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Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
8C_728/2010 {T 0/2} 
 
Urteil vom 28. Januar 2011 
I. sozialrechtliche Abteilung 
 
Besetzung 
Bundesrichter Ursprung, Präsident, 
Bundesrichter Frésard, Bundesrichterin Niquille, 
Gerichtsschreiber Grunder. 
 
Verfahrensbeteiligte 
Amt für AHV und IV des Kantons Thurgau, Ausgleichskasse, IV-Stelle, St. Gallerstrasse 13, 8501 Frauenfeld, 
Beschwerdeführerin, 
 
gegen 
 
K._________, vertreten durch Rechtsanwalt Simon Krauter, 
Beschwerdegegner. 
 
Gegenstand 
Invalidenversicherung (Hilflosenentschädigung), 
 
Beschwerde gegen den Entscheid 
des Verwaltungsgerichts des Kantons Thurgau 
vom 11. August 2010. 
 
Sachverhalt: 
 
A. 
Der 1989 geborene K._________ leidet seit einem Unfall vom 24. November 2006 an einer sensomotorisch inkompletten Tetraplegie. Auf ein Gesuch hin nahm die IV-Stelle des Kantons Thurgau u.a. eine Abklärung für eine Hilflosenentschädigung für Volljährige der IV vor (Bericht vom 30. November 2007) und holte die Stellungnahmen des Schweizer Paraplegiker Zentrums, Nottwil, vom 17. Februar und 17. Dezember 2009 sowie des Dr. med. A.________, Arzt für Allg. Medizin FMH, vom 26. März und 10. August 2009 ein. Nach durchgeführtem Vorbescheidverfahren sprach sie dem Versicherten rückwirkend ab 1. November 2007 eine Entschädigung für eine Hilflosigkeit leichten Grades zu (Verfügung vom 12. Februar 2010). 
 
B. 
In Gutheissung der hiegegen eingereichten Beschwerde stellte das Verwaltungsgericht des Kantons Thurgau fest, dass K._________ ab 1. November 2007 Anspruch auf eine Hilflosentschädigung mittelschweren Grades hat (Entscheid vom 11. August 2010). 
 
C. 
Die IV-Stelle führt Beschwerde und beantragt, unter Aufhebung des vorinstanzlichen Entscheids sei die Verfügung vom 12. Februar 2010 zu bestätigen. 
 
K._________ lässt auf Abweisung der Beschwerde schliessen. Das Bundesamt für Sozialversicherungen verzichtet auf eine Vernehmlassung. 
 
Erwägungen: 
 
1. 
1.1 Die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann wegen Rechtsverletzung gemäss Art. 95 und 96 BGG erhoben werden. Das Bundesgericht wendet das Recht von Amtes wegen an (Art. 106 Abs. 1 BGG). Es ist folglich weder an die in der Beschwerde geltend gemachten Argumente noch an die Erwägungen der Vorinstanz gebunden; es kann eine Beschwerde aus einem anderen als dem angerufenen Grund gutheissen und es kann sie mit einer von der Argumentation der Vorinstanz abweichenden Begründung abweisen (BGE 134 V 250 E. 1.2 S. 252 mit Hinweisen; 133 III 545 E. 2.2 S. 550; 130 III 136 E. 1.4 S. 140). Immerhin prüft das Bundesgericht unter Berücksichtigung der allgmeinen Begründungspflicht der Beschwerde (Art. 42 Abs. 1 und 2 BGG) grundsätzlich nur die geltend gemachten Rügen, sofern die rechtlichen Mängel nicht geradezu offensichtlich sind (BGE 133 II 249 E. 1.4.1 S. 254). 
 
1.2 Das Bundesgericht legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG). Es kann deren Sachverhaltsfeststellung nur berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht und wenn die Behebung des Mangels für den Ausgang des Verfahrens entscheidend sein kann (Art. 97 Abs. 1 BGG in Verbindung mit Art. 105 Abs. 2 BGG). 
 
1.3 Rechtsfrage ist die richtige Auslegung und Anwendung des Rechtsbegriffs der Hilflosigkeit (Art. 9 ATSG; Art. 42 Abs. 2 IVG; Art. 37 IVV), die Beachtung des Untersuchungsgrundsatzes und der Beweiswürdigungsregeln nach Art. 43 Abs. 1 und Art. 61 lit. c ATSG sowie der Anforderungen an den Beweiswert von Abklärungsberichten an Ort und Stelle (Art. 69 Abs. 2 IVV; BGE 133 V 450 E. 11.1.1 S. 468). Die auf einen Abkärungsbericht gestützten Feststellungen über Einschränkungen in bestimmten Lebensverrichtungen sind - analog zu den medizinischen Auskünften über gesundheitliche Beeinträchtigungen bzw. über das noch vorhandene funktionelle Leistungsvermögen (BGE 132 V 393 E. 3.2 S. 398 f.) - Sachverhaltsfeststellungen. Die konkrete Beweiswürdigung betrifft eine Tatfrage (nicht publ. E. 1 des Urteils BGE 135 V 306; Urteil 8C_310/2009 vom 24. August 2009 E. 4.1). 
 
2. 
2.1 Es ist unbestritten, dass der Beschwerdegegner in den Lebensverrichtungen "Ankleiden, Auskleiden", "Verrichtung der Notdurft" und "Fortbewegung (im oder ausser Haus), Kontaktaufnahme" auf die Hilfe Dritter angewiesen ist. Streitig und zu prüfen ist einzig, ob dies auch für den Lebensbereich "Essen" gilt. 
 
2.2 Nach den verbindlichen Feststellungen der Vorinstanz vermag der Versicherte wegen der Kraftlosigkeit sowie der eingeschränkten Motorik der Hände feste Speisen wie Fleisch-, Brot- oder Pizzastücke ohne Dritthilfe nicht mundgerecht zu zerkleinern. Die Hilflosigkeit im Lebensbereich "Essen" sei daher zu bejahen. 
 
2.3 Die IV-Stelle rügt die Sachverhaltsfeststellung des kantonalen Gerichts nicht, macht aber Einwände geltend, welche die Rechtsfrage betreffen, ob der Begriff der Hilflosigkeit richtig ausgelegt und angewendet worden ist (vgl. E. 1.3). Sie bringt vor, das kantonale Gericht habe zu Unrecht berücksichtigt, der Beschwerdegegner benötige beim Öffnen von Flaschen, Konserven etc. Hilfe. Sodann stünden Brot und Fleisch nicht täglich auf dem Speiseplan, zum anderen sei zur Vermeidung einer Hilflosigkeit zumutbar, solche Lebensmittel geschnitten einzukaufen oder auf leichter zerkleinerbare Esswaren auszuweichen. Was die Argumentation der Vorinstanz anbelange, der Beschwerdeführer sei als Student der X.________ darauf angewiesen, das Mittagessen in der dortigen Mensa einzunehmen, wo er den Menüplan nicht zu beeinflussen vermöge, sei einzuwenden, dass die genannte Institution über mehrere Verpflegungsbetriebe verfüge, die jede Woche ankündigten, welche Gerichte täglich angeboten würden. Im Rahmen der Schadenminderungspflicht sei ihm daher zumutbar, jeweils vorgängig diejenigen Gerichte auszuwählen, die er ohne Dritthilfe mit Gabel und Messer einnehmen könne. Nicht zuletzt sei ihm zumutbar, am Vorabend etwas Geeignetes für den nächsten Tag einzukaufen und vorzubereiten, zumal er während der Woche in C.________ wohne. 
 
2.4 Die IV-Stelle übersieht, dass nach der immer noch richtungweisenden Rechtsprechung von BGE 106 V 153 E. 2b S. 158 ein Versicherter nicht generell einer Lebensverrichtung fähig gelten darf, wenn er sie nur auf eine nicht übliche Art und Weise ausführen kann. In jenem Fall wurde schwere Hilflosigkeit angenommen ungeachtet der Tatsache, dass die Versicherte allein essen konnte, indem sie die Speisen mit den Fingern zum Mund führte. So ist auch hier zu entscheiden. Der Beschwerdeführer kann nicht mit dem Besteck harte Speisen zerkleinern und er müsste, könnte er keine Dritthilfe beanspruchen, diese zum Mund führen und ein Stück herausbeissen, was klar nicht den gesellschaftlichen Gepflogenheiten entspricht und daher unüblich im Sinne der Rechtsprechung ist. Daran ändert der Hinweis auf die Schadenminderungspflicht nichts. Das Bundesamt für Sozialversicherungen hält in Übereinstimmung mit der Rechtsprechung in Ziffer 8018 des Kreisschreibens über Invalidität und Hilflosigkeit in der Invalidenversicherung (KSIH) fest, dass Hilflosigkeit vorliegt, wenn die versicherte Person ohne Hilfe Dritter keine normal zubereitete Nahrung zu sich nehmen kann. Dem Beschwerdeführer ist mithin entgegen der Auffassung der IV-Stelle nicht zuzumuten, ausschliesslich zerkleinerte Lebensmittel einzukaufen oder in der Mensa der X.________ nur Menüs auszuwählen, die er ohne Dritthilfe essen kann. Ob das Öffnen einer Getränkeflasche eine Teilfunktion der Lebensverrichtung "Essen" darstellt, kann offen bleiben. Praxisgemäss ist nicht verlangt, dass die versicherte Person bei allen Teilfunktionen einer Lebensverrichtung regelmässig in erheblicher Weise auf direkte oder indirekte Dritthilfe angewiesen ist (BGE 107 V 136 E. 1d S. 141). Insgesamt hat die Vorinstanz die Hilfsbedürftigkeit im Lebensbereich "Essen" zu Recht bejaht. 
 
2.5 Zusammenfassend ist festzuhalten, dass der Beschwerdeführer in vier alltäglichen Lebensverrichtungen regelmässig in erheblicher Weise auf die Hilfe Dritter angewiesen ist, weshalb er praxisgemäss (BGE 121 V 88 E. 3b S. 90) eine Entschädigung für mittelschwere Hilflosigkeit beanspruchen kann. 
 
3. 
Die IV-Stelle trägt die Gerichtskosten (Art. 66 Abs. 1 BGG) und hat dem Beschwerdegegner für das bundesgerichtliche Verfahren eine Parteientschädigung zu entrichten (Art. 66 Abs. 2 BGG). 
 
Demnach erkennt das Bundesgericht: 
 
1. 
Die Beschwerde wird abgewiesen. 
 
2. 
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden der Beschwerdeführerin auferlegt. 
 
3. 
Die Beschwerdeführerin hat den Beschwerdegegner für das bundesgerichtliche Verfahren mit Fr. 1'800.- zu entschädigen. 
 
4. 
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Thurgau und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt. 
 
Luzern, 28. Januar 2011 
 
Im Namen der I. sozialrechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
Der Präsident: Der Gerichtsschreiber: 
 
Ursprung Grunder