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Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
 
 
 
{T 0/2} 
 
2F_1/2014  
   
   
 
 
 
Urteil vom 27. Mai 2014  
 
II. öffentlich-rechtliche Abteilung  
 
Besetzung 
Bundesrichter Zünd, Präsident, 
Bundesrichter Seiler, Donzallaz, 
Gerichtsschreiber Winiger. 
 
Verfahrensbeteiligte 
1. X.________, 
2. Y.________, 
Gesuchsteller, 
beide vertreten durch Fürsprecher Christian Flückiger, 
 
gegen  
 
1.  Polizei- und Militärdirektion des Kantons Bern,  
2.  Einwohnergemeinde Bern,  
Gesuchsgegnerinnen, 
 
Verwaltungsgericht des Kantons Bern.  
 
Gegenstand 
Revisionsgesuch gegen das Urteil des Schweizerischen Bundesgerichts 2C_826/2008 vom 6. März 2009. 
 
 
Sachverhalt:  
 
A.   
Y.________ (geb. 1956) ist Staatsangehöriger von Bosnien und Herzegowina und hielt sich seit Januar 1983 bis August 2004 zusammen mit seiner Ehefrau ununterbrochen in der Schweiz auf. Er verfügte zunächst über eine Aufenthalts- und seit 1993 über eine Niederlassungsbewilligung. Im August 2004 meldete sich Y.________ bei der Fremdenpolizei (heute: Einwohnerdienste, Migration und Fremdenpolizei) der Einwohnergemeinde Bern definitiv in seine Heimat ab, worauf seine Niederlassungsbewilligung erlosch. Gleichzeitig erwirkte er bei seiner Pensionskasse die Barauszahlung der Austrittsleistung. Im Dezember 2004 reiste Y.________ mit einem Touristenvisum erneut in die Schweiz ein und hielt sich in der Folge bei seiner Ehefrau X.________ (geb. 1951) auf. Diese ist ebenfalls bosnisch-herzegowinische Staatsangehörige und verfügt seit 1979 über eine Niederlassungsbewilligung. Das Ehepaar hat zwei Töchter (geb. 1982 und 1984). Y.________ hat zudem aus einer früheren Ehe einen Sohn und eine Tochter (geb. 1979 und 1982); der Sohn reiste 1991 im Rahmen des Familiennachzugs in die Schweiz ein. 
 
B.   
X.________ reichte am 10. Juni 2005 bei der Einwohnergemeinde Bern ein Gesuch um Nachzug ihres Ehemannes ein. Mit Verfügung vom 23. November 2006 wurde das Gesuch abgewiesen und Y.________ eine Ausreisefrist bis 15. Januar 2007 gesetzt. Die Einwohnergemeinde Bern machte geltend, der Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltsbewilligung erlösche, wenn ein Ausweisungsgrund vorliege. Die Familie X.________ und Y.________ werde sozialhilferechtlich unterstützt und es lägen Verlustscheine in der Höhe von über Fr. 160'000.-- vor. Zudem sei Y.________ gerichtlich verurteilt worden. 
 
 Gegen diesen Entscheid erhob X.________ Beschwerde an die Polizei- und Militärdirektion des Kantons Bern, welche mit Entscheid vom 26. Juni 2007 die Beschwerde als unbegründet abwies. Eine gegen diesen Entscheid erhobene Beschwerde wies das Verwaltungsgericht des Kantons Bern mit Urteil vom 13. Oktober 2008 ab und setzte Y.________ eine neue Ausreisefrist bis 5. Dezember 2008. Mit Urteil 2C_826/2008 vom 6. März 2009 wies das Bundesgericht die dagegen erhobene Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten ab. 
 
C.   
Daraufhin gelangten Y.________ und X.________ an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR). Mit Urteil Nr. 52166/09 vom 11. Juni 2013 stellte der EGMR eine Verletzung von Art. 8 EMRK fest und sprach den Beschwerdeführern Ersatz von Partei- und Verfahrenkosten ("pour frais et dépens") im Umfang von EUR 9'000.-- zu. Weitergehende Entschädigungsansprüche wurden abgewiesen. 
 
 Am 7. Oktober 2013 wies der Ausschuss der Grossen Kammer des EGMR den Antrag der Schweizer Regierung, die Rechtssache im Sinne von Art. 43 EMRK an die Grosse Kammer zu verweisen, ab. Damit ist das Urteil des EGMR vom 11. Juni 2013 endgültig geworden (Art. 44 Abs. 2 lit. c EMRK). 
 
D.   
Y.________ und X.________ sind mit Revisionsgesuch vom 6. Januar 2014 an das Bundesgericht gelangt. Die Gesuchsteller machen Revision wegen Verletzung der EMRK (Art. 122 BGG) geltend. Sie beantragen, es sei - unter Kosten- und Entschädigungsfolgen - das Urteil 2C_826/2008 des Bundesgerichts aufzuheben und Y.________ die Aufenthaltsbewilligung im Rahmen des Familiennachzugs zu gewähren. Mit separatem Schreiben vom 6. Januar 2014 ersuchen die Gesuchsteller um unentgeltliche Rechtspflege. 
 
E.   
Das Verwaltungsgericht und die Polizei- und Militärdirektion des Kantons Bern sowie das Bundesamt für Migration verzichten auf eine Vernehmlassung. Die Einwohnergemeinde Bern stellt keinen Antrag, führt aber aus, dass gestützt auf das Urteil des EGMR vom 11. Juni 2013 das am 23. Dezember 2013 neu eingereichte Gesuch um Familiennachzug bewilligt würde. Das Bundesamt für Justiz hat sich nicht vernehmen lassen. 
 
 
Erwägungen:  
 
1.   
 
1.1. Nach Art. 122 BGG kann die Revision eines bundesgerichtlichen Entscheids infolge einer Verletzung der Europäischen Menschenrechtskonvention vom 4. November 1950 (EMRK) verlangt werden, (lit. a) wenn der Europäische Gerichtshof in einem endgültigen Urteil festgestellt hat, dass die EMRK oder die Protokolle dazu verletzt worden sind; (lit. b) eine Entschädigung nicht geeignet ist, die Folgen der Verletzung auszugleichen; und (lit. c) die Revision notwendig erscheint, um die Verletzung zu beseitigen (vgl. BGE 136 I 158 E. 2.1 S. 163 mit Hinweisen). Das Gesuch ist beim Bundesgericht innert 90 Tagen einzureichen, nachdem das Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte endgültig (vgl. Art. 44 EMRK) geworden ist (Art. 124 Abs. 1 lit. c BGG). Findet das Bundesgericht, dass der Revisionsgrund zutrifft, so hebt es den früheren Entscheid auf und entscheidet neu (Art. 128 Abs. 1 BGG).  
 
1.2. Der Ausschuss der Grossen Kammer des EGMR hat am 7. Oktober 2013 entschieden, dem Antrag der Schweizer Regierung, die Rechtssache im Sinne von Art. 43 EMRK an die Grosse Kammer zu verweisen, nicht stattzugeben. Damit ist das Urteil des EGMR vom 11. Juni 2013 gemäss Art. 42 und 44 Abs. 2 lit. c EMRK endgültig geworden. Die Gesuchsteller haben mit ihrer Eingabe vom 6. Januar 2014 fristgerecht darum ersucht, das Urteil des Bundesgerichts vom 6. März 2009 zu revidieren. Da auch die übrigen Prozessvoraussetzungen erfüllt sind, ist auf das Revisionsgesuch einzutreten.  
 
1.3. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat in seinem Urteil (implizit) festgestellt, dass die durch die Gesuchsteller erlittene Konventionsverletzung (Art. 8 EMRK) infolge der Nichterteilung der Aufenthaltsbewilligung an den Gesuchsteller 2 nicht allein durch eine Entschädigung wiedergutgemacht werden könnte und es zur Umsetzung seines Entscheids notwendig erscheint, das bundesgerichtliche Urteil 2C_826/2008 vom 6. März 2009 zu revidieren (vgl. insb. Ziff. 66 ff. des Urteils vom 11. Juni 2013). Diese Ausführungen sind für das vorliegende Verfahren massgebend; die Voraussetzungen von Art. 122 BGG sind erfüllt und das Urteil 2C_826/2008 deshalb zu revidieren.  
 
2.  
 
2.1. Das Verfahren, das zum Urteil 2C_826/2008 vom 6. März 2009 geführt hat, ist wieder aufzunehmen und die Rechtslage so zu beurteilen, wie dies ohne die vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte festgestellte Verletzung von Art. 8 EMRK geschehen wäre (Art. 128 Abs. 1 BGG; BGE 136 I 158 E. 3 S. 164 mit Hinweisen).  
 
2.2. Nach dem Urteil des EGMR verletzt die Verweigerung der Erteilung der Aufenthaltsbewilligung an den Gesuchsteller 2 den Anspruch auf Achtung des Privat- und Familienlebens gemäss Art. 8 EMRK: So würden die mit insgesamt 17 Tagen Freiheitsstrafe geahndeten Vergehen nicht besonders schwer wiegen, da es sich um Strassenverkehrsdelikte und Hausfriedensbruch handle; zudem sei der Gesuchsteller 2 nicht rückfällig geworden (Ziff. 58 des Urteils vom 11. Juni 2013). Verschuldung und Sozialhilfeabhängigkeit würden zwar das wirtschaftliche Wohl des Landes tangieren und erlaubten an sich eine Fernhaltung. Unter Würdigung sämtlicher Umstände wiege das persönliche Interesse der Gesuchsteller aber schwerer. Eine Rolle spielten neben der langen Aufenthaltsdauer und der sozialen Integration in der Schweiz auch die Möglichkeit des Kontakts zu den beiden hier lebenden erwachsenen Kindern (Ziff. 59 ff. des Urteils vom 11. Juni 2013) sowie neue - allerdings erst nach dem Bundesgerichtsurteil vom 4. März 2009 vorgelegte - Arztzeugnisse über ernsthafte gesundheitliche Probleme des Gesuchstellers 2. Zwar scheine eine Behandlung in Bosnien-Herzegowina nicht ausgeschlossen, doch eine Entwurzelung könnte medizinische Komplikationen auslösen (Ziff. 64 des Urteils vom 11. Juni 2013).  
 
2.3. Die Gesuchsteller führen sodann aus, sie seien auch zum heutigen Zeitpunkt noch verheiratet und ersuchten um Familiennachzug. Die gemeinsamen Töchter und Enkelkinder würden immer noch in der Schweiz leben. Auch sei der Gesuchsteller 2 immer noch von schweren gesundheitlichen Problemen betroffen, die eine dauernde Betreuung und medizinische Versorgung nötig machten. In seiner Heimat sei diese nicht gewährleistet. Zudem verfüge er in seiner Heimat über keine sozialen Anknüpfungspunkte mehr.  
 
2.4. Aus diesen von den Gesuchsgegnerinnen nicht bestrittenen Ausführungen ergibt sich, dass das Gesuch um Aufenthaltsbewilligung im Rahmen des Familiennachzugs für den Gesuchsteller 2 antragsgemäss gutzuheissen ist. Dementsprechend ist Dispositiv-Ziff. 1 des Urteils 2C_826/2008 vom 6. März 2009 aufzuheben und die Einwohnergemeinde Bern ist anzuweisen, dem Gesuchsteller 2 die Aufenthaltsbewilligung zu erteilen.  
 
2.5. Der EGMR hat den Gesuchstellern im Verfahren, das zum Urteil vom 11. Juni 2013 geführt hat, die ihnen vor allen Instanzen in der Schweiz entstandenen Kosten bereits ersetzen lassen (vgl. Ziff. 70 ff. des Urteils vom 11. Juni 2013). Insoweit ist eine Revision des Bundesgerichtsurteils in Bezug auf Dispositiv-Ziff. 2 und 3 weder notwendig noch wird diese beantragt.  
 
 Dem Verfahrensausgang entsprechend sind keine Gerichtskosten zu erheben (Art. 66 Abs. 1 und 4 BGG). Der Kanton Bern hat die Gesuchsteller, die anwaltlich vertreten sind, für das vorliegende Revisionsverfahren angemessen zu entschädigen (Art. 68 Abs. 2 BGG). Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege wird gegenstandslos. 
 
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:  
 
1.   
Das Revisionsgesuch wird gutgeheissen. Das Urteil 2C_826/2008 vom 6. März 2009 wird in Ziff. 1 aufgehoben und das Verfahren 2C_826/2008 wird neu wie folgt entschieden: 
 
 "Die Beschwerde wird gutgeheissen und das Urteil des Verwaltungsgerichts des Kantons Bern vom 13. Oktober 2008 aufgehoben. Die Einwohnergemeinde Bern wird angewiesen, dem Beschwerdeführer 2 die Aufenthaltsbewilligung zu erteilen." 
 
2.  
 
2.1. Es werden keine Gerichtskosten erhoben.  
 
2.2. Der Kanton Bern hat die Gesuchsteller für das vorliegende Revisionsverfahren mit Fr. 1'500.-- zu entschädigen.  
 
3.   
Dieses Urteil wird den Verfahrensbeteiligten, dem Bundesamt für Justiz und dem Bundesamt für Migration schriftlich mitgeteilt. 
 
 
Lausanne, 27. Mai 2014 
 
Im Namen der II. öffentlich-rechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
 
Der Präsident: Zünd 
 
Der Gerichtsschreiber: Winiger