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Eidgenössisches Versicherungsgericht 
Tribunale federale delle assicurazioni 
Tribunal federal d'assicuranzas 
 
Sozialversicherungsabteilung 
des Bundesgerichts 
 
Prozess 
{T 7} 
I 15/03 
 
Urteil vom 21. Oktober 2003 
IV. Kammer 
 
Besetzung 
Präsidentin Leuzinger, Bundesrichter Rüedi und Ferrari; Gerichtsschreiber Schmutz 
 
Parteien 
IV-Stelle des Kantons Aargau, Kyburgerstrasse 15, 5001 Aarau, Beschwerdeführerin, 
 
gegen 
 
S.________, 1962, Beschwerdegegner 
 
Vorinstanz 
Versicherungsgericht des Kantons Aargau, Aarau 
 
(Entscheid vom 11. November 2002) 
 
Sachverhalt: 
A. 
Der 1962 geborene S.________ ist seit 1981 gelernter Bau- und Möbelschreiner und arbeitete bis 1990 in diesem Beruf. Nachher war er bis 1998 als Hauswart und Magaziner für verschiedene Arbeitgeber tätig. Im Mai 1998 wurde er wegen Stellenabbaus arbeitslos. Bis zur Aussteuerung aus der Arbeitslosenversicherung arbeitete er zeitweilig als Aushilfe und absolvierte zwei Beschäftigungsprogramme. Am 9. Juni 2000 meldete sich S.________ bei der Invalidenversicherung zum Bezug von IV-Leistungen an. Er beantragte Umschulung auf eine neue Tätigkeit. Die Sozialversicherungsanstalt des Kantons Aargau, IV-Stelle (nachfolgend: SVA), holte bei Dr. med. R.________, prakt. Arzt, einen Arztbericht (vom 24. Juni 2000) ein und beauftragte die Klinik X.________ mit der Erstellung eines medizinischen Gutachtens (vom 26. November 2001), bevor sie mit Verfügung vom 26. April 2002 das Leistungsbegehren abwies. Sie begründete es damit, dass vorerst keine medizinischen Gründe gegen eine Weiterarbeit des Versicherten im Beruf als Schreiner objektiviert werden könnten und die zuletzt ausgeübten Tätigkeiten (eines Magaziners oder Lagermitarbeiters) ihm weiterhin in vollem Umfang zumutbar seien. Selbst wenn davon ausgegangen würde, dass ihm eine Arbeit als Schreiner nicht mehr zumutbar sei, bestehe bei einer Lohneinbusse von lediglich 17 % kein Anspruch auf Umschulung. 
B. 
S.________ erhob gegen die Verfügung der SVA beim Versicherungsgericht des Kantons Aargau Beschwerde und beantragte, es sei ihm der Anspruch auf Umschulung zuzuerkennen. Mit Entscheid vom 11. November 2002 hiess das kantonale Gericht die Beschwerde gut. Es stellte fest, dass der Versicherte einen für eine Umschulung erforderlichen Mindestinvaliditätsgrad (von 20 %) erreiche, und wies die Sache zur Prüfung konkreter Umschulungsmassnahmen an die Verwaltung zurück. 
C. 
Mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde beantragt die SVA, der vorinstanzliche Entscheid sei aufzuheben und die Verfügung vom 26. April 2002 zu bestätigen, eventualiter sei die Sache an sie zurückzuweisen, damit sie nach erfolgten zusätzlichen Abklärungen (der Arbeitsfähigkeit als Schreiner und weiterer Voraussetzungen) über den Anspruch auf berufliche Massnahmen neu verfüge. 
S.________ beantragt die Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde. Das Bundesamt für Sozialversicherung verzichtet auf eine Vernehmlassung. 
 
Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung: 
1. 
Streitig und zu prüfen ist der Anspruch auf Umschulung. Im Beschwerdeverfahren um die Bewilligung oder Verweigerung von Versicherungsleistungen ist die Überprüfungsbefugnis des Eidgenössischen Versicherungsgerichts nicht auf die Verletzung von Bundesrecht einschliesslich Überschreitung oder Missbrauch des Ermessens beschränkt, sondern sie erstreckt sich auch auf die Angemessenheit der angefochtenen Verfügung; das Gericht ist dabei nicht an die vorinstanzliche Feststellung des rechtserheblichen Sachverhalts gebunden und kann über die Begehren der Parteien zu deren Gunsten oder Ungunsten hinausgehen (Art. 132 OG). 
2. 
Am 1. Januar 2003 ist das Bundesgesetz über den Allgemeinen Teil des Sozialversicherungsrechts (ATSG) vom 6. Oktober 2000 in Kraft getreten. Mit ihm sind zahlreiche Bestimmungen im Invalidenversicherungsbereich geändert worden. Weil in zeitlicher Hinsicht grundsätzlich diejenigen Rechtssätze massgebend sind, die bei der Erfüllung des zu Rechtsfolgen führenden Tatbestandes Geltung haben (BGE 127 V 467 Erw. 1), und weil ferner das Sozialversicherungsgericht bei der Beurteilung eines Falles grundsätzlich auf den bis zum Zeitpunkt des Erlasses der streitigen Verfügung (hier: 26. April 2002) eingetretenen Sachverhalt abstellt (BGE 121 V 366 Erw. 1b), sind im vorliegenden Fall die bis zum 31. Dezember 2002 geltenden Bestimmungen anwendbar. 
3. 
Die Vorinstanz hat die Bestimmungen und Grundsätze über den Anspruch auf Eingliederungsmassnahmen (Art. 8 Abs. 1 IVG), die Massnahmen beruflicher Art (Art. 15 bis 18 IVG), insbesondere den Begriff und den Anspruch auf Umschulung (Art. 17 IVG; BGE 124 V 110 Erw. 2a mit Hinweisen) sowie den Invaliditätsbegriff im Sinne von Art. 17 IVG und die Erheblichkeit der Invalidität in Form einer bleibenden oder längere Zeit dauernden Erwerbseinbusse von etwa 20 % (BGE 124 V 110 f. Erw. 2b mit Hinweisen; AHI 2000 S. 62 Erw. 1, 1997 S. 80 Erw. 1b) zutreffend dargelegt. Darauf wird verwiesen. Zu ergänzen ist, dass in der Invalidenversicherung der Grundsatz der Schadenminderungspflicht gilt. Danach hat die invalide Person, bevor sie Leistungen verlangt, alles ihr Zumutbare selbst vorzukehren, um die Folgen ihrer Invalidität bestmöglich zu mildern, weshalb kein Rentenanspruch besteht, wenn der Versicherte selbst ohne Eingliederungsmassnahmen zumutbarerweise in der Lage wäre, ein rentenausschliessendes Erwerbseinkommen zu erzielen (BGE 113 V 28 Erw. 4a mit Hinweisen). 
4. 
4.1 Die Vorinstanz hat richtig erwogen, dass die Eingliederungsmassnahmen dem Versicherten eine seiner früheren annähernd gleichwertige Erwerbsmöglichkeit vermitteln sollen. Zu ergänzen ist, dass es für die Beurteilung der Gleichwertigkeit zwar in erster Linie auf die miteinander zu vergleichenden Erwerbsmöglichkeiten im ursprünglichen und im neuen Beruf oder in einer dem Versicherten zumutbaren Tätigkeit ankommt. Dabei geht es jedoch nicht an, den Anspruch auf Umschulungsmassnahmen - gleichsam im Sinne einer Momentaufnahme - ausschliesslich vom Ergebnis eines auf den aktuellen Zeitpunkt begrenzten Einkommensvergleichs, ohne Rücksicht auf den qualitativen Ausbildungsstand einerseits und die damit zusammenhängende künftige Entwicklung der erwerblichen Möglichkeiten anderseits, abhängen zu lassen. Vielmehr ist im Rahmen der vorzunehmenden Prognose (BGE 124 V 111 Erw. 3b mit Hinweis) unter Berücksichtigung der gesamten Umstände nicht nur der Gesichtspunkt der Verdienstmöglichkeit, sondern der für die künftige Einkommensentwicklung ebenfalls bedeutsame qualitative Stellenwert der beiden zu vergleichenden