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[AZA 7] 
P 26/99 Vr 
 
III. Kammer 
 
Bundesrichter Schön, Spira und Bundesrichterin Widmer; 
Gerichtsschreiber Arnold 
 
Urteil vom 20. Dezember 2000 
 
in Sachen 
 
I.________, 1933, Beschwerdeführer, 
 
gegen 
 
Sozialversicherungsanstalt des Kantons Aargau, Ausgleichskasse, Kyburgerstrasse 15, Aarau, Beschwerdegegnerin, 
 
und 
 
Versicherungsgericht des Kantons Aargau, Aarau 
 
A.- Der 1933 geborene I.________, Bezüger einer ganzen Invalidenrente sowie seit 1. Januar 1993 einer Zusatzrente für die Ehefrau Z.________ (geb. 1939), liess am 27. Mai 1993 durch seinen Beistand H.________, Sozialdienst X.________, um die Ausrichtung von Ergänzungsleistungen zur Invalidenrente ersuchen. Auf Grund der Eheschliessung vom 30. Januar 1993 hätten sich die wirtschaftlichen Verhältnisse verschlechtert, zumal die Ehefrau, die erst seit Anfang 1993 in der Schweiz weile und weder Deutsch spreche noch einen Beruf erlernte habe, keine Arbeitserlaubnis besitze. Die Ausgleichskasse des Kantons Aargau bejahte einen Anspruch und richtete ab 1. Januar 1993 Ergänzungsleistungen aus, deren Höhe revisionsweise verschiedentlich angepasst wurde (Verfügungen vom 21. Juni 1993, 7. März und 19. August 1994). 
Mit Verfügung vom 20. Juli 1995 setzte die Ausgleichskasse die Ergänzungsleistungen (von zuletzt monatlich Fr. 1664. -) rückwirkend für die Monate Februar bis Juni 1995 auf Fr. 590. - sowie ab Juli 1995 auf Fr. 1062. - fest und verpflichtete I.________, in der Zeit vom 1. Februar bis 31. Juli 1995 zuviel bezogene Zusatzleistungen (von insgesamt Fr. 4972. -) zurückzuerstatten. Zur Begründung führte sie im Wesentlichen an, Kenntnis davon erhalten zu haben, dass die Ehefrau einerseits im Februar 1995 eine Erwerbstätigkeit als Serviceangestellte aufgenommen habe und die Eheleute andererseits seit Juni 1995 getrennte Haushalte führten. 
 
B.- Beschwerdeweise beantragte I.________ die Herabsetzung der Rückerstattungsforderung auf Fr. 2350. -. Er machte geltend, die Forderung reduziere sich im Betrag von Fr. 272. -, da er bereits ab 1. Juni 1995 - und nicht wie von der Verwaltung angenommen seit 1. Juli 1995 - Anspruch auf eine monatliche Ergänzungsleistung von Fr. 1062. - habe. Die verbleibende Rückforderung in der Höhe von Fr. 4700. - sei im Sinne eines Entgegenkommens um die Hälfte herabzusetzen, da der von der Ehefrau erzielte Verdienst in bloss geringem Umfang (Fr. 300. - monatlich) für die eheliche Gemeinschaft aufgewendet worden sei. 
Am 5. September 1995 zog die Verwaltung die angefochtene Verfügung vom 20. Juli 1995 lite pendente in Wiedererwägung und setzte den Anspruch auf Ergänzungsleistungen für den Monat Juni 1995 - wie beantragt - auf Fr. 1062. - und die Rückerstattungsforderung entsprechend auf Fr. 4700. - fest. Mangels guten Glaubens verneinte sie zudem einen Erlass der Rückforderung, welcher, so die gleichentags erstattete Vernehmlassung, sinngemäss im Umfang von Fr. 2350. - beantragt worden sei. 
Mit Entscheid vom 27. April 1999 wies das Versicherungsgericht des Kantons Aargau die Beschwerde ab, soweit sie nicht gegenstandslos geworden war, wobei das Gericht die Frage des Erlasses der Rückforderung ebenfalls prüfte und verneinte. 
 
