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Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
                 
 
 
2C_220/2018  
 
 
Urteil vom 21. Dezember 2018  
 
II. öffentlich-rechtliche Abteilung  
 
Besetzung 
Bundesrichter Seiler, Präsident, 
Bundesrichter Zünd, Stadelmann, 
Gerichtsschreiber Brunner. 
 
Verfahrensbeteiligte 
A.________, 
Beschwerdeführer, 
vertreten durch Fürsprecher Dr. Urs Oswald, 
 
gegen  
 
Amt für Migration und Integration 
des Kantons Aargau. 
 
Gegenstand 
Widerruf der Niederlassungsbewilligung und Wegweisung, 
 
Beschwerde gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts des Kantons Aargau, 2. Kammer, vom 30. Januar 2018 (WBE.2017.274). 
 
 
Sachverhalt:  
 
A.  
A.________ (geb. 1990) ist als türkischer Staatsangehöriger in der Schweiz geboren und aufgewachsen. Er verfügt über eine Niederlassungsbewilligung. 
In der Schweiz ist er strafrechtlich wie folgt in Erscheinung getreten: 
 
- Strafbefehl des Bezirksamts Zofingen vom 22. Januar 2010: Geldstrafe von 30 Tagessätzen zu je Fr. 30.-- wegen Raufhandels und einfacher Körperverletzung; 
- Strafbefehl der Staatsanwaltschaft Zürich-Limmat vom 2. August 2010: Geldstrafe von 10 Tagessätzen zu je Fr. 80.-- und Busse von Fr. 100.-- wegen Fahrens in fahrunfähigem Zustand; 
- Urteil des Obergerichts des Kantons Aargau vom 9. Juni 2016 (bestätigt vom Bundesgericht mit Urteil 6B_987/2016 vom 28. Oktober 2016) : Freiheitsstrafe von sechs Jahren wegen mehrfacher versuchter schwerer Körperverletzung, mehrfacher einfacher Körperverletzung, mehrfachen Angriffs, Raubs, versuchten Raubs, Sachbeschädigung, Drohung, Nötigung, Hausfriedensbruchs, Geldverfälschung in einem besonders leichten Fall, in Umlaufsetzen falschen Geldes und mehrfacher Übertretung des BetmG, begangen im Zeitraum von Juni 2010 bis Februar 2012; 
- Strafbefehl der Staatsanwaltschaft Zofingen-Kulm vom 8. Dezember 2016: Freiheitsstrafe von 180 Tagen wegen einfacher Körperverletzung, begangen am 26. April 2014. 
Davon abgesehen hat A.________ fünf Bussen wegen Widerhandlungen gegen das SVG sowie das BetmG (SR 812.121) erwirkt. 
 
B.  
Am 30. März 2015 widerrief das Amt für Migration und Integration des Kantons Aargau (MIKA) die Niederlassungsbewilligung von A.________ und wies ihn aus der Schweiz weg. Die dagegen erhobene Einsprache wies der Rechtsdienst des Amts für Migration am 18. Mai 2017 ab. Das Verwaltungsgericht des Kantons Aargau bestätigte diesen Entscheid mit Urteil vom 30. Januar 2018. 
 
C.  
Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten vom 5. März 2018 beantragt A.________ dem Bundesgericht die Aufhebung des angefochtenen Urteils; von einem Widerruf der Niederlassungsbewilligung und einer Wegweisung sei abzusehen. Eventualiter sei die Sache zur Neubeurteilung an die Vorinstanz zurückzuweisen. 
Das Verwaltungsgericht und der Rechtsdienst des Amts für Migration schliessen auf Abweisung der Beschwerde. Das Staatssekretariat für Migration hat auf Vernehmlassung verzichtet. 
 
 
Erwägungen:  
 
1.  
 
1.1. Gegen Entscheide über den Widerruf einer Niederlassungsbewilligung ist die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten zulässig, weil grundsätzlich ein Anspruch auf das Fortbestehen dieser Bewilligung gegeben ist (BGE 135 II 1 E. 1.2.1 S. 4). Ob der Anspruch im konkreten Fall zu bejahen ist, bildet Gegenstand der materiellen Beurteilung (BGE 137 I 284 E. 1.3 S. 287). Soweit vorliegend beantragt wird, vom Widerruf der Niederlassungsbewilligung abzusehen, ist die Beschwerde daher zulässig (Art. 82 lit. a, Art. 86 Abs. 1 lit. d, Art. 90 BGG).  
 
1.2. Soweit der Beschwerdeführer hingegen den Antrag stellt, von der Wegweisung abzusehen, spielt der Ausschlussgrund von Art. 83 lit. c Ziff. 4 BGG. Der Antrag kann auch nicht als subsidiäre Verfassungsbeschwerde entgegengenommen werden, zumal der Beschwerdeführer sich nicht auf besondere verfassungsmässige Rechte, sondern nur auf Art. 83 Abs. 3 AuG (SR 142.20) beruft (BGE 137 II 305 E. 3.3 S. 310; Urteil 2C_636/2017 vom 6. Juli 2018 E. 1.3 mit Hinweisen). Soweit damit indirekt eine Verletzung von Art. 3 EMRK geltend gemacht werden soll, genügt die Beschwerdeschrift den Substanziierungsanforderungen (Art. 116 i.V.m. Art. 106 Abs. 2 BGG) nicht: Zwar wird behauptet, dem Beschwerdeführer drohe in der Türkei eine Inhaftierung. Es gibt jedoch keinerlei Indizien, welche diese Behauptung stützen würden. Die abstrakten Ausführungen des Beschwerdeführers zur Situation von Kurden in der Türkei und zum Umgang der türkischen Behörden mit Militärdienstverweigerern genügen jedenfalls nicht, um eine drohende Verletzung von Art. 3 EMRK darzutun. Auf den Antrag ist deshalb nicht einzutreten.  
 
1.3. Die übrigen Sachurteilsvoraussetzungen (Form, Frist und Legitimation gemäss Art. 42, Art. 100 Abs. 1 und Art. 89 Abs. 1 BGG) sind erfüllt. Auf die Beschwerde ist einzutreten, soweit darin beantragt wird, vom Widerruf der Niederlassungsbewilligung sei abzusehen.  
 
2.  
Die Niederlassungsbewilligung kann widerrufen werden, wenn der Ausländer zu einer längerfristigen Freiheitsstrafe, d.h. zu einer solchen von mehr als einem Jahr (BGE 139 I 145 E. 2.1 S. 147), verurteilt worden ist (Art. 63 Abs. 1 lit. a und Art. 62 lit. b AuG). Der Widerrufsgrund kommt selbst dann zum Tragen, wenn sich ein Ausländer - wie der Beschwerdeführer - seit mehr als 15 Jahren ununterbrochen und ordnungsgemäss in der Schweiz aufhält (Art. 63 Abs. 2 AuG). 
Vorliegend wird in der Beschwerde nicht bestritten, dass der Beschwerdeführer aufgrund des rechtskräftigen Strafurteils des Obergerichts des Kantons Aargau vom 9. Juni 2016 (Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe von sechs Jahren) den Widerrufsgrund nach Art. 63 Abs. 1 lit. a AuG i.V.m. Art. 62 lit. b AuG (BGE 139 I 31 E. 2.1 S. 36) gesetzt hat. Auch wenn sich das Urteil auf Straftaten bezieht, die in den Jahren 2010 bis 2012 begangen worden sind, ist die erforderliche Aktualität der strafrechtlichen Verurteilung (vgl. Urteil 2C_884/2016 vom 25. August 2017 E. 2.2, mit Hinweisen) klarerweise gegeben. 
Der Beschwerdeführer rügt denn auch nur die Erwägung der Vorinstanz, dass der Widerruf verhältnismässig sei. 
 
3.  
 
3.1. Der Widerruf der Niederlassungsbewilligung tangiert den Anspruch des Beschwerdeführers auf Achtung des Privatlebens (Art. 8 Ziff. 1 EMRK), zumal es sich bei ihm um einen Ausländer der zweiten Generation handelt, der in der Schweiz geboren und aufgewachsen ist (vgl. BGE 139 I 16 E. 2.2.2 S. 20 f.; Urteil 2D_45/2013 vom 3. Februar 2014 E. 1.2).  
Art. 8 Ziff. 2 EMRK setzt für die Rechtfertigung eines Eingriffs in Art. 8 Ziff. 1 EMRK voraus, dass der Eingriff gesetzlich vorgesehen und in einer demokratischen Gesellschaft notwendig ist für die nationale oder öffentliche Sicherheit, für das wirtschaftliche Wohl des Landes, zur Aufrechterhaltung der Ordnung, zur Verhütung von Straftaten, zum Schutz der Gesundheit oder der Moral oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer. Vorgeschrieben ist mit anderen Worten neben dem vorliegend unbestrittenermassen erfüllten Erfordernis der gesetzlichen Grundlage eine Verhältnismässigkeitsprüfung. Nichts anderes ergibt sich inhaltlich aus den Vorschriften des nationalen Rechts (Art. 5 Abs. 2 BV, Art. 13 Abs. 1 BV in Verbindung mit Art. 36 Abs. 3 BV sowie Art. 96 AuG; vgl. BGE 139 I 16 E. 2.2.1 S. 19, E. 2.2.2 S. 20; 139 I 31 E. 2.3.1 S. 33, E. 2.3.3 S. 34 f.). 
 
3.2. Im Rahmen der Verhältnismässigkeitsprüfung zu berücksichtigen sind nach der Praxis des Bundesgerichts namentlich die Schwere des Verschuldens, der Grad der Integration sowie die mit der Fernhaltemassnahme verbundenen Nachteile (BGE 139 I 31 E. 2.3.1 S. 33; 139 I 16 E. 2.2.1 S. 19; 135 II 377 E. 4.3 S. 381). Je länger eine ausländische Person in der Schweiz anwesend war, desto höher sind die Anforderungen zur Annahme der Rechtmässigkeit der fremdenpolizeilichen Massnahme. Die Niederlassungsbewilligung einer ausländischen Person, die sich schon seit langer Zeit in der Schweiz aufhält, soll nur mit besonderer Zurückhaltung widerrufen werden; allerdings ist ein Widerruf bei wiederholter bzw. schwerer Straffälligkeit selbst dann nicht ausgeschlossen, wenn sie hier geboren ist und ihr ganzes bisheriges Leben im Land verbracht hat (BGE 139 I 31 E. 2.3.1 S. 33 f.; 135 II 377 E. 4.3 S. 381; Urteile 2C_819/2013 vom 24. Januar 2014 E. 3.3; 2C_740/2013 vom 10. Januar 2014 E. 3.2).  
Ausgangspunkt und Massstab für die migrationsrechtliche Interessenabwägung ist die Schwere des Verschuldens, die sich in der Dauer der verfahrensauslösenden Freiheitsstrafe niederschlägt (BGE 129 II 215 E. 3.1 S. 216; 134 II 10 E. 4.2 S. 23; Urteil 2C_1076/2013 vom 2. Juni 2014 E. 4.1). Bemessen wird das migrationsrechtliche Verschulden allerdings nicht nur anhand des für die Anlasstat verhängten Strafmasses; ausschlaggebend ist vielmehr eine Gesamtbetrachtung des deliktischen Verhaltens bis zum Zeitpunkt des angefochtenen Urteils (vgl. Urteil 2C_1046/2014 vom 5. November 2015 E. 4.1). 
 
3.3. Die Vorinstanz erwog, es bestehe ein äusserst grosses öffentliches Interesse an der Wegweisung des Beschwerdeführers. Dieses Interesse ergebe sich aus der Art der verübten Delikte, der Schwere des Verschuldens und der wiederholten Straffälligkeit des Beschwerdeführers, die auf eine schlechte Legalprognose schliessen lasse. Die entgegenstehenden privaten Interessen des Beschwerdeführers würden gegenüber dem gewichtigen sicherheitspolizeilichen Fernhalteinteresse in den Hintergrund treten. Zwar handle es sich bei ihm um einen in der Schweiz geborenen Secondo, dem die Umsiedlung in die Türkei einige Unannehmlichkeiten bereiten werde. Es bestünden jedoch auch in der Türkei familiäre Anknüpfungspunkte, und er sei der türkischen Sprache mächtig. Abgesehen von den Beziehungen zu seinen hier lebenden Verwandten seien keine überdurchschnittlich engen sozialen Beziehungen zur Schweiz ersichtlich.  
 
3.4. Der Beschwerdeführer rügt, die Vorinstanz sei mit Blick auf die verfahrensauslösenden Delikte zu Unrecht von einem "schweren Verschulden" ausgegangen; dies widerspreche der Einschätzung des Obergerichts des Kantons Aargau, das in seinem Strafverdikt vom 9. Juni 2016 ein "mittelschweres Verschulden" festgestellt habe.  
Mit dieser Vorhaltung verkennt er, dass die Vorinstanz nicht das strafrechtliche, sondern das migrationsrechtliche Verschulden zu beurteilen hatte. Im strafrechtlichen Kontext dient der Verschuldensbegriff dazu, die Strafe zu bemessen (Art. 47 Abs. 1 StGB). Das migrationsrechtliche Verfahren verfolgt demgegenüber keine Strafzwecke (vgl. Urteile 2C_532/2017 vom 26. März 2018 E. 5.1 und 2C_116/2017 vom 3. Oktober 2017 E. 4.2). Vielmehr knüpft es an die durch das Strafgericht ausgesprochene Strafe an, um mit Blick auf die Gewichtung der öffentlichen Fernhalteinteressen das migrationsrechtliche Verschulden des betroffenen Ausländers festzustellen (BGE 139 I 145 E. 2.1 S. 147). 
Im Lichte der bundesgerichtlichen Rechtsprechung (vgl. beispielsweise Urteile 2C_794/2018 vom 3. Dezember 2018 E. 2.2; 2C_262/2010 vom 9. November 2010 E. 3.3.1) ist dabei nicht zu beanstanden, dass die Vorinstanz das migrationsrechtliche Verschulden bei einer Freiheitsstrafe von sechs Jahren als schwer taxierte und - auch unter Berücksichtigung der wiederholten Straffälligkeit des Beschwerdeführers und der Art der begangenen Delikte - von einem "äusserst grossen" öffentlichen Fernhalteinteresse ausging. Die Rüge ist unbegründet. 
 
3.5. Weiter ist der Beschwerdeführer der Auffassung, in seinem Fall sei zu berücksichtigen, dass die Strafverfolgungsbehörden bei der Durchführung des Strafverfahrens gegen ihn das Beschleunigungsgebot und damit Art. 6 EMRK verletzt hätten. Die verfahrensauslösenden Delikte gingen teilweise bis ins Jahr 2010 zurück und bis zur rechtskräftigen Verurteilung seien dann mehr als sechs Jahre vergangen. Dies habe in seinem Fall verheerende Auswirkungen gehabt. Es verbiete sich vor diesem Hintergrund, ihm Gleichgültigkeit und Respektlosigkeit gegenüber der schweizerischen Rechtsordnung vorzuwerfen.  
In diesem Zusammenhang ist zunächst festzustellen, dass für das migrationsrechtliche Verfahren grundsätzlich nicht von Belang ist, ob die Strafbehörden übermässig Zeit beansprucht haben, um ihr Verfahren zu Ende zu führen. Entsprechende Rügen konnte der Beschwerdeführer im Rechtsmittelverfahren gegen das erstinstanzliche Strafurteil vortragen (vgl. Urteil 2C_426/2017 vom 27. Juli 2017 E. 3.3). Sie wären im migrationsrechtlichen Verfahren nur relevant, wenn nicht mehr von der erforderlichen Aktualität der strafrechtlichen Verurteilung gesprochen werden könnte; dies ist hier offensichtlich nicht der Fall (vgl. oben, E. 2). 
Hinzu kommt, dass das Obergericht des Kantons Aargau die überlange Verfahrensdauer bei der Strafzumessung ausdrücklich berücksichtigt und eine (reduzierte) Freiheitsstrafe von sechs Jahren angeordnet hat. Weil im migrationsrechtlichen Verfahren für die Gewichtung der öffentlichen Fernhalteinteressen an diese Strafzumessung des Obergerichts angeknüpft wurde, ist nicht ersichtlich, was der Beschwerdeführer aus der überlangen Verfahrensdauer zusätzlich für sich ableiten möchte. Wie die Vorinstanz vielmehr zu Recht festgehalten hat, spricht gegen den Beschwerdeführer, dass er während eines hängigen Strafverfahrens erneut delinquiert hat. 
 
3.6. Im Übrigen lässt der Beschwerdeführer die vorinstanzliche Interessenabwägung zu Recht unbeanstandet. Mit der Vorinstanz ist daher von einem grossen öffentlichen Interesse an der Wegweisung des Beschwerdeführers auszugehen, das seine privaten Interessen an einem Verbleib in der Schweiz überwiegt.  
 
4.  
Aufgrund dieser Erwägungen erweist sich die Beschwerde als unbegründet und ist abzuweisen, soweit darauf einzutreten ist. Bei diesem Ausgang des Verfahrens hat der Beschwerdeführer dessen Kosten zu tragen (Art. 66 Abs. 1 BGG). Parteientschädigungen sind nicht geschuldet (Art. 68 Abs. 4 BGG). 
 
 
 Demnach erkennt das Bundesgericht:  
 
1.  
Die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten wird abgewiesen, soweit darauf einzutreten ist. 
 
2.  
Die Gerichtskosten von Fr. 2'000.-- werden dem Beschwerdeführer auferlegt. 
 
3.  
Dieses Urteil wird den Verfahrensbeteiligten, dem Verwaltungsgericht des Kantons Aargau, 2. Kammer, und dem Staatssekretariat für Migration schriftlich mitgeteilt. 
 
 
Lausanne, 21. Dezember 2018 
 
Im Namen der II. öffentlich-rechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
 
Der Präsident: Seiler 
 
Der Gerichtsschreiber: Brunner