches durch eine krasse Geschwindigkeitsüberschreitung im Sinn von Art. 90 Abs. 4 SVG entstehen könne. Ob ein solches Risiko bei der Geschwindigkeitsübertretung vom 12. Januar 2013 bestanden habe, sei fraglich, sei sie doch auf einem gut ausgebauten, mehrspurigen Autobahnabschnitt begangen worden, welcher zwar mit einer Höchstgeschwindigkeit von 80 km/h signalisiert sei, der aber grundsätzlich mit einer erheblich höheren Geschwindigkeit befahren werden könne, ohne dass allein dadurch ein hohes Unfallrisiko entstehe. Anderseits sei unklar, ob sich der Begriff "Höchstgeschwindigkeit" in Art. 90 Abs. 4 SVG auf die konkrete, signalisierte Höchstgeschwindigkeit oder die für bestimmte Strassen und Zonen geltende generelle Höchstgeschwindigkeit beziehe. Es kam zum Schluss, letzteres sei richtig. Geschwindigkeitsüberschreitungen auf richtungsgetrennten Autobahnen seien weniger risikoreich als solche auf nicht richtungsgetrennten Strassen. Es könne daher nicht dem Willen des Gesetzgebers entsprechen, dass ein Automobilist, der auf einem mit 80 km/h signalisierten Autobahnabschnitt 64 km/h zu schnell fahre, gleich behandelt werde wie einer, der dieselbe Widerhandlung auf einer Strecke ausserorts begehe. Der Beschwerdegegner habe sich daher (nur) einer groben Verkehrsregelverletzung im Sinn von Art. 90 Abs. 2 SVG bzw. einer Widerhandlung im Sinn von Art. 16c Abs. 2 lit. a SVG schuldig gemacht.  
 
2.4. Diese Ausführungen vermögen nicht zu überzeugen; die Bedeutung von Art. 90 Abs. 4 SVG ist nicht nur auf den ersten Blick klar, sondern bleibt dies auch bei näherer Prüfung.  
 
2.4.1. Art. 90 Abs. 4 SVG stellt die unwiderlegbare gesetzliche Vermutung auf, dass besonders krasse Geschwindigkeitsübertretungen nach Massgabe der lit. a bis d qualifiziert schwere Verkehrsregelverletzungen im Sinn von Abs. 3 darstellen ("Abs. 3 ist in jedem Fall erfüllt, wenn..."). Fällt somit eine Geschwindigkeitsüberschreitung unter den "Rasertatbestand" von Art. 90 Abs. 4 SVG, so ist kraft gesetzlicher Vermutung zwingend davon auszugehen, dass sie vorsätzlich begangen wurde und das hohe Risiko eines schweren Verkehrsunfalls mit Schwerverletzten und Toten geschaffen hat. Bei einer Geschwindigkeitsüberschreitung im Sinn von Art. 90 Abs. 4 SVG besteht daher kein Spielraum für eine einzelfallweise Risikobeurteilung mit der Möglichkeit, sie gegebenenfalls zu einer als Vergehen strafbaren groben Verletzung im Sinn von Art. 90 Abs. 2 SVG "herabzustufen". Das Verwaltungsgericht hat daher Bundesrecht verletzt, indem es zum Schluss kam, der Beschwerdegegner habe sich "nur" eine grobe Verkehrsregelverletzung zu Schulden kommen lassen, weil er kein hohes Risiko eines schweren Unfalls geschaffen habe. Diese Folgerung wird durch die Faktenlage ohnehin nicht gestützt, da der Beschwerdegegner in eine automatische Geschwindigkeitsmessung geraten war und dementsprechend tatsächliche Feststellungen zur konkreten Gefahrensituation fehlen.  
 
Die (allgemeine) Überlegung des Verwaltungsgerichts, auf dem übersichtlichen, zweispurigen und mit einem Pannenstreifen ausgerüsteten Autobahnabschnitt, der nur deshalb eine auf 80 km/h reduzierte Höchstgeschwindigkeit aufweise, weil er Teil einer Verzweigung sei, habe die vom Beschwerdegegner bei schwachem Verkehrsaufkommen begangene Geschwindigkeitsüberschreitung von 64 km/h keine besondere Gefahr geschaffen, leuchtet zudem nicht ohne weiteres ein. Das potenziell hohe Unfallrisiko ergibt sich nicht nur aus der absoluten Höhe der gefahrenen Geschwindigkeit, sondern insbesondere auch aus dem grossen Geschwindigkeitsunterschied zwischen dem Raser und den korrekt fahrenden Verkehrsteilnehmern, die nicht mit so schnellen Fahrzeugen rechnen müssen. 
 
2.4.2. Eine gewisse Berechtigung nicht abzusprechen ist der Überlegung des Verwaltungsgerichts, das Gefahrenpotenzial von Geschwindigkeitsüberschreitungen auf Autobahnen sei geringer als auf nicht richtungsgetrennten Strassen.  
 
Der Gesetzgeber hat entschieden, dass derjenige, der die zulässige Höchstgeschwindigkeit um ein bestimmtes, nach ihrer Höhe abgestuftes Mass überschreitet, in jedem Fall eine qualifiziert schwere Verkehrsregelverletzung begeht (Art. 90 Abs. 3 und 4 SVG), mithin als "Raser" einzustufen ist. Generelle Abstufungen und Grenzziehungen dieser Art haben naturgemäss etwas Zufälliges an sich, und man könnte die vom Gesetzgeber gewählten vier Stufen noch verfeinern, z.B. durch eine differenzierte Behandlung von Geschwindigkeitsüberschreitungen auf Autobahnen und nicht richtungsgetrennten Strassen. Wenn sich der Gesetzgeber demgegenüber für ein relativ grobes Schema entschieden und von weiteren Differenzierungen abgesehen hat, liegt das in seinem Ermessen und ist hinzunehmen, auch wenn dadurch unter Umständen Geschwindigkeitsexzesse auf Autobahnen strenger geahndet werden als solche auf Hauptstrassen. Von einer im Ergebnis stossenden Ungleichbehandlung kann indessen nicht die Rede sein, und das Bundesgericht ist ohnehin an das Gesetz gebunden (Art. 190 BV). 
 
Mit Höchstgeschwindigkeit ist klarerweise die maximal zulässige Geschwindigkeit gemeint, d.h. die signalisierte Höchstgeschwindigkeit (Art. 4a Abs. 5 VRV) oder, wenn eine solche fehlt, die für die Strassenart oder den Bereich geltende allgemeine Höchstgeschwindigkeit gemäss Art. 4a Abs. 1 VRV. Dass sich Art. 90 Abs. 4 SVG nicht auf die allgemeinen Höchstgeschwindigkeiten im Sinn von Art. 4a Abs. 1 VRV bezieht, ergibt sich einerseits bereits aus der Formulierung, indem sich die Bestimmung ausdrücklich auf die Höchstgeschwindigkeiten bezieht, nicht auf die allgemeinen Höchstgeschwindigkeiten. Das ist auch sachgerecht, wäre doch sonst z.B. derjenige, der eine auf 60 km/h begrenzte Autobahnbaustelle mit 190 km/h befährt, kein Raser, weil er die auf Autobahnen geltende allgemeine Höchstgeschwindigkeit von 120 km/h "nur" um 70 km/h überschreitet. Schon dieses Beispiel zeigt, dass die Auffassung des Verwaltungsgerichts nicht zutreffen kann. Im Urteil 1B_275/2013 vom 28. Oktober 2013 E. 2.2 ist das Bundesgericht (wie zuvor schon die Solothurner Staatsanwaltschaft) denn auch ohne weiteres davon ausgegangen, dass sich Art. 90 Abs. 4 SVG auf die für den betreffenden Strassenabschnitt effektiv geltende Höchstgeschwindigkeit bezieht. Daran ist festzuhalten. 
 
3.   
Die Beschwerde ist gutzuheissen, der angefochtene Entscheid aufzuheben und die Sache zu neuem Entscheid an die Vorinstanz zurückzuweisen. Damit ergibt sich, dass die (unzutreffende) strafrechtliche Beurteilung des Vorfalls von der verwaltungsrechtlichen abweicht. Das ist zwar unter dem Gesichtspunkt der Einheit der Rechtsordnung unbefriedigend, aber nicht unzulässig (vgl. Urteil 1C_302/ 2011 vom 4. November 2011 E. 2.2 mit Hinweisen). Vor allem aber wirkt sich der fehlerhafte Strafbefehl zu Gunsten des Beschwerdegegners aus, der bei richtiger Rechtsanwendung zu einer Freiheitsstrafe von mindestens einem Jahr hätte verurteilt werden müssen (Art. 90 Abs. 3 SVG). 
 
Bei diesem Ausgang des Verfahrens trägt der Beschwerdegegner die Kosten (Art. 66 Abs. 1 BGG). 
 
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:  
 
1.   
Die Beschwerde wird gutgeheissen, das Urteil des Verwaltungsgerichts des Kantons Solothurn vom 23. Juni 2014 aufgehoben und die Sache zu neuem Entscheid an die Vorinstanz zurückgewiesen. 
 
2.   
Die Gerichtskosten von Fr. 1'000.-- werden dem Beschwerdegegner auferlegt. 
 
3.   
Dieses Urteil wird dem ASTRA, dem Beschwerdegegner, dem Departement des Innern des Kantons Solothurn und dem Verwaltungsgericht des Kantons Solothurn schriftlich mitgeteilt. 
 
 
Lausanne, 20. November 2014 
 
Im Namen der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
 
Der Präsident: Fonjallaz 
 
Der Gerichtsschreiber: Störi