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Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
                 
 
 
6B_1014/2019  
 
 
Urteil vom 22. Juni 2020  
 
Strafrechtliche Abteilung  
 
Besetzung 
Bundesrichter Denys, Präsident, 
Bundesrichterin Jacquemoud-Rossari, 
Bundesrichter Muschietti, 
Bundesrichterinnen van de Graaf, Koch, 
Gerichtsschreiber Held. 
 
Verfahrensbeteiligte 
A.________, 
vertreten durch Rechtsanwalt Kenad Melunovic, 
Beschwerdeführer, 
 
gegen  
 
Oberstaatsanwaltschaft des Kantons Aargau, 
Frey-Herosé-Strasse 20, Wielandhaus, 5001 Aarau, 
Beschwerdegegnerin. 
 
Gegenstand 
Rückweisungsbeschluss, 
 
Beschwerde gegen den Beschluss des Obergerichts des Kantons Aargau, Strafgericht, 3. Kammer, vom 12. Juli 2019 (SST.2019.158). 
 
 
Sachverhalt:  
 
A.   
Mit Strafbefehl vom 28. Januar 2019 sprach die Staatsanwaltschaft Lenzburg-Aarau gegen A.________ eine bedingte Geldstrafe von 20 Tagessätzen zu Fr. 260.- sowie eine Busse von Fr. 1'200.- wegen einfacher und grober Verletzung der Verkehrsregeln aus. Auf Einsprache von A.________ gegen den Strafbefehl erhob die Staatsanwaltschaft ohne weitere Beweisabnahmen Anklage beim Bezirksgericht Aarau. 
 
Anlässlich der erstinstanzlichen Hauptverhandlung vom 28. Mai 2019, an der die Staatsanwaltschaft nicht teilnahm, wurde A.________ zur Person und zur Sache einvernommen. Mit Urteil vom gleichen Tag sprach das Bezirksgericht A.________ vollumfänglich frei. 
 
B.   
Die Staatsanwaltschaft erhob gegen den erstinstanzlichen Freispruch Berufung. Nach Eingang der Berufungserklärung vom 12. Juni 2019 hob das Obergericht des Kantons Aargau mit Beschluss vom gleichen Tag das Urteil des Bezirksgerichts ohne Schriftenwechsel auf und wies die Sache zur Fällung eines neuen Urteils im Sinne der obergerichtlichen Erwägungen an dieses zurück. 
 
C.   
A.________ führt Beschwerde in Strafsachen und beantragt, der Beschluss des Obergerichts vom 12. Juni 2019 sei aufzuheben und die Sache zur Fortführung des Berufungsverfahrens an das Obergericht zurückzuweisen. 
 
Der Präsident der Strafrechtlichen Abteilung hat mit Verfügung vom 26. September 2019 das Gesuch von A.________ um aufschiebende Wirkung der Beschwerde abgewiesen. 
 
Das Obergericht reicht eine Stellungnahme zur Beschwerde ein, stellt jedoch keine Anträge. Die Oberstaatsanwaltschaft verzichtet unter Verweis auf den angefochtenen Entscheid auf Gegenbemerkungen. 
 
 
Erwägungen:  
 
1.  
 
1.1. Der Beschwerdeführer rügt eine Verletzung seines Anspruchs auf rechtliches Gehör und wirft daneben die Frage auf, ob allfällig erforderliche zusätzliche Beweisabnahmen von der Vorinstanz gemäss Art. 389 Abs. 3 StPO zu erheben sind oder eine Rückweisung an das erstinstanzliche Gericht gemäss Art. 409 Abs. 1 StPO erfordern. Ungesehen der Voraussetzungen von Art. 92 und Art. 93 BGG, die vorliegend entgegen der Ansicht der Vorinstanz erfüllt seien, sei auf die Beschwerde einzutreten, da die Rüge der Verletzung des rechtlichen Gehörs formeller Natur sei, die von der Prüfung der Sache getrennt werden könne.  
 
1.2.  
 
1.2.1. Das Bundesgericht prüft von Amtes wegen und mit freier Kognition seine Zuständigkeit und ob ein Rechtsmittel zulässig ist (vgl. BGE 143 IV 357 E. 1; 140 IV 57 E. 2 mit Hinweisen). Es wendet das Recht von Amtes wegen an (Art. 106 Abs. 1 BGG).  
 
1.2.2. Die Beschwerde in Strafsachen ist zulässig gegen Entscheide, die das Verfahren abschliessen (Art. 90 BGG), sowie gegen selbstständig eröffnete Vor- und Zwischenentscheide über die Zuständigkeit und über Ausstandsbegehren (Art. 92 Abs. 1 BGG). Gegen andere selbstständig eröffnete Vor- und Zwischenentscheide ist sie hingegen gemäss Art. 93 Abs. 1 BGG nur zulässig, wenn sie einen nicht wieder gutzumachenden Nachteil bewirken können (lit. a) oder wenn die Gutheissung der Beschwerde sofort einen Endentscheid herbeiführen und damit einen bedeutenden Aufwand an Zeit oder Kosten für ein weitläufiges Beweisverfahren ersparen würde (lit. b). Ist die Beschwerde nicht zulässig oder wurde von ihr kein Gebrauch gemacht, bleibt ein Zwischenentscheid im Rahmen einer Beschwerde gegen den Endentscheid anfechtbar, sofern er sich auf dessen Inhalt auswirkt (Art. 93 Abs. 3 BGG).  
 
Die selbständige Anfechtbarkeit von Vor- und Zwischenentscheiden bildet aus prozessökonomischen Gründen eine Ausnahme vom Grundsatz, dass sich das Bundesgericht als oberste rechtsprechende Behörde des Bundes mit jeder Angelegenheit nur einmal befassen soll (BGE 144 III 475 E. 1.2 S. 479; 142 III 798 E. 2.2 S. 801; 139 IV 113 E. 1). Ein nicht wieder gutzumachender Nachteil im Sinne von Art. 93 Abs. 1 lit. a BGG liegt vor, wenn er auch durch einen für den Beschwerdeführer günstigen späteren Entscheid nicht mehr oder nicht vollständig behoben werden kann (BGE 141 IV 289 E. 1.2 mit Hinweis). Der Nachteil muss rechtlicher Natur sein, wobei dessen blosse Möglichkeit genügt. Dagegen reichen rein tatsächliche Nachteile wie eine Verfahrensverlängerung oder -verteuerung grundsätzlich nicht aus (BGE 144 IV 321 E. 2.3, 90 E. 1.1.3; 143 IV 175 E. 2.3; 143 III 416 E. 1.3). Nach Art. 42 Abs. 2 BGG hat der Beschwerdeführer bei der Anfechtung von Zwischenentscheiden die Tatsachen anzuführen, aus denen sich der nicht wiedergutzumachende Nachteil ergeben soll, sofern dies nicht offensichtlich ist (BGE 141 IV 284 E. 2.3; 289 E. 1.3; je mit Hinweisen). 
 
1.3. Die Zulässigkeit der Beschwerde ist nach den konkreten Umständen und nicht nach bloss abstrakten Gesichtspunkten zu beurteilen. Als grundsätzlich zulässig erachtete das Bundesgericht zum Beispiel Beschwerden gegen Zwischenentscheide über die (Nicht-) Zulassung von Parteien und Parteivertretern zu Befragungen von Mitbeschuldigten, gegen die Verwendung von Zufallsfunden aus Telefonüberwachungen, gegen die Ablehnung von Beweiserhebungsanträgen bei drohendem Beweisverlust, betreffend ausreichende Verteidigung oder in wichtigen strafprozessualen Fällen, bei denen besondere Gesichtspunkte des Beschleunigungsgebots und der Verfahrenseffizienz (Art. 5 Abs. 1 StPO) es erfordern, die streitige Rechtsfrage sofort höchstrichterlich zu prüfen (zur Kasuistik anfechtbarer Zwischenentscheide: Urteile 1B_230/2019 vom 8. Oktober 2019 E. 1.5.3; 1B_520/2017 vom 7. Juli 2018 E. 1.2, nicht publ. in: BGE 144 I 253; 6B_845/2015 vom 1. Februar 2016 E. 1.2. f., nicht publ. in: BGE 142 IV 70). Entsprechend bejaht das Bundesgericht die Zulässigkeit der Beschwerde gegen Rückweisungsbeschlüsse des Berufungsgerichts gemäss Art. 409 Abs. 1 StPO, wenn nicht evident ist, dass das erstinstanzliche Verfahren an einem schwerwiegenden, im Berufungsverfahren nicht heilbarem Mangel leidet (Urteil 6B_32/2017 vom 29. September 2017 E. 4, nicht publ. in: BGE 143 IV 408) oder mit hinreichender Begründung eine Rechtsverweigerung/-verzögerung als Folge der Rückweisung gerügt wird (Urteil 6B_1302/2015 vom 28. Dezember 2016 E. 4.1). Auf die Beschwerde ist somit einzutreten.  
 
2.  
 
2.1. In prozessualer Hinsicht macht der Beschwerdeführer eine Verletzung seines Anspruchs auf rechtliches Gehör geltend. Die Vorinstanz habe den Rückweisungsbeschluss erlassen, ohne ihm die Berufungserklärung der Staatsanwaltschaft zur Kenntnis gebracht zu haben und ohne dass er sich zum Vorliegen allfälliger Rückweisungsgründe habe äussern können. Zudem verletze die Vorinstanz Art. 81 Abs. 1 lit. d StPO, da der Beschluss keine Rechtsmittelbelehrung enthalte.  
 
2.2. Die Vorinstanz führt zum Ablauf des Berufungsverfahrens aus, der Rückweisungsbeschluss gemäss Art. 409 Abs. 1 StPO könne direkt nach Eingang der Berufungserklärung ergehen und unterliege als Zwischenentscheid nicht der Beschwerde in Strafsachen an das Bundesgericht.  
 
2.3. Die Rüge der Gehörsverletzung ist begründet. Gemäss Art. 400 Abs. 2 StPO übermittelt die Verfahrensleitung im Rahmen der Vorprüfung des Berufungsverfahrens den anderen Parteien unverzüglich eine Kopie der Berufungserklärung, damit diese die Möglichkeit haben, innert 20 Tagen Nichteintreten auf die Berufung zu beantragen oder Anschlussberufung zu erklären. Die Vorschrift gewährleistet den anderen Parteien Anspruch auf rechtliches Gehör (Botschaft vom 21. Dezember 2005 zur Vereinheitlichung des Strafprozessrechts, BBl 2006 1315 Ziff. 2.9.3.1; SCHMID/JOSITSCH, Schweizerische Strafprozessordnung, Praxiskommentar, 3. Aufl. 2018, N. 2 zu Art. 400 StPO; zum Anspruch auf rechtliches Gehör: BGE 138 I 484 E. 2.1 S. 485 mit Hinweisen). Die Verletzung des rechtlichen Gehörs kann entgegen der Vorinstanz im bundesgerichtlichen Verfahren nicht geheilt werden. Das rechtliche Gehör dient der Sachaufklärung und stellt ein persönlichkeitsbezogenes Mitwirkungsrecht beim Erlass eines Entscheides dar. Dazu gehört insbesondere das Recht der betroffenen Person, sich vor Erlass eines Entscheids zur Sache zu äussern und ihren Standpunkt wirksam zur Geltung zu bringen, um den Entscheid beeinflussen zu können (BGE 135 II 286 E. 5.1; Urteil 6B_1247/2015 vom 15. April 2016 E. 2.2). Dies kann im jetzigen Verfahrensstadium nicht mehr nachgeholt werden. Es ist zudem nicht Aufgabe des Bundesgerichts, Rechtsfragen, zu denen sich die Parteien nicht haben äussern können und die das zuständige Berufungsgericht nicht behandelt hat, als erste Instanz zu beurteilen. Die Einhaltung der gesetzlichen Verfahrensvorschriften steht nicht zur Disposition der Strafbehörden. Strafverfahren können nur in den vom Gesetz vorgesehenen Formen durchgeführt und abgeschlossen werden (Art. 2 Abs. 2 StPO).  
Die Annahme, der Rückweisungsbeschluss sei als Zwischenentscheid im Sinne von Art. 93 Abs. 1 lit. a BGG mangels eines nicht wieder gutzumachenden Nachteils mit Beschwerde in Strafsachen nicht anfechtbar, entbindet die Vorinstanz nicht davon, ihren Entscheid mit einer Rechtsmittelbelehrung zu versehen. Die Anfechtung von Zwischenentscheiden ist gemäss Art. 92 und Art. 93 BGG nicht von vornherein ausgeschlossen und die Entscheidung darüber, ob ein anfechtbarer Entscheid gegeben ist, obliegt dem Bundesgericht als Rechtsmittelinstanz. Der Gehörsverletzung durch die unterbliebene Rechtsmittelbelehrung kommt vorliegend jedoch keine weitere Bedeutung zu, da der anwaltlich vertretene Beschwerdeführer auch ohne die erforderliche Rechtsmittelbelehrung Beschwerde ans Bundesgericht erhoben hat, ihm aus dem rechtswidrigen Vorgehen der Vorinstanz mithin kein Nachteil erwachsen ist. 
 
2.4. Der Anspruch auf rechtliches Gehör ist formeller Natur, weshalb seine Verletzung ungeachtet der materiellen Begründetheit des Rechtsmittels zur Gutheissung der Beschwerde und zur Aufhebung des angefochtenen Entscheids führt (vgl. BGE 144 I 11 E. 5.3; 137 I 195 E. 2.2 mit Hinweis). Demnach erübrigt es sich grundsätzlich, die weiteren Rügen zu behandeln. Vorliegend ist jedoch aus prozessökonomischen Gründen nochmals auf die gefestigte bundesgerichtliche Rechtsprechung zur Natur der Berufung als vollumfängliches reformatorisches Rechtsmittel (vgl. Art. 408 StPO; BBl 2006 1130 Ziff. 2.12, 1182 Ziff. 2.4.1.1, 1318 Ziff. 2.9.3.3; BGE 143 IV 408 E. 6.1; 141 IV 244 E. 1.3.3; Urteile 6B_70/2015 vom 20. April 2016 E. 1.4.2; 6B_1224/2014 vom 9. April 2015 E. 1.3.3, nicht publ. in: BGE 141 IV 244; je mit Hinweisen) sowie zu den engen Voraussetzungen, unter denen eine kassatorische Erledigung durch Rückweisung an das erstinstanzliche Gericht gemäss Art. 409 Abs. 1 StPO  ausnahmsweise zulässig ist, hinzuweisen (BGE 143 IV 408 E. 6.1; Urteile 6B_165/2020 vom 20. Mai 2020 E. 2.1; 6B_904/2018 vom 8. Februar 2019 E. 2.4; ständige Rspr. seit 6B_662/2011 vom 19. Juli 2012 E. 2.1; je mit Hinweisen; MARKUS HUG, in: Kommentar zur Schweizerischen Strafprozessordnung [StPO], 2. Aufl. 2014, N. 1 ff. zu Art. 409 StPO). Erforderliche zusätzliche Beweiserhebungen im Berufungsverfahren stellen keinen schwerwiegenden Mangel im Sinne von Art. 409 Abs. 1 StPO dar, der eine Rückweisung an die erste Instanz rechtfertigt.  
 
2.5. Die Sache ist zur Durchführung des Berufungsverfahrens nebst Erhebung allfälliger zusätzlicher Beweise gemäss Art. 389 Abs. 3 StPO an die Vorinstanz zurückzuweisen.  
 
3.   
Die Beschwerde ist begründet. Bei diesem Verfahrensausgang sind keine Kosten zu erheben (Art. 66 Abs. 4 BGG), obwohl vorliegend auch eine Kostenauflage gemäss Art. 66 Abs. 3 BGG an den Kanton denkbar wäre. Der Kanton Aargau hat den Beschwerdeführer für das bundesgerichtliche Verfahren angemessen zu entschädigen (Art. 68 Abs. 1 und 2 BGG). 
 
 
 Demnach erkennt das Bundesgericht:  
 
1.   
Die Beschwerde wird gutgeheissen, der Beschluss des Obergerichts des Kantons Aargau vom 12. Juli 2019 aufgehoben und die Sache zur Durchführung des Berufungsverfahrens an die Vorinstanz zurückgewiesen. 
 
2.   
Es werden keine Gerichtskosten erhoben. 
 
3.   
Der Kanton Aargau hat den Beschwerdeführer für das bundesgerichtliche Verfahren mit Fr. 3'000.- zu entschädigen. 
 
4.   
Dieses Urteil wird den Parteien und dem Obergericht des Kantons Aargau, Strafgericht, 3. Kammer, schriftlich mitgeteilt. 
 
 
Lausanne, 22. Juni 2020 
 
Im Namen der Strafrechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
 
Der Präsident: Denys 
 
Der Gerichtsschreiber: Held