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Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
                 
 
 
8C_302/2020  
 
 
Urteil vom 24. Juni 2020  
 
I. sozialrechtliche Abteilung  
 
Besetzung 
Bundesrichterin Heine, präsidierendes Mitglied, 
Bundesrichterin Viscione, Bundesrichter Abrecht, 
Gerichtsschreiber Jancar. 
 
Verfahrensbeteiligte 
A.________, 
vertreten durch Rechtsdienst Inclusion Handicap, 
Beschwerdeführerin, 
 
gegen  
 
IV-Stelle Bern, 
Scheibenstrasse 70, 3014 Bern, 
Beschwerdegegnerin. 
 
Gegenstand 
Invalidenversicherung 
(Arbeitsunfähigkeit, Invalidenrente), 
 
Beschwerde gegen den Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Bern 
vom 14. April 2020 (200 19 590 IV). 
 
 
Sachverhalt:  
 
A.   
Die 1964 geborene A.________ schloss am 19. März 1982 eine einjährige Anlehre im Haushalt ab. Danach arbeitete sie bei Familien sowie in Restaurants und Hotels, zuletzt bis Ende 2013 in einem Hotel. Am 13. Februar 2018 meldete sie sich bei der IV-Stelle Bern zum Leistungsbezug an. Diese holte eine arbeitsmarktlich-medizinische Abklärung in der Genossenschaft D.________, Berufliche Eingliederung und Werkstätte, (Bericht vom 26. Juni 2018) ein, in deren Rahmen eine neuropsychologische Abklärung der B.________, Praxis für Neuropsychologie, vom 5. Juni 2018 veranlasst wurde (Bericht vom 7. Juni 2018). Zudem zog die IV-Stelle Stellungnahmen des Dr. med. C.________, Facharzt für Innere Medizin FMH, Regionaler Ärztlicher Dienst (RAD), vom 30. April und 21. Juni 2019 bei. Mit Verfügung vom 28. Juni 2019 verneinte sie einen Rentenanspruch, da der Invaliditätsgrad 10 % betrage. 
 
B.   
Die hiergegen erhobene Beschwerde wies das Verwaltungsgericht des Kantons Bern mit Entscheid vom 14. April 2020 ab. 
 
C.   
Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten beantragt die Versicherte, in Aufhebung des kantonalen Entscheides sei die Sache zu ergänzender Abklärung zurückzuweisen; sie habe Anspruch auf eine Invalidenrente. 
Ein Schriftenwechsel wurde nicht durchgeführt. 
 
 
Erwägungen:  
 
1.   
Mit der Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann eine Rechtsverletzung nach Art. 95 f. BGG gerügt werden. Das Bundesgericht wendet das Recht von Amtes wegen an (Art. 106 Abs. 1 BGG). Dennoch prüft es - offensichtliche Fehler vorbehalten - nur die in seinem Verfahren gerügten Rechtsmängel (Art. 42 Abs. 1 f. BGG; BGE 135 II 384 E. 2.2.1 S. 389). Es legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG). Es kann ihre Sachverhaltsfeststellung von Amtes wegen berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht und wenn die Behebung des Mangels für den Verfahrensausgang entscheidend sein kann (Art. 97 Abs. 1, Art. 105 Abs. 2 BGG). Als Rechtsfrage gilt, ob die rechtserheblichen Tatsachen vollständig festgestellt und ob der Untersuchungsgrundsatz bzw. die Beweiswürdigungsregeln nach Art. 61 lit. c ATSG beachtet wurden. Gleiches gilt für die Frage, ob den medizinischen Gutachten und Arztberichten im Lichte der rechtsprechungsgemässen Anforderungen Beweiswert zukommt (BGE 134 V 231 E. 5.1 S. 232). Bei den aufgrund dieser Berichte getroffenen Feststellungen zum Gesundheitszustand und zur Arbeitsfähigkeit und bei der konkreten Beweiswürdigung geht es um Sachverhaltsfragen (nicht publ. E. 1 des Urteils BGE 141 V 585). 
 
2.   
Die Vorinstanz hat die rechtlichen Grundlagen über die Erwerbsunfähigkeit (Art. 7 ATSG), die Invalidität (Art. 8 Abs. 1 ATSG), die Voraussetzungen des Rentenanspruchs (Art. 28 IVG), die Invaliditätsbemessung nach der allgemeinen Methode des Einkommensvergleichs (Art. 16 ATSG; BGE 135 V 297 E. 5.1 f. S. 300 f.) und den massgebenden Beweisgrad der überwiegenden Wahrscheinlichkeit (BGE 139 V 28 E. 3.3.2 S. 30) richtig dargelegt. Darauf wird verwiesen. 
 
3.   
Streitig und zu prüfen ist, ob die Verneinung eines Rentenanspruchs der Beschwerdeführerin bundesrechtswidrig ist. 
Die Vorinstanz erwog im Wesentlichen, bei der Versicherten seien erstmals im Herbst 2014 Halswirbelsäulenbeschwerden aufgetreten. Deswegen sei sie am 28. Januar 2015 und am 12. November 2018 operiert worden. Somatischerseits bestehe im Rahmen des in der RAD-Stellungnahme vom 30. April 2019 erstellten Zumutbarkeitprofils keine Arbeitsunfähigkeit. Hinweise für einen psychischen Gesundheitsschaden der Versicherten bestünden nicht. Ihre kognitiven Beeinträchtigungen mit einen IQ von 75 und ohne eigentliche Teilleistungsschwäche lägen nicht in einem krankheitswertigen Bereich. Somit sei die im Bericht der Genossenschaft D.________ vom 26. Juni 2018 ermittelte, allein mit den kognitiven Minderleistungen resp. mit der Lernbehinderung begründete 50%ige Arbeitsunfähigkeit invalidenversicherungsrechtlich nicht zu berücksichtigen. Für die Annahme einer Frühinvalidität nach Art. 26 Abs. 1 IVV bleibe somit kein Raum. Der Versicherten stünden auch nach Eintritt des Gesundheitsschadens grundsätzlich dieselben Tätigkeiten offen wie im Gesundheitsfall. Somit habe die IV-Stelle das Validen- und das Invalideneinkommen zu Recht aufgrund der gleichen Tabelle gemäss der vom Bundesamt für Statistik herausgegebenen Schweizerischen Lohnstrukturerhebung (LSE) ermittelt. Den Umstand, dass die Versicherte seitens der Wirbelsäule nicht mehr voll belastbar sei, habe sie beim Invalideneinkommen mit einem 10%igen Abzug vom LSE-Tabellenlohn angemessen berücksichtigt. Damit resultiere ein Invaliditätsgrad in gleicher Höhe bzw. kein Rentenanspruch. 
 
4.   
Im Bericht der Genossenschaft D.________ vom 28. Juni 2018 wurde die 50%ige Leistungseinschränkung der Versicherten mit den neuropsychologischen Defiziten und den aus den Wirbelsäulenbeschwerden resultierenden somatischen Beeinträchtigungen begründet. 
Gemäss der Stellungnahme des RAD-Arztes Dr. med. C.________ vom 30. April 2019 ist sie indessen aus somatischer Sicht in einer leidensangepassten Tätigkeit ganztags ohne Leistungsminderung arbeitsfähig (zur Aufgabe des RAD, die funktionelle Leistungsfähigkeit der versicherten Person zu beurteilen vgl. Art. 59 Abs. 2 und 2bis IVG; Art. 49 IVV; BGE 137 V 210 E. 1.2.1 S. 219, 135 V 254 E. 3.3.2      S. 257). Dies wird von der Beschwerdeführerin nicht bestritten, weshalb es hiermit sein Bewenden hat. 
 
5.   
Strittig und zu prüfen ist somit einzig die neuropsychologische Problematik. 
 
5.1. Intelligenzminderungen werden nach dem zur Anwendung gelangenden Klassifikationssystem ICD-10 in leichte (Intelligenzquotient [IQ] 69 bis 50), mittelgradige (IQ 49 bis 35), schwere (IQ 34 bis 20) und schwerste (IQ weniger als 20) Fälle eingeteilt (ICD-10 F.70 bis F.73; vgl. auch Pschyrembel, 267. Aufl. 2017, S. 881; Urteil 9C_664/2009 vom 6. November 2009 E. 3). Nach konstanter Rechtsprechung wird bei einem IQ von 70 und mehr ein invalidenversicherungsrechtlich massgeblicher Gesundheitsschaden verneint. Demgegenüber führt ein IQ unterhalb dieses Werts in der Regel zu einer im vorliegenden Kontext relevanten verminderten Arbeitsfähigkeit. Auch diesfalls ist jedoch stets eine objektive Beschreibung der Auswirkungen der festgestellten Intelligenzminderung der versicherten Person auf ihr Verhalten, die berufliche Tätigkeit, die normalen Verrichtungen des täglichen Lebens und das soziale Umfeld erforderlich. Zudem kommt es nicht nur auf die Höhe des IQ an, sondern ist immer der Gesamtheit der gesundheitlichen Beeinträchtigungen Rechnung zu tragen (Urteil 8C_608/2018 vom 11. Februar 2019 E. 5.2 mit Hinweisen).  
 
5.2. Die Versicherte macht im Wesentlichen geltend, laut dem neuropsychologischen Bericht vom 7. Juni 2018 lägen ihre intellektuellen Fähigkeiten im Bereich einer Lernbehinderung (definiert durch IQ = 70-84). Zudem bestünden deutliche kognitive Defizite in mehreren Bereichen, welche die im Rahmen einer Lernbehinderung zu erwartenden kognitiven Einschränkungen überstiegen (insbes. im Bereich der Exekutivfunktionen). Die Kriterien für eine Teilleistungsstörung seien nicht erfüllt. Die Kombination von intellektuellen und kognitiven Schwierigkeiten habe laut dem Bericht vom 7. Juni 2018 Einfluss auf die Ausbildungs- und Arbeitsfähigkeit der Versicherten. Laut dem Bericht der Genossenschaft D.________ vom 26. Juni 2018 sei sie bei bestgeeigneter Tätigkeit in einem 100%igen Pensum medizinisch erklärbar nur zu 50 % leistungsfähig. Dieser Einschätzung sei am 26. (richtig 21.) Juni 2019 auch der RAD-Arzt gefolgt. Indem die Vorinstanz die Auswirkungen der deutlichen kognitiven Defizite auf die Ausbildungs- und Arbeitsfähigkeit nicht berücksichtigt habe, habe sie den Sachverhalt offensichtlich unrichtig resp. willkürlich festgestellt.  
 
6.   
Der neuropsychologische Bericht vom 7. Juni 2018 enthält keine hinreichend konkrete Angabe zum prozentualen Ausmass der Arbeitsunfähigkeit der Versicherten. Auch aus dem Bericht der Genossenschaft D.________ vom 28. Juni 2018 geht nicht hervor, welchen Anteil die neuropsychologische Problematik an der gesamthaft attestierten 50%igen Arbeitsunfähigkeit hat (vgl. E. 4 hiervor). Nicht gefolgt werden kann unter diesen Umständen der Stellungnahme des RAD-Arztes Dr. med. C.________ vom 21. Juni 2019, worin er ohne nähere Begründung von einer 50%igen Arbeitsunfähigkeit allein aus neuropsychologischer Sicht ausgeht. 
 
7.  
 
7.1. Im neuropsychologischen Bericht vom 7. Juni 2018 wurde festgehalten, die Versicherte habe ihre bisherige Laufbahn als Hilfskraft in einem wohlwollenden, kognitiv anspruchslosen und stabilen Umfeld absolviert. Zwanzig Jahre sei sie in der gleichen Familie tätig gewesen. Bei einem Arbeitsplatz müsse aufgrund der objektivierten Defizite auf Folgendes geachtet werden: Bei komplexeren Aufgaben mehr Zeit zur Verfügung stellen; klar strukturierte Aufträge oder einzelne Handlungsschritte mit ihr erarbeiten; Erledigen von Aufträgen nacheinander und nicht parallel; möglichst wenig Ablenkung; mehrere Aufträge sollten ihr schriftlich abgegeben werden; Auch Checklisten könnten helfen, ihr eine Struktur zu geben; möglichst geringe Anforderungen an Schreiben und lesen. Generell benötige die Versicherte mehr Unterstützung und Führung als Gleichaltrige sowie verlängerte Einarbeitungszeiten.  
Weder aus diesem Bericht noch aus dem Bericht der Genossenschaft D.________ vom 26. Juni 2018 noch aus den übrigen medizinischen Akten geht hervor, dass sich die kognitiven Fähigkeiten bzw. die damit einhergehende Arbeitsfähigkeit der Beschwerdeführerin in irgend einem Zeitpunkt erheblich verschlechtert hätten. Nicht zu beanstanden ist unter diesen Umständen der vorinstanzliche Schluss, angesichts ihres IQ von 75 und des Fehlens einer Teilleistungsstörung sei die im Bericht der Genossenschaft D._______ vom 26. Juni 2018 und vom RAD-Arzt am 21. Juni 2019 attestierte 50%ige Arbeitsunfähigkeit invalidenversicherungsrechtlich nicht zu berücksichtigen (vgl. BGE 140 V 193 E. 3.2 S. 195 f.). Vielmehr ist mit der Vorinstanz davon auszugehen, dass die Versicherte in der angestammten Tätigkeit weiterhin zu 100 % arbeitsfähig ist. 
Der massgebende ausgeglichene Arbeitsmarkt (vgl. Art. 16 ATSG; BGE 138 V 457 E. 3.1 S. 459 f., 110 V 273 E. 4b S. 276) beinhaltet zweifellos entsprechende Tätigkeiten, insbesondere im angestammten Beruf der Versicherten als Hauswirtschaftsangestellte. Er umfasst auch sogenannte Nischenarbeitsplätze, also Stellen- und Arbeitsangebote, bei welchen Behinderte mit einem sozialen Entgegenkommen des Arbeitgebers rechnen können (Urteil 8C_30/2020 vom 6. Mai 2020 E. 5.3). 
 
7.2. Da bei der Versicherten kein invalidisierendes Leiden vorliegt, sind die Voraussetzungen für die Bejahung einer Frühinvalidität nicht erfüllt, wie die Vorinstanz richtig erkannt hat. Der pauschale Einwand der Versicherten, mit ihrer unzureichenden Ausbildung habe sie in all den Jahren nur ein sehr bescheidenes Einkommen generieren können, ist unbehelflich. Denn sie zeigt nicht auf und es ist auch nicht ersichtlich, inwiefern dies gesundheitsbedingt gewesen sein soll. Entgegen ihrer Auffassung besteht somit keine Veranlassung, das Valideneinkommen gemäss Art. 26 Abs. 1 IVV auf Fr. 82'000.- (Jahr 2018) festzusetzen.  
 
7.3. Da von weiteren Abklärungen keine entscheidrelevanten Ergebnisse zu erwarten sind, durfte die Vorinstanz darauf verzichten (antizipierte Beweiswürdigung; BGE 136 I 229 E. 5.3 S. 236; Urteil 8C_54/2020 vom 26. Mai 2020 E. 11.5).  
 
8.   
Die unterliegende Beschwerdeführerin trägt die Gerichtskosten (Art. 66 Abs. 1 BGG). 
 
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:  
 
1.   
Die Beschwerde wird abgewiesen. 
 
2.   
Die Gerichtskosten von Fr. 800.- werden der Beschwerdeführerin auferlegt. 
 
3.   
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Bern und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt. 
 
 
Luzern, 24. Juni 2020 
 
Im Namen der I. sozialrechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
 
Das präsidierende Mitglied: Heine 
 
Der Gerichtsschreiber: Jancar