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Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
 
 
 
{T 0/2} 
 
5A_614/2013  
   
   
 
 
 
Urteil vom 22. November 2013  
 
II. zivilrechtliche Abteilung  
 
Besetzung 
Bundesrichter von Werdt, Präsident, 
Bundesrichterin Escher, 
Bundesrichter Marazzi, Herrmann, Schöbi, 
Gerichtsschreiber Zbinden. 
 
Verfahrensbeteiligte 
X.________, 
vertreten durch Rechtsanwalt Beda Meyer Löhrer, 
Beschwerdeführer, 
 
gegen  
 
Bezirksgericht Y.________, Abteilung Familiengericht.  
 
Gegenstand 
Fürsorgerische Unterbringung, 
 
Beschwerde gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts des Kantons Aargau, 1. Kammer, vom 5. Juli 2013. 
 
 
Sachverhalt:  
 
A.   
 
A.a. Am 24. November 2011 erkannte das Jugendgericht Y.________ X.________ (geb. xx.xx.1990), der am xx.xx.xxxx eine Prostituierte vergewaltigt, stranguliert und anschliessend umgebracht hatte, namentlich des Mordes (Art. 112 StGB), der sexuellen Nötigung (Art. 189 Abs. 1 i.V.m. Abs. 3 StGB) und der Vergewaltigung (Art. 190 Abs. 1 i.V.m. Abs. 3 StGB) für schuldig und verurteilte ihn zu einem Freiheitsentzug von vier Jahren. Ferner ordnete das Gericht gestützt auf Art. 10 Abs. 1 und Art. 15 Abs. 1 des Bundesgesetzes vom 20. Juni 2003 über das Jugendstrafrecht (Jugendstrafgesetz, JStG; SR 311.1) eine Unterbringung in einer geschlossenen Anstalt sowie gestützt auf Art. 10 Abs. 1 und Art. 14 Abs. 1 JStG eine in der Anstalt durchzuführende "ambulante Behandlung" der bei X.________ bestehenden psychischen Störung an.  
 
A.b. Im Hinblick auf das Ende der Strafverbüssung verfügte das Bezirksamt Y.________ am 20. Juni 2012 über X.________ eine fürsorgerische Freiheitsentziehung gestützt auf aArt. 397a ff. ZGB und ordnete die Überweisung des Betroffenen vom MZU in die Jugendvollzugsanstalt (JVA) Y.________, Sicherheitstrakt (SITRAK) II, sowie die dortige Zurückbehaltung an. Die Anstaltsleitung wurde angewiesen, X.________ seiner psychischen Beeinträchtigung entsprechend zu behandeln, resp. die bereits im MZU laufende intensive persönlichkeitszentrierte und deliktorientierte forensische Psychotherapie weiterzuführen. Die von X.________ gegen die Anordnung der fürsorgerischen Freiheitsentziehung erhobene Verwaltungsgerichtsbeschwerde blieb erfolglos (Urteil des Verwaltungsgerichts des Kantons Aargau vom 6. August 2012). Mit Urteil vom 5. September 2012 wies das Bundesgericht die von X.________ gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts erhobene Beschwerde in Zivilsachen ab (zum Ganzen BGE 138 III 593 Sachverhalt).  
 
B.   
Mit Eingabe vom 11. März 2013 beantragte X.________ beim Bezirksgericht Y.________, Familiengericht, (Erwachsenenschutzbehörde) die Entlassung aus der JVA Y.________. Mit Entscheid vom 18. Juni 2013 bestätigte das angerufene Gericht die fürsorgerische Unterbringung, verlängerte diese bis zur nächsten periodischen Überprüfung (Dezember 2013) und wies das Entlassungsgesuch ab. Mit Urteil vom 5. Juli 2013 gab das Verwaltungsgericht des Kantons Aargau der von X.________ erhobenen Verwaltungsgerichtsbeschwerde nicht statt. 
 
C.   
X.________ hat mit Eingabe vom 24. August 2012 (Postaufgabe) beim Bundesgericht gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Beschwerde in Zivilsachen erhoben. In verfahrensrechtlicher Hinsicht beantragt er den Ausstand der am Verfahren 5A_607/2012 beteiligten Bundesrichterin und Bundesrichter. In der Sache verlangt er, das Urteil des Verwaltungsgerichts des Kantons Aargau aufzuheben und ihn unverzüglich zu entlassen. Im Weiteren ersucht er um unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung für das bundesgerichtliche Verfahren. 
 
D.   
Das Bezirksgericht Y.________ sowie das Verwaltungsgericht des Kantons Aargau haben je unter Hinweis auf die Begründung des angefochtenen Entscheids auf eine Vernehmlassung verzichtet. 
 
E.   
Mit Verfügung vom 25. September 2013 wurde das Ausstandsbegehren abgewiesen, soweit es nicht gegenstandslos geworden ist. 
 
 
Erwägungen:  
 
1.   
Im vorliegenden Fall geht es darum, ob das Verwaltungsgericht mit der weiteren Zurückbehaltung des Beschwerdeführers in der betroffenen Strafanstalt gegen Art. 426 ZGB verstossen hat. Soweit sich der Beschwerdeführer in diesem Zusammenhang auf eine Verletzung verfassungsmässiger Rechte bzw. von Garantien der EMRK beruft, kommt diesen Rügen keine selbstständige Bedeutung zu; sie erschöpfen sich im Ergebnis in einer Beanstandung der Anwendung von Art. 426 ZGB
 
2.   
 
2.1. Nach Art. 426 Abs. 1 ZGB darf eine Person, die an einer psychischen Störung oder an geistiger Behinderung leidet oder schwer verwahrlost ist, in einer geeigneten Einrichtung untergebracht werden, wenn die nötige Behandlung oder Betreuung nicht anders erfolgen kann. Die Belastung und der Schutz von Angehörigen und Dritten sind zu berücksichtigen (Absatz 2). Die Massnahme gelangt zur Anwendung, wenn eine Person der persönlichen Fürsorge oder Pflege bedarf (Geiser/Etzensberger, Basler Kommentar, Erwachsenenschutz, 2012, N. 6 vor Art. 426-439 ZGB). Erste gesetzliche Voraussetzung für eine Anordnung der Massnahme ist einer der drei abschliessend genannten (Geiser/Etzensberger, a.a.O., N. 12 zu Art. 426 ZGB; Christof Bernhart, Handbuch der fürsorgerischen Unterbringung, 2011, S. 108 Rz. 262) Schwächezustände: psychische Störung, geistige Behinderung oder schwere Verwahrlosung. Erforderlich ist sodann ein sich aus dem Schwächezustand ergebender Bedarf an Fürsorge, d.h. die Notwendigkeit der Behandlung bzw. Betreuung ("nötige Behandlung oder Betreuung"; "l'assistance ou le traitement nécessaires" "le cure o l'assistenza necessarie"). Weitere Voraussetzung bildet, dass der Person die nötige Behandlung oder Betreuung nicht auf andere Weise als durch eine Einweisung in eine Einrichtung bzw. die dortige Zurückbehaltung gewährt werden kann. Gesetzlich verlangt ist schliesslich eine geeignete Einrichtung (Urteil 5A_189/2013 vom 11. April 2013 E. 2.1). Die betroffene Person wird entlassen, sobald die Voraussetzungen für die Unterbringung nicht mehr erfüllt sind (Art. 426 Abs. 3 ZGB).  
 
2.2. Betreffend den Inhalt des bei psychischen Störungen erforderlichen Gutachtens (Art. 450e Abs. 3 ZGB) und den Inhalt des Urteils der Beschwerdeinstanz im Lichte von Art. 112 BGG wird auf die Urteile 5A_469/2013 vom 17. Juli 2013 E. 2.4 und 5A_189/2013 vom 11. April 2013 E. 2.3 verwiesen.  
 
3.   
 
3.1. Der Beschwerdeführer beanstandet in erster Linie die Ungeeignetheit der Anstalt und macht im weiteren geltend, die Massnahme sei nicht aus Gründen der Selbstgefährdung, sondern ausschliesslich zum Schutz Dritter angeordnet worden und verletze daher Art. 426 ZGB. Er erachtet die fürsorgerische Unterbringung als nicht mehr gerechtfertigt, weil deren Voraussetzungen nicht mehr gegeben sind.  
 
3.2. Soweit der Beschwerdeführer Kritik am BGE 138 III 593 übt, ist darauf nicht weiter einzugehen, geht es doch vorliegend nicht darum, diesen rechtskräftigen Entscheid in Wiedererwägung zu ziehen (E. 1). Ausführungen erübrigen sich auch zu den Erörterungen des Beschwerdeführers zu aArt. 397a ZGB, zumal diese Bestimmung nicht mehr anwendbar ist. Das Verwaltungsgericht geht im angefochtenen Entscheid gestützt auf die Schlussfolgerung des Gutachters davon aus, der Beschwerdeführer leide nach wie vor unter einer psychischen Störung und bedürfe aufgrund des fortbestehenden Gesundheitszustandes weiterhin einer persönlichkeits- und deliktorientierten forensischen Psychotherapie, die ihm nur in einer Einrichtung gewährt werden könne. Mit Bezug auf die genannten Voraussetzungen haben sich die Verhältnisse seit der Verfügung des Bezirksamtes Y.________ vom 20. Juni 2012 (Anordnung der fürsorgerischen Freiheitsentziehung) bzw. dem Urteil des Verwaltungsgerichts des Kantons Aargau vom 6. August 2012 nicht geändert. Insoweit besteht auch im Lichte des am 1. Januar 2013 in Kraft getretenen Art. 426 ZGB kein Anlass, korrigierend einzugreifen, zumal der Beschwerdeführer nichts Substanzielles vorbringt, was den angefochtenen Entscheid als bundesrechtswidrig erscheinen liesse.  
 
4.  
 
4.1. Mit Bezug auf die Frage der Eignung der aktuellen Anstalt zur Therapie des Beschwerdeführers verweist das Verwaltungsgericht auf die sehr lange Dauer der Therapie von bis zu zwölf Jahren und hält im Weiteren dafür, in Anbetracht der erwähnten zeitlichen Dimension der Therapie sei noch immer von einer ersten Phase der fürsorgerischen Unterbringung auszugehen, in welcher die JVA Y.________ durchaus als geeignete Einrichtung anzusehen sei. Der Beschwerdeführer erachtet die heutige Einrichtung angesichts der ungenügenden Therapie sowie unter Berücksichtigung der persönlichkeitsverletzenden Unterbringung in einer Strafanstalt als ungeeignet.  
 
4.2. Was unter einer geeigneten Anstalt zu verstehen ist, wurde in aArt. 397a ZGB nicht ausgeführt (BGE 112 II 486 E. 3, auch zu den Gründen; zum Begriff der Anstalt allgemein: BGE 121 III 306 E. 2b S. 308). Auch Art. 426 ZGB lässt sich keine Interpretation des unbestimmten Rechtsbegriffs der "geeigneten Einrichtung" entnehmen. Aus dem Zweck dieser Bestimmung, der eingewiesenen Person die nötige Behandlung bzw. Betreuung zu erbringen, ergibt sich aber, dass es sich um eine Institution handeln muss, die mit den ihr zur Verfügung stehenden organisatorischen und personellen Mitteln in der Lage ist, die wesentlichen Bedürfnisse der eingewiesenen Person bezüglich Behandlung und Betreuung zu befriedigen (vgl. dazu für das alte Recht: BGE 112 II 486 E. 4c S. 490; 114 II 213 E. 7 S. 218). Erfüllt eine solche Strafanstalt diese Voraussetzungen, kommt sie ausnahmsweise als Einrichtung infrage (BGE 112 II 486 E. 4c S. 490; 114 II 213 E. 7 S. 218; BGE 138 III 593 E. 8 S. 599 f.; siehe auch Urteil 5A_519/2007 vom 10. Oktober 2007 E. 3).  
 
4.3. Das Bundesgericht erachtete in seinem ersten Entscheid vom 5. September 2012 die JVA Y.________ (SITRAK II) im Lichte des vorhandenen, wenn auch unvollständigen Therapieangebotes und der Rechtsprechung des EGMR beim damaligen Stand der Behandlung, "d.h. in dieser ersten Phase der fürsorgerischen Freiheitsentziehung", als geeignete Einrichtung. Es betonte indessen bereits in diesem Entscheid, das Bezirksamt Y.________ habe dafür besorgt zu sein, dass der Beschwerdeführer in absehbarer Zeit in eine für seine Behandlung besser geeignete - soweit erforderlich auch in einem anderen Kanton gelegene - Einrichtung verlegt werden kann (BGE 138 III 593 E. 8.3 S. 601). Entgegen der Auffassung der Vorinstanz kann vorliegend zum gegebenen Zeitpunkt nicht mehr von einer ersten Phase der fürsorgerischen Unterbringung gesprochen werden. Im vorliegenden Fall ist erstellt, dass der Beschwerdeführer zurzeit in der JVA Y.________ einmal wöchentlich eine persönlichkeits- und deliktorientierte forensische Psychotherapie absolviert. Nach dem behandelnden Psychologen wären indes drei wöchentliche Therapiestunden nötig. Bereits wegen des ungenügenden Therapieangebotes ist festzustellen, dass eine Fortsetzung des heutigen Unterbringungs- und Behandlungsmodells mit dem Bundesrecht nicht vereinbar ist.  
 
5.   
 
5.1. Unter Berücksichtigung des nach wie vor ausgewiesenen Therapiebedarfs kann dem Antrag des Beschwerdeführers auf sofortige Entlassung aus der fürsorgerischen Unterbringung nicht entsprochen werden. In diesem Sinn ist die Beschwerde teilweise gutzuheissen und der angefochtene Entscheid aufzuheben. Ziffer 1 des angefochtenen Urteils ist dahingehend neu zu formulieren, dass die Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde innert einer angemessenen im Dispositiv des vorliegenden Urteils zu setzenden Frist um eine Ausdehnung des Therapieangebotes auf die geforderte Intensität in der JVA Y.________ besorgt sein muss.  
 
5.2. Im Weiteren hat sie alles daran zu setzen, dass der Beschwerdeführer so rasch als möglich in einer psychiatrischen Klinik, einer anderen Einrichtung oder an einem andern Ort untergebracht wird, wo die erforderliche Therapie gewährleistet werden kann. Es gilt nicht aus den Augen zu verlieren, dass Problemfälle der vorliegenden Art auch besondere Lösungen erheischen, die den Rahmen dessen sprengen, was eine bestimmte Anstalt normalerweise bietet.  
 
6.   
Ungeachtet des Ausgangs des Verfahrens werden keine Kosten erhoben, zumal sie dem Kanton Aargau nicht überbunden werden können (Art. 66 Abs. 4 BGG). Der Kanton Aargau hat indes den Beschwerdeführer für das bundesgerichtliche Verfahren zu entschädigen (Art. 68 Abs. 1 BGG), wobei die Entschädigung direkt an den Anwalt des Beschwerdeführers zu leisten ist. 
 
7.   
Mit der vorliegenden Kosten- und Entschädigungsregelung wird das Gesuch des Beschwerdeführers um unentgeltliche Rechtspflege gegenstandslos. 
 
8.   
Die Sache ist zur Regelung der Kosten und der Entschädigung der kantonalen Verfahren an das Verwaltungsgericht zurückzuweisen. 
 
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:  
 
1.   
Die Beschwerde wird teilweise gutgeheissen und das angefochtene Urteil aufgehoben. Ziff. 1 des angefochtenen Urteils wird wie folgt neu gefasst: 
 
"1. 
Die Beschwerde wird teilweise gutgeheissen und der Entscheid des Bezirksgerichts Y.________, Familiengericht, Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde, vom 18. Juni 2013 wird aufgehoben. Das Bezirksgericht wird angewiesen, innert zwei Monaten ab Zustellung des bundesgerichtlichen Urteils für eine Ausdehnung der persönlichkeits- und deliktorientierten forensischen Psychotherapie des Beschwerdeführers in der JVA Y.________ auf drei wöchentliche Sitzungen zu sorgen." 
 
 
2.   
Es werden keine Kosten erhoben. 
 
3.   
Der Kanton Aargau hat den Beschwerdeführer für das bundesgerichtliche Verfahren mit Fr. 3'000.-- zu entschädigen. Die Entschädigung ist an den Rechtsvertreter des Beschwerdeführers auszurichten. 
 
4.   
Die Sache wird zur Regelung der Kosten und Entschädigungen der kantonalen Verfahren an das Verwaltungsgericht zurückgewiesen. 
 
5.   
Dieses Urteil wird dem Beschwerdeführer, dem Bezirksgericht Y.________, Abteilung Familiengericht und dem Verwaltungsgericht des Kantons Aargau, 1. Kammer, schriftlich mitgeteilt. 
 
 
Lausanne, 22. November 2013 
Im Namen der II. zivilrechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
 
Der Präsident: von Werdt 
 
Der Gerichtsschreiber: Zbinden