Berufe mit zu berücksichtigen. Die annähernde Gleichwertigkeit der Erwerbsmöglichkeit in der alten und neuen Tätigkeit dürfte auf weite Sicht nur dann zu verwirklichen sein, wenn auch die beiden Ausbildungen einen einigermassen vergleichbaren Wert aufweisen (BGE 124 V 111 Erw. 3b mit Hinweisen). Nach der Rechtsprechung (Urteil U. vom 5. März 2002, I 761/02, Erw. 2.1) kann unqualifizierte Hilfsarbeit im Vergleich zur Tätigkeit im erlernten Beruf nicht als "annähernd gleichwertig" bezeichnet werden, auch wenn der invaliditätsbedingte Minderverdienst weniger als 20 % beträgt. Die grösseren konjunkturellen Risiken bei Hilfsarbeitern sowie die besseren erwerblichen Aussichten im angestammten Beruf dürfen namentlich bei jüngeren Versicherten mit einer beträchtlichen verbleibenden Aktivitätsdauer nicht ausser Acht gelassen werden. 
4.2 Als der 1962 geborene Beschwerdegegner am 9. Juni 2000 bei der Invalidenversicherung den Antrag auf Umschulung stellte, war er 38-jährig und es verblieb ihm eine Aktivitätsdauer von über 25 Jahren. Aus welchen (medizinischen) Gründen genau er 1990 seine Schreinertätigkeit aufgab, die er sowohl als Angestellter (am Ende in leitender Position) wie auch als Selbstständiger ausgeübt hatte, ist auf Grund der Akten nicht eindeutig feststellbar. Für die Vorinstanz ergab es sich aber - nicht zuletzt auch aus der mündlichen Parteibefragung vor dem Versicherungsgericht -, dass der Beschwerdegegner die seinerzeitige Tätigkeit aus gesundheitlichen Gründen (Asthma) aufgegeben hat. Aus den anamnestischen Angaben im Gutachten der Klinik X.________ geht hervor, dass der Versicherte damals unter einer körperlichen Symptomatik mit Brennen im Hals und brennenden Schmerzen im Thoraxbereich gelitten haben will, die durch die Arbeit als Schreiner ausgelöst und verstärkt worden sein sollen. Der verstorbene Dr. med. G.________, Hals-, Nasen- und Ohrenarzt FMH, soll diese Beschwerden als "nervös bedingt" interpretiert haben. Im April 1990 musste der Beschwerdegegner wegen eines Nervenzusammenbruchs sechs Tage im Spital Y.________ hospitalisiert werden. Anschliessend wurde er ein Jahr lang ambulant psychiatrisch behandelt und medikamentös therapiert. 
4.3 Der Beschwerdegegner deutete in seinen Eingaben und bei der Befragung durch das kantonale Gericht verschiedentlich an, dass für den Ausstieg aus dem erlernten Beruf und insbesondere auch für den zwischenzeitlichen Nicht-Wiedereinstieg erhebliche psychische Gründe vorlägen. Solche Gründe sind zwar bei der ambulanten Untersuchung in der Klinik X.________ nicht konstatiert worden, es ist aber aus dem Gutachten auch nicht ersichtlich, dass die Umstände des psychischen Leidens 1990/1991 bei der Erstellung des Gutachtens überhaupt näher abgeklärt worden sind. Der Beschwerdegegner, der sich in seinen Eingaben zu seinem Anliegen und den Ausführungen der Beschwerdeführerin geäussert hat, hat für die Aufgabe des Schreinerberufs zwar eine Schwächung der Atmungsorgane in den Vordergrund gestellt, die infolge der Schadstoffexposition im erlernten Beruf zu Asthma geführt habe. Er räumte in der Vernehmlassung vor dem Eidgenössischen Versicherungsgericht ein, dass die Asthmabeschwerden auch eine psychische Mitursache gehabt haben könnten. Im Gutachten der Klinik X.________ wurden bei ihm im November 2001 ein leichtgradiges Asthma bronchiale (ICD-10 J 45.1) und multiple funktionelle Beschwerden im Bereich der oberen Luftwege diagnostiziert. Auch wenn man die Störung als leichten Grades und mit geeigneter medikamentöser Therapie genügend kontrollierbar einschätzte, so machte man die Klärung der Arbeitsfähigkeit als Schreiner doch von einem mindestens vier Wochen dauernden Arbeitsplatzversuch abhängig. Der Beschwerdegegner wendet dagegen ein, er sei vor über zehn Jahren aus dem Schreinerberuf ausgestiegen, um sich den schädlichen Einflüssen von Lösungsmitteln und Feinstaub zu entziehen, was zu einer Verbesserung des Asthmaproblems geführt habe. Dies wolle er nun nicht durch die Rückkehr in den früheren Beruf gefährden. 