C.- I.________ führt Verwaltungsgerichtsbeschwerde mit dem Rechtsbegehren, die Rückerstattungsforderung sei vollumfänglich oder zumindest teilweise zu erlassen. Ferner ersucht er um unentgeltliche Prozessführung. Der Eingabe liegen ein Auszug aus dem Protokoll des Gemeinderates Y.________, Kanton Aargau, vom 8. Januar 1999 sowie eine Verfügung des Bezirksamtes Z.________ vom 25. März 1999 bei. Danach hat der Gemeinderat ein Gesuch um Aufhebung der seit 1. Dezember 1990 angeordneten Verwaltungsbeistandschaft im Sinne von Art. 393 ZGB abgewiesen und das Bezirksamt als vormundschaftliche Aufsichtsbehörde die hiegegen erhobene Beschwerde abschlägig beurteilt. 
Das Versicherungsgericht und die Ausgleichskasse verzichten auf eine Vernehmlassung. Das Bundesamt für Sozialversicherung reicht keine Stellungnahme ein. 
 
Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung: 
 
1.- a) Gemäss Art. 128 OG beurteilt das Eidgenössische Versicherungsgericht letztinstanzlich Verwaltungsgerichtsbeschwerden gegen Verfügungen im Sinne von Art. 97, 98 lit. b-h und 98a OG auf dem Gebiet der Sozialversicherung. Im verwaltungsgerichtlichen Beschwerdeverfahren sind grundsätzlich nur Rechtsverhältnisse zu überprüfen bzw. zu beurteilen, zu denen die zuständige Verwaltungsbehörde vorgängig verbindlich - in Form einer Verfügung - Stellung genommen hat. Insoweit bestimmt die Verfügung den beschwerdeweise weiterziehbaren Anfechtungsgegenstand. Umgekehrt fehlt es an einem Anfechtungsgegenstand und somit an einer Sachurteilsvoraussetzung, wenn und insoweit keine Verfügung ergangen ist (BGE 119 Ib 36 Erw. 1b, 118 V 313 Erw. 3b, je mit Hinweisen). 
Nach der Rechtsprechung des Eidgenössischen Versicherungsgerichts kann das verwaltungsgerichtliche Verfahren aus prozessökonomischen Gründen auf eine ausserhalb des Anfechtungsgegenstandes, d.h. ausserhalb des durch die Verfügung bestimmten Rechtsverhältnisses liegende spruchreife Frage ausgedehnt werden, wenn diese mit dem bisherigen Streitgegenstand derart eng zusammenhängt, dass von einer Tatbestandsgesamtheit gesprochen werden kann, und wenn sich die Verwaltung zu dieser Streitfrage mindestens in Form einer Prozesserklärung geäussert hat (BGE 122 V 36 Erw. 2a mit Hinweisen). 
 
b) Gegenstand der Verfügung vom 20. Juli 1995 und damit vorinstanzlich Anfechtungsgegenstand bilden die (rückwirkende) Zusprechung von Ergänzungsleistungen zur Invalidenrente (samt Zusatzrente) ab Februar 1995 sowie die Rückerstattungsforderung von Fr. 4972. -, nicht der Erlass der Rückforderung. Der Umstand, dass die Verfügung vom 5. September 1995 den Erlass der Rückforderung zum Gegenstand hat, ist insoweit unerheblich, als eine von der Verwaltung pendente lite erlassene Verfügung rechtsprechungsgemäss nicht geeignet ist, den Prozessgegenstand über den Anfechtungsgegenstand hinaus auszudehnen (Erw. 2a des nicht veröffentlichten Urteils T. vom 7. August 2000, I 184/00). Da der Bestand der Rückforderung und deren Erlass, insbesondere auch mit Blick auf die vorinstanzlichen Vorbringen des Beschwerdeführers, in casu eng zusammenhängen und sich die Ausgleichskasse in ablehnendem Sinne zur Frage des Erlasses aussprach, ist es indes nicht zu beanstanden, wenn das kantonale Gericht im Ergebnis den Anfechtungsgegenstand ausgedehnt und den Erlass der Rückforderung ebenfalls beurteilt hat. 
 
2.- a) Letztinstanzlich streitig ist einzig der Erlass der Rückerstattungsschuld. Nach ständiger Rechtsprechung geht es dabei nicht um die Bewilligung oder Verweigerung von Versicherungsleistungen im Sinne von Art. 132 OG (BGE 122 V 134 Erw. 1 und 223 Erw. 2 mit Hinweisen). Das Eidgenössische Versicherungsgericht hat demnach nur zu prüfen, ob das vorinstanzliche Gericht Bundesrecht verletzt hat, einschliesslich Überschreitung oder Missbrauch des Ermessens, oder ob der rechtserhebliche Sachverhalt offensichtlich unrichtig, unvollständig oder unter Verletzung wesentlicher Verfahrensbestimmungen festgestellt worden ist (Art. 132 in Verbindung mit Art. 104 lit. a und b sowie Art. 105 Abs. 2 OG). 
 
b) Im Rahmen von Art. 105 Abs. 2 OG ist die Möglichkeit, im Verfahren vor dem Eidgenössischen Versicherungsgericht neue tatsächliche Behauptungen aufzustellen oder neue Beweismittel geltend zu machen, weitgehend eingeschränkt. Nach der Rechtsprechung sind nur jene neuen Beweismittel zulässig, welche die Vorinstanz von Amtes wegen hätte erheben müssen und deren Nichterheben eine Verletzung wesentlicher Verfahrensvorschriften darstellt (BGE 121 II 99 Erw. 1c, 120 V 485 Erw. 1b, je mit Hinweisen). Zwar ist der Verwaltungsprozess vom Untersuchungsgrundsatz beherrscht, wonach Verwaltung und Gericht von sich aus für die richtige und vollständige Abklärung des Sachverhalts zu sorgen haben; doch entbindet das die Rechtsuchenden nicht davon, selber die Beanstandungen vorzubringen, die sie anzubringen haben (Rügepflicht), und ihrerseits zur Feststellung des Sachverhalts beizutragen (Mitwirkungspflicht). Unzulässig und mit der weit gehenden Bindung des Eidgenössischen Versicherungsgerichts an die vorinstanzliche Sachverhaltsfeststellung gemäss Art. 105 Abs. 2 OG unvereinbar ist es darum, neue tatsächliche Behauptungen und neue Beweismittel erst im letztinstanzlichen Verfahren vorzubringen, obwohl sie schon im kantonalen Beschwerdeverfahren hätten geltend gemacht werden können und - in Beachtung der Mitwirkungspflicht - hätten geltend gemacht werden müssen. Solche (verspätete) Vorbringen sind nicht geeignet, die tatsächlichen Feststellungen der Vorinstanz als mangelhaft im Sinne von Art. 105 Abs. 2 OG erscheinen zu lassen (BGE 121 II 100 Erw. 1c, AHI 1994 S. 211 Erw. 2b mit Hinweisen). 
 
c) Der Umstand, dass der Beschwerdeführer verbeiständet ist, war bereits vorinstanzlich aktenkundig und wird im angefochtenen Entscheid auch genannt. Zieht man in Betracht, dass Vorbringen nichtunterdasNovenverbotgemässArt. 105Abs. 2OGfallen, dieeinenbereitsvordemkantonalenGerichteingenommenenStandpunktpräzisieren (Erw. 4b des nicht veröffentlichten Urteiles O. AG vom 17. Dezember 1982, H 86/81) und auch im Rahmen der eingeschränkten Kognition der Untersuchungsgrundsatz gilt (BGE 97 V 134; ZAK 1971 S. 505), ist die Übereinstimmung des vorinstanzlichen Entscheides mit dem Bundesrecht unter Berücksichtigung der in der Verwaltungsgerichtsbeschwerde gemachten Vorbringen betreffend Beistandschaft sowie der neu aufgelegten, nach Abschluss des vorinstanzlichen Schriftenwechsels datierenden Beweismittel, zu prüfen. 
 
3.- Das kantonale Gericht hat die Gesetzes- und Verordnungsbestimmungen über die Voraussetzungen für den Erlass der Rückerstattung zu Unrecht bezogener Ergänzungsleistungen (Art. 27 Abs. 1 ELV in Verbindung mit Art. 47 
Abs. 1 AHVG und - ergänzend - Art. 79 AHVV) sowie die nach der Rechtsprechung für die Beurteilung des guten Glaubens des Leistungsbezügers entscheidenden Kriterien (BGE 110 V 180 f. Erw. 3c und d mit Hinweisen) zutreffend dargelegt. Es hat ferner auch die Judikatur zur Unterscheidung zwischen dem guten Glauben als fehlendem Unrechtsbewusstsein und der Frage, ob sich jemand unter den gegebenen Umständen auf guten Glauben berufen kann bzw. ob er bei zumutbarer Aufmerksamkeit den bestehenden Rechtsmangel hätte erkennen sollen samt daran anknüpfender kognitionsrechtlicher Wirkungen (BGE 122 V 223 Erw. 3) richtig wiedergegeben. 
4.- a) Die Vorinstanz verneinte die Frage der Gutgläubigkeit mit der Begründung, der Beschwerdeführer habe die Meldepflichtverletzungen nach den Akten, insbesondere den Vorbringen im kantonalen Verfahren, im Wissen um deren Rechtswidrigkeit begangen, um eine Herabsetzung der Leistungen zu verhindern. Der Beschwerdeführer stellt sich auf den Standpunkt, mit Blick auf die über ihn angeordnete Verwaltungsbeistandschaft (Art. 393 ZGB) sei ihm Gutgläubigkeit zu attestieren. 
 
b) Nach den vormundschaftlichen Akten verfügt der Beschwerdeführer über bescheidene Deutschkenntnisse, bedarf der Hilfe im schriftlichen Verkehr mit den Behörden und ist generell nicht in der Lage, seine Einkommens- und Vermögensverhältnisse realistisch einzuschätzen, weshalb er seit 1. Dezember 1990 unter Verwaltungsbeistandschaft im Sinne von Art. 393 ZGB steht. Die damit verbundenen Hilfestellungen sind umfassend: Der Beistand H.________ tätigte die Anmeldung zum Bezug von Ergänzungsleistungen vom 28. Mai 1993, beantwortete die im Revisionsfragebogen vom 19. Juli 1994 gestellten Fragen und handelte als Vertreter in mietrechtlichen Angelegenheiten. Verwaltungsgerichtsbeschwerde wie vorinstanzlich zu beurteilende Rechtsvorkehr sind zwar vom Versicherten unterzeichnet. Nach den Akten steht indes fest, dass der Beistand jedenfalls im kantonalen Verfahren beim Verfassen der Beschwerde mitwirkte. Die Feststellung, der Beschwerdeführer habe die Meldung veränderter Verhältnisse wissentlich unterlassen, gründet im Wesentlichen darauf, die im kantonalen Verfahren vorgetragenen Argumente zeigten, der Beschwerdeführer wisse sehr wohl, was ergänzungsleistungsrechtlich massgebend sei. Ob dies zutrifft, ist nach dem Gesagten zweifelhaft, kann indes offen bleiben. Selbst wenn man dem Beschwerdeführer zugesteht, dass er sich der Unrechtmässigkeit seiner Unterlassungen nicht bewusst war, ist ihm doch zumindest Grobfahrlässigkeit vorzuwerfen. Trotz sprachlicher und intellektueller Schwierigkeiten war er nämlich in der Lage, nach Erhalt der strittigen und ihn belastenden Verwaltungsverfügung vom 20. Juli 1995 beim Beistand um Hilfe zu ersuchen und diesen auf seiner Meinung nach fehlerhafte Grundlagen des Verwaltungsaktes hinzuweisen. Kenntnis der deutschen Sprache ist demnach zumindest soweit vorhanden, als der Beschwerdeführer eine ihn belastende Verfügung als solche erkannte und sich zu wehren verstand. Was die Bedeutung der Meldepflichten im Allgemeinen und die grundsätzliche Abhängigkeit der Ergänzungsleistungen von den Einkünften beider Ehegatten betrifft, muss zudem angenommen werden, dass der Beschwerdeführer hierüber auf Grund des vorangegangenen Verfahrens - Anmeldung zum Bezug von Ergänzungsleistungen, Revisionsverfahren samt Neuberechnungen der Ergänzungsleistung - von sich aus Bescheid wusste oder jedenfalls durch seinen Beistand gehörig informiert wurde. Somit liegt eine nicht leicht zu nehmende Pflichtwidrigkeit vor, welche die Berufung auf den guten Glauben ausschliesst. 
 
5.- Angesichts der offensichtlichen Bedürftigkeit des Beschwerdeführers sind keine Gerichtskosten zu erheben. 
 
Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht: 
 
I.Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird abgewiesen. 
 
II.Es werden keine Gerichtskosten erhoben. 
 
III. Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons Aargau und dem Bundesamt für Sozialversicherung zugestellt. 
 
Luzern, 20. Dezember 2000 
 
Im Namen des 
Eidgenössischen Versicherungsgerichts 
Der Präsident der III. Kammer: Der Gerichtsschreiber: