Wichtiger Hinweis:
Diese Website wird in älteren Versionen von Netscape ohne graphische Elemente dargestellt. Die Funktionalität der Website ist aber trotzdem gewährleistet. Wenn Sie diese Website regelmässig benutzen, empfehlen wir Ihnen, auf Ihrem Computer einen aktuellen Browser zu installieren.
Zurück zur Einstiegsseite Drucken
Grössere Schrift
 
[AZA] 
K 61/97 Vr 
 
I. Kammer 
 
Präsident Lustenberger, Bundesrichterin Widmer, Bundesrichter Meyer, Borella und Bundesrichterin Leuzinger; 
Gerichtsschreiber Condrau 
 
Urteil vom 24. Januar 2000 
 
in Sachen 
 
Helsana Versicherungen AG, Rechtsdienst, Effingerstrasse 59, Bern, Beschwerdeführerin, 
 
gegen 
 
L.________, 1970, Beschwerdegegnerin, 
 
und 
 
Verwaltungsgericht des Kantons Thurgau, Weinfelden 
 
A.- L.________, geboren am 4. Dezember 1970, war seit 1. April 1994 bei der Artisana Kranken- und Unfallversicherung (ab 1. Januar 1997 Helsana Versicherungen AG, nachfolgend Helsana) versichert. Im Jahre 1995 diagnostizierte Dr. med. dent. P.________ bei der Versicherten eine kaufunktionelle Störung (Geburtsgebrechen Ziffern 208 und 209 GgV). Am 12. April 1996 ersuchte L.________ die Krankenkasse um Kostengutsprache für eine geplante kieferorthopädische Behandlung. Die Artisana verweigerte die Übernahme der Behandlungskosten mit der Begründung, dass während der Minderjährigkeit keine Anmeldung bei der Invalidenversicherung erfolgt und während dieser Zeit nicht mit einer Behandlung begonnen worden sei (Verfügung vom 16. Oktober 1996; Einspracheentscheid vom 5. Dezember 1996). 
 
B.- Das Versicherungsgericht des Kantons Thurgau stellte die Leistungspflicht der Krankenversicherung fest und hiess die gegen den Einspracheentscheid erhobene Beschwerde am 5. März 1997 gut. 
 
C.- Die Helsana führt Verwaltungsgerichtsbeschwerde mit dem Antrag, der Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons Thurgau sei aufzuheben. 
L.________ lässt sich nicht vernehmen. Das Bundesamt für Sozialversicherung schliesst auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde. 
 
Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung: 
 
1.- Da die Beschwerdegegnerin die Krankenversicherung am 12. April 1996 um Kostengutsprache für die in diesem Jahr geplante zahnärztliche Behandlung ersuchte, sind die Bestimmungen des Bundesgesetzes über die Krankenversicherung (KVG) vom 18. März 1994, in Kraft seit 1. Januar 1996, anwendbar, sowie die Verordnungen über die Krankenversicherung (KVV) und die Leistungen in der obligatorischen Krankenpflegeversicherung (KLV), diese allerdings nur insoweit, als sie Ausführungsbestimmungen enthält, welche sachlich einschlägig sind und 1996 in Geltung standen, was für den erst auf 1. Januar 1997 in Kraft gesetzten Art. 19a KLV nicht zutrifft. 
 
2.- a) Versicherte haben bis zum vollendeten 20. Altersjahr Anspruch auf Übernahme der zur Behandlung von Geburtsgebrechen notwendigen medizinischen Massnahmen durch die Invalidenversicherung (Art. 13 Abs. 1 und 2 IVG; Art. 1 bis 3 GgV und GgV-Anhang). 
 
b) Die obligatorische Krankenpflegeversicherung übernimmt bei Geburtsgebrechen, die nicht durch die Invalidenversicherung gedeckt sind, die Kosten für die gleichen Leistungen wie bei Krankheit (Art. 27 KVG). 
Die Kosten für Leistungen, die der Diagnose oder Behandlung einer Krankheit und deren Folgen dienen, gelten als Pflichtleistung der obligatorischen Krankenversicherung im Sinne der Art. 25 ff. KVG. Die Kosten der zahnärztlichen Behandlung werden von der obligatorischen Krankenpflegeversicherung übernommen, wenn diese - alternativ - durch eine schwere, nicht vermeidbare Erkrankung des Kausystems bedingt ist (Art. 31 Abs. 1 lit. a KVG), durch eine schwere Allgemeinerkrankung oder ihre Folgen bedingt ist (Art. 31 Abs. 1 lit. b KVG) oder wenn sie zur Behandlung einer schweren Allgemeinerkrankung oder ihrer Folgen notwendig ist (Art. 31 Abs. 1 lit. c KVG). Zahnärzte und Zahnärztinnen sind für Leistungen nach Art. 31 den Ärzten und Ärztinnen gleichgestellt (Art. 36 Abs. 3 KVG). 
Durch das KVG ist der Bundesrat beauftragt worden, unter anderem die Leistungen nach Art. 31 Abs. 1 lit. a bis c KVG näher zu bezeichnen (Art. 33 Abs. 2 KVG) oder diese Aufgabe dem Departement oder dem Bundesamt zu übertragen (Art. 33 Abs. 5 KVG). 
 
c) In Art. 33 lit. d KVV übertrug der Bundesrat dem Eidgenössischen Departement des Innern die Kompetenz, die zahnärztlichen Behandlungen gemäss Art. 31 Abs. 1 KVG (nach Anhören der zuständigen Kommission) zu bezeichnen. In Ausführung dieses Auftrages hat das Departement in der von ihm erlassenen Krankenpflege-Leistungsverordnung (KLV) die Art. 17 bis 19, in Kraft ab 1. Januar 1996 (Art. 46 KLV), und nachträglich Art. 19a, gültig ab 1. Januar 1997 bzw. 1. Januar 1998 (Änderungen der KLV vom 13. Dezember 1996 und 4. Juli 1997), über die Leistungspflicht für zahnärztliche Behandlungen, die durch ein Geburtsgebrechen bedingt sind, erlassen. 
 
d) Zum massgebenden Zeitpunkt der geplanten Behandlung der Beschwerdegegnerin und deren Gesuch um Kostengutsprache im Jahre 1996 waren die kaufunktionellen Störungen in der Krankenpflege-Leistungsverordnung, insbesondere in Art. 17 KLV, der die schweren, nicht vermeidbaren Erkrankungen des Kausystems im Sinne von Art. 31 Abs. 1 lit. a KVG aufführt, nicht aufgelistet. Es fragt sich, ob sie trotzdem einen Anspruch auf Leistungen der Krankenkasse für die vorgesehene Zahnbehandlung hat. 
Im Rahmen der Überprüfungsbefugnis der Krankenpflege- Leistungsverordnung hatte das Eidgenössische Versicherungsgericht schon verschiedentlich der Frage nachzugehen, ob eine Krankheit zu Unrecht nicht aufgeführt sei. Es hat sich bei der Beantwortung dieser Frage stets grosse Zurückhaltung auferlegt. U.a. hielt das Gericht fest, die Liste der zu einer Leistungspflicht für zahnärztliche Behandlung Anlass gebenden Krankheiten sei abschliessend. Es handle sich um eine departementale Verordnung, die fortlaufend geändert und den Bedürfnissen der Praxis angepasst werden müsse. Der Aufzählung der Krankheiten in der KLV liege eine Konsultation der Eidgenössischen Kommission für allgemeine Leistungen zu Grunde (Art. 33 lit. d und Art. 37a lit. b KVV). Die getroffene Regelung diene der Rechtssicherheit und dem Gebot der Gleichbehandlung. Eine richterliche Ergänzung der Liste würde ohnehin eine vorgängige Anhörung von Experten voraussetzen, was geraume Zeit in Anspruch nehme und erst noch den Nachteil hätte, dass im Falle einer richterlichen Ergänzung die Liste der Krankheiten nicht auf einheitlicher fachmännischer Beurteilung beruhen würde (BGE 124 V 185, 124 V 349 Erw. 4, 125 V 30 Erw. 6a und zur Publikation vorgesehenes Urteil H. vom 15. September 1999, K 99/98). Wird wie im vorliegenden Fall dem Bundesrat durch die gesetzliche Delegation ein sehr weiter Spielraum des Ermessens für die Regelung auf Verordnungsebene eingeräumt, muss sich das Gericht auf die Prüfung beschränken, ob die umstrittenen Verordnungsvorschriften offensichtlich aus dem Rahmen der dem Bundesrat im Gesetz delegierten Kompetenzen herausfallen oder aus anderen Gründen verfassungs- oder gesetzwidrig sind. Es kann jedoch sein eigenes Ermessen nicht an die Stelle desjenigen des Bundesrates setzen und es hat auch nicht die Zweckmässigkeit zu untersuchen (BGE 124 V 194 Erw. 5a mit Hinweisen). Solche Gründe sind vorliegend nicht ersichtlich. 
Nach dem Gesagten hat es beim Ergebnis der ablehnenden Verfügung vom 16. Oktober 1996 und des Einspracheentscheides vom 5. Dezember 1996 sein Bewenden. 
Bei diesem Ausgang des Verfahrens kann die Frage offen bleiben, ob eine Anmeldung bei der Invalidenversicherung bereits während der Minderjährigkeit Voraussetzung der Leistungspflicht der Krankenkasse ist. Es besteht auch kein Anlass zur Überprüfung der Gesetzmässigkeit der erst ab 1. Januar 1997 geltenden (hier nicht anwendbaren) Bestimmungen des Art. 19a KLV
 
3.- Da es im vorliegenden Verfahren um Versicherungsleistungen geht, sind gemäss Art. 134 OG keine Gerichtskosten zu erheben. Grundsätzlich keinen Anspruch auf Parteientschädigung haben obsiegende Behörden und mit öffentlich-rechtlichen Aufgaben betraute Organisationen (Art. 159 Abs. 2 OG). Zu den mit öffentlich-rechtlichen Aufgaben betrauten Organisationen gehören insbesondere die SUVA, die anderen UVG-Versicherer, die Krankenkassen und die Pensionskassen (nicht publizierte Erw. 6 des Urteils BGE 120 V 352 mit Hinweisen). 
 
Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht: 
 
I.In Gutheissung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird der Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Thurgau vom 5. März 1997 aufgehoben. 
 
II.Es werden keine Gerichtskosten erhoben. 
 
III. Es wird keine Parteientschädigung zugesprochen. 
 
IV.Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Thurgau und dem Bundesamt für Sozialversicherung zugestellt. 
 
Luzern, 24. Januar 2000 
 
Im Namen des 
Eidgenössischen Versicherungsgerichts 
Der Präsident der I. Kammer: 
 
Der Gerichtsschreiber: