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Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
 
 
 
2C_511/2022  
 
 
Urteil vom 23. November 2022  
 
II. öffentlich-rechtliche Abteilung  
 
Besetzung 
Bundesrichterin Aubry Girardin, Präsidentin, 
Bundesrichter Donzallaz, 
Bundesrichterin Ryter, 
Gerichtsschreiber Businger. 
 
Verfahrensbeteiligte 
A.________, 
Beschwerdeführer, 
vertreten durch Rechtsanwalt Stephan Nüesch, 
 
gegen  
 
Amt für Migration und Integration des Kantons Aargau, Rechtsdienst, 
Bahnhofplatz 3C, 5001 Aarau. 
 
Gegenstand 
Widerruf der Niederlassungsbewilligung und Wegweisung, 
 
Beschwerde gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts des Kantons Aargau, 2. Kammer, vom 20. Mai 2022 (WBE.2021.15). 
 
 
Sachverhalt:  
 
A.  
 
A.a. A.________ (geb. 1975) ist Staatsangehöriger von Nordmazedonien. Er reiste am 1. Februar 1988 im Rahmen des Familiennachzugs in die Schweiz ein und erhielt eine Aufenthaltsbewilligung und am 26. Juli 1990 die Niederlassungsbewilligung. Am 13. März 1993 heiratete er eine Landsfrau, die am 13. Mai 1993 in die Schweiz einreiste und heute über eine Niederlassungsbewilligung verfügt. Aus der Ehe entstammen drei inzwischen volljährige Kinder (geb. 1996, 1998 und 2003), die ebenfalls über die Niederlassungsbewilligung verfügen.  
 
A.b. Zwischen 1999 und 2017 wurde A.________ 37 Mal strafrechtlich verurteilt (Widerhandlungen gegen das Strassenverkehrsgesetz, Transportgesetz sowie Ungehorsam des Schuldners in Betreibungs- und Konkursverfahren) und mit Bussen von insgesamt Fr. 7'550.--, 60 Tagessätzen Geldstrafe und 7 Tagen Freiheitsstrafe bestraft. Zudem wurde er am 17. September 2019 wegen qualifizierter Betäubungsmitteldelinquenz, Sozialhilfebetrugs, mehrfacher Geldwäscherei und mehrfacher Förderung des rechtswidrigen Aufenthalts - wobei er die massgeblichen Delikte vor dem 1. Oktober 2016 begangen hatte - mit einer Freiheitsstrafe von 24 Monaten sowie einer Geldstrafe von 210 Tagessätzen zu je Fr. 30.-- bestraft.  
Weiter bestehen gegenüber A.________ 140 offene Verlustscheine über Fr. 204'159.85 (Stand Dezember 2019) und werden er und seine Familie seit Ende 2005 von der Sozialhilfe unterstützt - per Ende 2021 mit Fr. 332'475.65. 
 
B.  
Mit Verfügung vom 19. März 2020 widerrief das Amt für Migration und Integration des Kantons Aargau die Niederlassungsbewilligung von A.________ und wies ihn aus der Schweiz weg. Die dagegen erhobene Einsprache wies es am 15. Dezember 2020 ab. Das daraufhin angerufene Verwaltungsgericht des Kantons Aargau wies die Beschwerde am 20. Mai 2022 ab, unter Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege und Verbeiständung. 
 
C.  
Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten vom 21. Juni 2022 beantragt A.________ dem Bundesgericht, vom Widerruf der Niederlassungsbewilligung sei abzusehen. Weiter sei der Beschwerde aufschiebende Wirkung zu erteilen und ihm die unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung zu gewähren. 
Das Bundesgericht hat die vorinstanzlichen Akten beigezogen, aber keine Vernehmlassungen eingeholt. Mit Verfügung der Abteilungspräsidentin vom 23. Juni 2022 wurde der Beschwerde aufschiebende Wirkung zuerkannt. 
 
 
Erwägungen:  
 
1.  
Die gegen den Widerruf der Niederlassungsbewilligung gerichtete Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten ist zulässig (Art. 82 lit. a, Art. 83 lit. c Ziff. 2 e contrario, Art. 86 Abs. 1 lit. d, Art. 89 Abs. 1 und Art. 90 BGG; BGE 135 II 1 E. 1.2.1). 
 
2.  
Der Beschwerdeführer bestreitet nicht, dass er mit seinem strafbaren Verhalten und dem Sozialhilfebezug mehrere Widerrufsgründe erfüllt (Art. 62 Abs. 1 lit. b i.V.m. Art. 63 Abs. 1 lit. a sowie Art. 63 Abs. 1 lit. c AIG [SR 142.20]; vgl. E. II./2 und 3.2.3 des angefochtenen Urteils). Streitig ist, ob der Widerruf der Niederlassungsbewilligung verhältnismässig ist und vor dem Anspruch auf Achtung des Privat- und Familienlebens standhält. 
 
3.  
 
3.1. Der Widerruf der Niederlassungsbewilligung muss verhältnismässig sein (Art. 5 Abs. 2 BV; Art. 96 AIG). Massgebliche Kriterien der Verhältnismässigkeitsprüfung sind unter anderem die Schwere des Delikts, das Verschulden, die Dauer der Anwesenheit und der Grad der Integration, die familiären Verhältnisse sowie die Wiedereingliederungschancen im Herkunftsstaat (BGE 139 I 16 E. 2.2; 139 I 31 E. 2.3). Bei schweren Straftaten muss zum Schutz der Öffentlichkeit ausländerrechtlich selbst ein geringes Restrisiko weiterer Beeinträchtigungen der dadurch gefährdeten Rechtsgüter nicht in Kauf genommen werden (BGE 139 I 31 E. 2.3.2; 130 II 176 E. 4.2-4.4). Das gilt namentlich für die in Art. 121 Abs. 3 BV aufgeführten Straftaten, die in der Regel eine obligatorische Landesverweisung nach sich ziehen (Art. 66a StGB). Zwar ist diese Bestimmung nicht auf Taten anwendbar, die vor dem 1. Oktober 2016 begangen worden sind, doch ist der damit durch den Verfassungs- und Gesetzgeber zum Ausdruck gebrachten besonderen Verwerflichkeit der entsprechenden Taten in der Interessenabwägung insofern Rechnung zu tragen, als es dadurch zu keinem Widerspruch zu übergeordnetem Recht kommt (BGE 139 I 16 E. 5; Urteil 2C_44/2022 vom 15. August 2022 E. 6.1).  
 
3.2. In einem ersten Schritt ist das öffentliche Interesse am Bewilligungswiderruf zu prüfen.  
 
3.2.1. Der Beschwerdeführer wurde am 17. September 2019 u.a. wegen qualifizierter Betäubungsmittelkriminalität und Sozialhilfebetrugs verurteilt und hat damit Straftaten nach Art. 121 Abs. 3 lit. a und b BV begangen. Wie das Verwaltungsgericht zutreffend erwogen hat, weist das Strafmass von 24 Monaten Freiheitsstrafe auf ein schweres migrationsrechtliches Verschulden hin. Die Vorinstanz hat sich zudem eingehend mit der Betäubungsmitteldelinquenz des Beschwerdeführers auseinandergesetzt und erwogen, er sei Teil eines Heroinhändlerrings und bereit gewesen, die Gesundheit einer Vielzahl von Personen in Gefahr zu bringen; zudem habe er allein aus finanziellen Motiven delinquiert (vgl. E. II./3.2.1.3.2 des angefochtenen Urteils). Daran ändert nichts, dass der Beschwerdeführer innerhalb des Händlerrings nur in untergeordneter Stellung tätig gewesen sein und sich dadurch ein nur geringes Einkommen verschafft haben will, was im Übrigen bei der Strafzumessung berücksichtigt worden ist. Ebenfalls wird das Verschulden des Beschwerdeführers nicht dadurch relativiert, dass er auf die seiner Ansicht nach zu harten Strafen bei Betäubungsmitteldelikten verweist. Es kommt hinzu, dass der Beschwerdeführer in einem Zeitraum von fast 20 Jahren insgesamt 37 Mal strafrechtlich verurteilt wurde. Auch wenn es sich dabei durchwegs um minderschwere Delikte gehandelt hat, hat der Beschwerdeführer mit der anhaltenden Delinquenz zum Ausdruck gebracht, dass er nicht gewillt ist, sich an die hiesige Rechtsordnung zu halten.  
 
3.2.2. Das öffentliche Interesse wird weiter durch den jahrelangen und andauernden Sozialhilfebezug des Beschwerdeführers (per Ende 2021 insgesamt Fr. 332'475.65 zusammen mit seiner Familie) erhöht. Soweit der Beschwerdeführer pauschal auf seine gesundheitliche Situation verweist, die es ihm weitgehend verunmöglicht habe, einer geregelten und regelmässigen Arbeit nachzugehen, setzt er sich nicht mit den vorinstanzlichen Erwägungen auseinander, wonach er von der Invalidenversicherung als erwerbsfähig eingestuft werde und ihm lediglich sein Hausarzt eine Arbeitsunfähigkeit wegen einer nicht näher spezifizierten "Krankheit" attestiere, so dass davon auszugehen sei, dass er zumindest in Teilzeitpensen arbeiten und damit die Sozialhilfeabhängigkeit reduzieren könnte (vgl. E. II./3.2.3.4 des angefochtenen Urteils). Bei dieser Sachlage ist die Vorinstanz zu Recht von einem äusserst grossen öffentlichen Interesse am Widerruf ausgegangen.  
 
3.3. Diesem öffentlichen Interesse ist das private Interesse des Beschwerdeführers am Verbleib in der Schweiz entgegenzusetzen.  
 
3.3.1. Der Beschwerdeführer hält sich seit über 34 Jahren und damit sehr lange in der Schweiz auf. Dass er perfekt Schweizerdeutsch spricht, darf nach dem langen Aufenthalt erwartet werden. Eine beruflich-wirtschaftliche Integration liegt angesichts der Schulden und des Sozialhilfebezugs nicht vor, und zwar unabhängig von einer allfälligen Arbeitsunfähigkeit des Beschwerdeführers. Was die soziale Integration betrifft, so stellt der Beschwerdeführer die vorinstanzlichen Erwägungen, wonach er keine engen Beziehungen über den Kreis seiner Familie hinaus pflege, lediglich pauschal infrage. Entgegen seiner Auffassung liegt es an ihm, seine behaupteten engen sozialen Beziehungen substanziiert offenzulegen (Art. 90 AIG). Zusammen mit der jahrelangen Delinquenz ist die Vorinstanz deshalb zu Recht von einer insgesamt mangelhaften Integration ausgegangen (vgl. E. II./3.3.2 des angefochtenen Urteils).  
 
3.3.2. In Bezug auf die Familie des Beschwerdeführers - die Ehefrau und die drei volljährigen Kinder - hat die Vorinstanz auf ein erheblich erhöhtes privates Interesse am Verbleib in der Schweiz geschlossen. Dabei hat sie die langjährige Ehe berücksichtigt, die enge Beziehung zum jüngsten Sohn, der in Haushaltsgemeinschaft mit dem Beschwerdeführer lebt, sowie die enge Beziehung zum schwer behinderten Sohn des Beschwerdeführers. Dieser wohne zwar in einem Pflegeheim, verbringe aber die Wochenenden und Ferien bei seinen Eltern und es sei unbestritten, dass der Beschwerdeführer eine zentrale Bezugsperson für ihn sei (vgl. E. II./3.3.3 des angefochtenen Urteils). Insoweit geht der Einwand in der Beschwerde fehl, die Vorinstanz habe die "gefühlsmässig intensive Beziehung" zwischen Vater und Sohn nicht berücksichtigt. Zudem liegt die Betreuung des Sohnes nicht vorrangig beim Beschwerdeführer, sondern bei der Pflegeeinrichtung, so dass der Sohn auch bei einer Wegweisung des Beschwerdeführers weiterhin adäquat betreut werden würde.  
 
3.3.3. Was sodann die Rückkehr nach Nordmazedonien betrifft, ist die Vorinstanz davon ausgegangen, dass der Beschwerdeführer nach wie vor mit der dortigen Kultur vertraut sei und ihm die kulturelle Integration keine Schwierigkeiten bereiten dürfte. Er spreche eine Amtssprache und dürfte sich deshalb auch sprachlich problemlos zurechtfinden. Auch bei der sozialen Reintegration dürfte er nicht auf unüberwindbare Hindernisse stossen, auch wenn er sein Beziehungsumfeld neu aufbauen müsste. Schliesslich seien auch seine beruflichen Chancen intakt (vgl. E. II./3.4 des angefochtenen Urteils). Dem hält der Beschwerdeführer lediglich entgegen, dass er im Heimatland keinen verwandtschaftlichen Bezug mehr habe; damit werden die Erwägungen zur Wiedereingliederung nicht infrage gestellt. Dies gilt auch hinsichtlich der gesundheitlichen Situation, hat doch die Vorinstanz eingehend dargelegt, dass der Gesundheitszustand einer Rückkehr nicht entgegenstehe (vgl. E. II./3.3.4 des angefochtenen Urteils). Was im Übrigen die schwierige berufliche Wiedereingliederung in Nordmazedonien betrifft, so steht diese nicht im Vordergrund, nachdem sich der Beschwerdeführer auch in der Schweiz nicht hat beruflich integrieren können.  
 
3.4. Zusammenfassend steht dem äusserst grossen öffentlichen Interesse am Bewilligungswiderruf - langjährige und schwere Straffälligkeit, erheblicher Sozialhilfebezug und massive Verschuldung - eine mangelhafte Integration und ein grosses familiäres Interesse am Verbleib in der Schweiz entgegen. Bei dieser Sachlage überwiegt das öffentliche Interesse und erweisen sich der Widerruf der Niederlassungsbewilligung und die Wegweisung als verhältnismässig. Der Beschwerdeführer hat folglich die Trennung von seiner Ehefrau - sollte sie ihm nicht in das gemeinsame Heimatland folgen - und seinen volljährigen Kindern hinzunehmen bzw. muss den Kontakt mit Besuchen und modernen Kommunikationsmitteln aufrecht erhalten.  
 
4.  
Was den Anspruch auf Achtung des Privat- und Familienlebens nach Art. 13 Abs. 1 BV und Art. 8 Ziff. 1 EMRK betrifft, scheint zweifelhaft, ob sich der Beschwerdeführer auf die Beziehung zu seinem schwer behinderten volljährigen Sohn berufen kann, liegt doch die Betreuung des Sohnes vorrangig bei der Pflegeeinrichtung und kann deshalb ein Abhängigkeitsverhältnis nicht ohne Weiteres angenommen werden. Der Anspruch ist indessen durch den langjährigen Aufenthalt in der Schweiz und die Beziehung zu seiner Ehefrau betroffen. Wie allerdings die Interessenabwägung im Rahmen von Art. 96 AIG gezeigt hat, überwiegen die öffentlichen Interessen am Bewilligungswiderruf im vorliegenden Fall, weshalb sich die Einschränkung des Anspruchs als zulässig erweist (Art. 36 Abs. 3 BV und Art. 8 Ziff. 2 EMRK). 
Dies führt zur Abweisung der Beschwerde. 
 
5.  
Bei diesem Verfahrensausgang sind die Gerichtskosten dem Beschwerdeführer aufzuerlegen (Art. 66 Abs. 1 BGG). Eine Parteientschädigung ist nicht auszurichten (Art. 68 Abs. 1-3 BGG). Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung ist wegen Aussichtslosigkeit abzuweisen (Art. 64 Abs. 1 und 2 BGG e contrario). Angesichts des ausführlich begründeten vorinstanzlichen Urteils und den eher pauschalen Rügen des Beschwerdeführers besass die Beschwerde keine ernsthaften Erfolgsaussichten. 
 
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:  
 
1.  
Die Beschwerde wird abgewiesen. 
 
2.  
Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung wird abgewiesen. 
 
3.  
Die Gerichtskosten von Fr. 1'000.-- werden dem Beschwerdeführer auferlegt. 
 
4.  
Dieses Urteil wird den Verfahrensbeteiligten, dem Verwaltungsgericht des Kantons Aargau, 2. Kammer, und dem Staatssekretariat für Migration mitgeteilt. 
 
 
Lausanne, 23. November 2022 
 
Im Namen der II. öffentlich-rechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
 
Die Präsidentin: F. Aubry Girardin 
 
Der Gerichtsschreiber: M. Businger