4.4 Bei einer Gesamtwürdigung der verfügbaren Angaben und Aussagen ist es nachvollziehbar, dass der Beschwerdegegner wie von der Vorinstanz festgestellt die Schreinertätigkeit aus gesundheitlichen Gründen aufgeben musste. Da das kantonale Gericht besonders auch auf Grund der mündlichen Befragung des Beschwerdegegners zu diesem Ergebnis gelangte, besteht vorliegend kein Anlass, von der Feststellung abzurücken, dass der Versicherte in seiner angestammten Tätigkeit als Schreiner nach wie vor gesundheitlich eingeschränkt, in einer andern (gesundheitlich angepassten) Tätigkeit aber vollständig arbeitsfähig ist. Die medizinische Situation ist zur Feststellung des grundsätzlichen Anspruchs auf berufliche Massnahmen genügend abgeklärt. Von weiteren Untersuchungen sind keine neuen Erkenntnisse zu erwarten, da für den streitigen Anspruch auf Umschulung vornehmlich die erwerbliche Einbusse ausschlaggebend ist, die der Versicherte ohne zusätzliche berufliche Ausbildung in einer ihm noch zumutbaren Erwerbstätigkeit dauernd oder über längere Zeit mutmasslich erleidet (vgl. Erw. 3 hievor und 6 hienach). 
5. 
Aus den eingelegten Arbeitszeugnissen und weiteren Belegen zu zwischenzeitlichen Tätigkeiten (Kursunterlagen) geht hervor, dass der Beschwerdegegner nach dem Nervenzusammenbruch und dem damit verbundenen Ausstieg aus dem erlernten Beruf seiner Schadenminderungspflicht (vgl. Erw. 3 hievor) nachgekommen ist. Er hat erst Leistungen von der Invalidenversicherung verlangt, nachdem er das ihm bis zur Aussteuerung aus der Arbeitslosenversicherung Zumutbare vorkehrte, um die Folgen seiner gesundheitlichen Probleme bestmöglich zu mildern. 
6. 
Die vom Beschwerdegegner angeführten, effektiv erzielten Jahreseinkommen seit dem Ausstieg aus dem Schreinerberuf deuten darauf hin, dass er Schwierigkeiten hat, ausserhalb des erlernten Berufes mit Hilfsarbeit ein anspruchsausschliessendes Einkommen zu erzielen. Die Beschwerdeführerin hat die Richtigkeit dieser Angaben nicht grundsätzlich bestritten. Sie hat indes praxisgemäss zu Recht auf die in der vom Bundesamt für Statistik herausgegebenen Schweizerischen Lohnstrukturerhebung (LSE) ermittelten standardisierten Bruttolöhne (Zentralwert) abgestellt (BGE 126 V 76 Erw. 3b/bb). Das kantonale Gericht hat ihren Einkommensvergleich mit richtiger Begründung korrigiert und eine Erwerbseinbusse von 20 % (statt 17 %) berechnet. Dies ist nicht zu beanstanden und der angefochtene Entscheid ist auch in diesem Punkt zu schützen. Da der Beschwerdegegner den für eine Umschulung erforderlichen Mindestinvaliditätsgrad erreicht (vgl. Erw. 3 und 4.1 hievor), wird die Verwaltung nach den erfolgten zusätzlichen Abklärungen über den Anspruch auf berufliche Massnahmen neu verfügen. 
 
Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht: 
1. 
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird abgewiesen. 
2. 
Es werden keine Gerichtskosten erhoben. 
3. 
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons Aargau, der Ausgleichskasse des Kantons Aargau und dem Bundesamt für Sozialversicherung zugestellt. 
 
Luzern, 21. Oktober 2003 
Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts 
Die Präsidentin der IV. Kammer: Der Gerichtsschreiber: