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Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
{T 0/2} 
8C_274/2011 
 
Urteil vom 22. Juni 2011 
I. sozialrechtliche Abteilung 
 
Besetzung 
Bundesrichter Ursprung, Präsident, 
Bundesrichterin Leuzinger, Bundesrichter Maillard, 
Gerichtsschreiberin Weber Peter. 
 
Verfahrensbeteiligte 
C.________, 
handelnd durch ihre Eltern und diese vertreten durch den Rechtsdienst Integration Handicap, 
Beschwerdeführerin, 
 
gegen 
 
IV-Stelle des Kantons Zürich, Röntgenstrasse 17, 8005 Zürich, 
Beschwerdegegnerin. 
 
Gegenstand 
Invalidenversicherung (Hilflosenentschädigung), 
 
Beschwerde gegen den Entscheid des Sozialversicherungsgerichts des Kantons Zürich vom 22. Februar 2011. 
 
Sachverhalt: 
 
A. 
Die 1996 geborene C.________, portugiesische Staatsangehörige, seit 2002 wohnhaft in der Schweiz, leidet seit Geburt an einer Mukoviszidose respektive zystischen Fibrose (Geburtsgbrechen Nr. 459). Am 14. Mai 2004 wurde das Mädchen wegen kongenitaler Anomalie beider Beine bei der Invalidenversicherung zum Leistungsbezug angemeldet. Mit Verfügung vom 4. Oktober 2004 übernahm die IV-Stelle des Kantons Zürich die Kosten für die Behandlung des Geburtsgebrechens Nr. 177 und die ärztlich verordneten Behandlungsgeräte vom 23. März 2004 bis 31. März 2009. Am 15. November 2004 verneinte sie einen Anspruch auf Kostenübernahme für medizinische Massnahmen im Zusammenhang mit dem Geburtsgebrechen Nr. 459 mangels versicherungsmässiger Voraussetzungen, was in der Folge mehrmals bestätigt wurde. Mit Verfügung vom 14. Juli 2009 wurden der Anspruch auf medizinische Massnahmen im Zusammenhang mit der angeborenen Mukoviszidose wiedererwägungsweise gutgeheissen und entsprechende Leistungen ab 10. März 2009 übernommen. 
 
Am 19. März 2008 beantragten die Eltern der Versicherten Zusprechung einer Hilflosenentschädigung rückwirkend ab 2004 resp. soweit rechtlich möglich. Nach durchgeführtem Vorbescheidverfahren sprach die IV-Stelle dem Mädchen mit Verfügung vom 18. Juni 2008 ab 1. März 2007 bis zur Vollendung des 15. Altersjahres eine Hilflosenentschädigung für eine leichte Hilflosigkeit zu. 
 
B. 
Die dagegen erhobene Beschwerde (Eingabe vom 18. Juli 2008), die von der IV-Stelle am 18. August 2009 überwiesen worden ist, wies das Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich mit Entscheid vom 22. Februar 2011 ab. 
 
C. 
Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten lässt die Versicherte beantragen, in Aufhebung des kantonalen Gerichtsentscheides sei ihr eine Hilflosenentschädigung leichten Grades rückwirkend ab 1. Mai 2003 zuzüglich Verzugszins von 5 % zuzusprechen. 
 
Die IV-Stelle beantragt teilweise Gutheissung der Beschwerde insofern, als die Hilflosenentschädigung nicht erst mit Wirkung ab März 2007, sondern bereits ab Januar 2007 hätte zugesprochen werden müssen. Das Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV) verzichtet auf eine Vernehmlassung. 
 
Erwägungen: 
 
1. 
Was das Begehren der Beschwerdeführerin um Verzugszins betrifft, gilt festzuhalten, dass dieses erstmals im bundesgerichtlichen Verfahren gestellt wurde und damit nicht zulässig ist (Art. 99 Abs. 2 BGG). 
 
2. 
2.1 Die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann wegen Rechtsverletzung gemäss Art. 95 f. BGG erhoben werden. Das Bundesgericht wendet das Recht von Amtes wegen an (Art. 106 Abs. 1 BGG). Immerhin prüft es, unter Berücksichtigung der allgemeinen Begründungspflicht der Beschwerde (Art. 42 Abs. 1 und 2 BGG), grundsätzlich nur die geltend gemachten Rügen, sofern die rechtlichen Mängel nicht geradezu offensichtlich sind (BGE 133 II 249 E. 1.4.1 S. 254; Urteil 8C_784/2008 vom 11. September 2009 E. 1.1 mit Hinweisen, nicht publ. in: BGE 135 V 412, aber in: SVR 2010 UV Nr. 2 S. 7). Es legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG). Es kann die Sachverhaltsfeststellung von Amtes wegen berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht (Art. 105 Abs. 2 BGG) und wenn die Behebung des Mangels für den Ausgang des Verfahrens entscheidend sein kann (Art. 97 Abs. 1 BGG). 
 
2.2 Gemäss aArt. 48 Abs. 2 IVG, in Kraft gestanden bis 31. Dezember 2007, den das kantonale Gericht in Nachachtung der allgemeinen intertemporalrechtlichen Grundsätze (BGE 132 V 215 E. 3.1.1 S. 220, 130 V 445 E. 1 S. 446 f. mit Hinweisen) zu Recht als anwendbar bestätigte, werden die Leistungen (in Abweichung von Art. 24 Abs. 1 ATSG) lediglich für die zwölf der Anmeldung vorangehenden Monate ausgerichtet, wenn sich eine versicherte Person mehr als zwölf Monate nach Entstehen des Anspruchs anmeldet. Weitergehende Nachzahlungen werden erbracht, wenn die versicherte Person den anspruchsbegründenden Sachverhalt nicht kennen konnte und die Anmeldung innert zwölf Monaten nach Kenntnisnahme vornimmt. 
 
2.3 Zu ergänzen ist, dass praxisgemäss die versicherte Person mit ihrer Anmeldung nicht nur jene Ansprüche wahrt, die sie ausdrücklich auf dem Anmeldeformular aufzählt. Vielmehr umfasst eine Anmeldung alle Ansprüche, die nach Treu und Glauben mit dem angemeldeten Risikoeintritt in Zusammenhang stehen. Die im Anschluss an ein Leistungsgesuch durchzuführenden Abklärungen der Verwaltung erstrecken sich jedoch nur auf die vernünftigerweise mit dem vorgetragenen Sachverhalt und allfälligen bisherigen oder neuen Akten in Zusammenhang stehenden Leistungen. Wird später geltend gemacht, es bestehe noch Anspruch auf eine andere Versicherungsleistung, so ist nach den gesamten Umständen des Einzelfalles im Lichte von Treu und Glauben zu prüfen, ob jene frühere ungenaue Anmeldung auch den zweiten, allenfalls später substanziierten Anspruch umfasst. Dabei ist ein solcher Zusammenhang relativ grosszügig anzunehmen (BGE 132 V 286 E. 4.3 S. 296, 121 V 195 E. 2 S. 196 f.; Urteil 8C_233/2010 vom 7. Januar 2011 E. 5.1 mit diversen Hinweisen). 
 
Übersieht ein Versicherungsträger eine hinreichend substantiierte Anmeldung, werden nur die Leistungen der letzten fünf Jahre vor der Neuanmeldung nachbezahlt, weiter zurückliegende sind untergegangen. Diese Rechtsprechung gilt im Rahmen von Art. 24 Abs. 1 ATSG und aArt. 48 Abs. 2 IVG, die insofern eine absolute Verwirkungfrist beinhalten (BGE 129 V 433 E. 7 S. 438, 121 V 195 E. 5d S. 202; Urteil 8C_233/2010 vom 7. Januar 2011 E. 5.1 mit Hinweis auf 9C_92/2008 vom 24. November 2008 E. 3 und M 12/06 vom 23. November 2007 E. 5.4). 
 
3. 
Letztinstanzlich streitig und zu prüfen ist der Beginn des Anspruchs auf Hilflosenentschädigung, bzw. die Frage, ob dieser bereits vor dem 1. März 2007 gegeben war. Unbestritten dagegen ist der Anspruch als solcher. Die Hilflosigkeit der Versicherten bestand gemäss verbindlicher Feststellung des kantonalen Gerichts seit 2002. 
 
3.1 Die Vorinstanz kam im angefochtenen Entscheid zum Schluss, die IV-Stelle habe der Versicherten gestützt auf die am 19. März 2008 erfolgte Anmeldung betreffend Hilflosenentschädigung die Leistung zu Recht ab 1. März 2007 zugesprochen. 
 
3.2 Demgegenüber macht die Beschwerdeführerin geltend, die Hilflosenentschädigung sei rückwirkend ab 1. Mai 2003 auszurichten, da die einjährige Rückwirkung bereits ab erfolgter erstmaliger Anmeldung zum Leistungsbezug vom 14. Mai 2004 zu laufen begonnen habe. Die Beschwerdegegnerin hätte den Anspruch auf Hilflosenentschädigung von sich aus prüfen müssen. 
 
4. 
4.1 Zu klären gilt, ob die Beschwerdeführerin bereits mit der ersten Anmeldung ihre Ansprüche wahren konnte. Fest steht, dass sich die Versicherte am 14. Mai 2004 zum ersten Mal bei der Invalidenversicherung zum Leistungsbezug (medizinische Massnahmen und Hilfsmittel) anmeldete. Diese Anmeldung erfolgte im Zusammenhang mit einer kongenitalen Anomalie beider Beine, die zystische Fibrose war nicht erwähnt. Wie die Beschwerdeführerin jedoch zu Recht anführt, wurde bereits in dem von der IV-Stelle eingeholten Bericht des Dr. med. D.________, Leitender Arzt Orthopädie, Spital X.________, vom 30. Juni 2004, unter Diagnosen nebst der Genua valga beidseits auch eine zystische Fibrose und eine nephropatische Zystinose erwähnt und ein separater Arztbericht durch die Pädiatrie in Aussicht gestellt. Aus dem in der Folge eingeholten Bericht der Oberärztin Dr. med. S.________, Spital Y.________, vom 18. Oktober 2004 ergibt sich mit der Beschwerdeführerin, dass aufgrund der vorhandenen zystischen Fibrose ein behinderungsbedingter Mehraufwand an Hilfeleistungen oder persönlichen Überwachungen im Vergleich zu einem Nichtbehinderten gleichen Alters besteht. Unter Behandlungsplan wurde u.a. eine 3x tägliche Atem-Physiotherapie sowie eine Inhalationstherapie lebenslänglich und regelmässige Medikamenteneinnahme vorgesehen. In ihrem Bericht zuhanden der IV-Stelle vom 17. Dezember 2004 erwähnte die Ärztin als erforderliche medizinische Therapien zur Behandlung der zystischen Fibrose (Geburtsgebrechen 459) sodann insbesondere 3x täglich inhalieren, Atemphysiotherapie zur Sekretolyse und Sekretmobilisation, regelmässige Nasenspühlungen sowie medikamentöse Pankreasenzymersatz-Therapien. Nebst der professionellen Physiotherapie mit Instruktion und Überwachung erachtete sie auch regelmässige ärztliche Kontrollen in einem CF-Zentrum als erforderlich. Angesichts dieses Pflegeaufwandes, welcher - wie zu Recht geltend gemacht wird - insbesondere bei einem kleinen Kind offenkundig die Unterstützung durch Dritte erfordert, wäre die IV-Stelle gehalten gewesen, von sich aus allenfalls weitere Abklärungen durchzuführen und den Anspruch auf Hilflosenentschädigung zu prüfen. Mit der Beschwerdeführerin gilt dies umso mehr, als bei Versicherten mit Mukoviszidose (syn. für zystische Fibrose) die Voraussetzungen einer Hilflosenentschädigung leichten Grades im Sonderfall im Sinne von Art. 37 Abs. 3 lit. c IVV als erfüllt gelten können (Kreisschreiben über Invalidität und Hilflosigkeit des Bundesamtes für Sozialversicherungen, gültig ab 1. Januar 2011, Rz. 8059). 
 
4.2 Zusammenfassend steht mit Blick auf die geltende Rechtsprechung (E. 2.3) fest, dass im Rahmen der am 14. Mai 2004 erfolgten ersten Anmeldung aufgrund der medizinischen Aktenlage im Lichte von Treu und Glauben genügend Anhaltspunkte bestanden haben, welche die IV-Stelle hätten veranlassen müssen, auch die Hilfsbedürftigkeit der Versicherten von sich aus zu prüfen. Mit dieser Anmeldung hat die Beschwerdeführerin ihren Anspruch auf Hilflosenentschädigung gewahrt. Mithin ist davon auszugehen, dass gemäss aArt. 48 Abs. 2 IVG für ein Jahr vor der Anmeldung vom 1. Mai 2004 und damit ab 1. Mai 2003 Anspruch auf Zahlung der unbestrittenen Hilflosenentschädigung bestand. Die fünfjährige Verwirkungsfrist für die Nachzahlung gemäss Art. 24 Abs. 1 ATSG bzw. aArt. 48 Abs. 2 IVG lief am 1. Mai 2008 ab. Mit ihrer Neuanmeldung vom 7. März 2008 hat die Beschwerdeführerin diese gewahrt, womit ihr ab 1. Mai 2003 eine Hilflosenentschädigung leichten Grades zusteht. 
 
5. 
Dem Verfahrensausgang entsprechend hat die Beschwerdegegnerin die Gerichtskosten zu tragen (Art. 66 Abs. 1 BGG) und der Beschwerdeführerin eine Parteientschädigung zu bezahlen (Art. 68 Abs. 1 und 2 BGG). 
 
Demnach erkennt das Bundesgericht: 
 
1. 
Die Beschwerde wird gutgeheissen, soweit darauf einzutreten ist. Der Entscheid des Sozialversicherungsgerichts des Kantons Zürich vom 22. Februar 2011 und die Verfügung der IV-Stelle des Kantons Zürich vom 18. Juni 2008 werden insoweit abgeändert, als die Hilflosenentschädigung ab 1. Mai 2003 auszurichten ist. 
 
2. 
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden der Beschwerdegegnerin auferlegt. 
 
3. 
Die Beschwerdegegnerin hat die Beschwerdeführerin für das bundesgerichtliche Verfahren mit Fr. 2800.- zu entschädigen. 
 
4. 
Die Sache wird zur Neuverlegung der Kosten und der Parteientschädigung des vorangegangenen Verfahrens an das Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich zurückgewiesen. 
 
5. 
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt. 
 
Luzern, 22. Juni 2011 
 
Im Namen der I. sozialrechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
Der Präsident: Die Gerichtsschreiberin: 
 
Ursprung Weber Peter