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Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
 
 
 
1B_649/2022  
 
 
Urteil vom 28. März 2023  
 
I. öffentlich-rechtliche Abteilung  
 
Besetzung 
Bundesrichter Müller, präsidierendes Mitglied, 
Bundesrichter Merz, Kölz, 
Gerichtsschreiber Schurtenberger. 
 
Verfahrensbeteiligte 
A.________, 
Beschwerdeführer, 
vertreten durch Rechtsanwalt Dr. Lucien W. Valloni, 
 
gegen  
 
Sandro Clausen, 
c/o Bezirksgericht Zürich, 
Badenerstrasse 90, Postfach, 8036 Zürich, 
Beschwerdegegner, 
 
Bezirksgericht Zürich, 4. Abteilung, Badenerstrasse 90, 8004 Zürich. 
 
Gegenstand 
Strafverfahren; Ausstand, 
 
Beschwerde gegen den Beschluss des Obergerichts des Kantons Zürich, III. Strafkammer, vom 21. November 2022 (UA220041-O/U/BEE>HEI). 
 
 
Sachverhalt:  
 
A.  
Das Bezirksgericht Zürich, 4. Abteilung, Einzelgericht, sprach A.________ mit Urteil vom 30. September 2021 der üblen Nachrede und der Beschimpfung schuldig und verurteilte ihn zu einer bedingten Geldstrafe sowie einer Busse. Gegen dieses Urteil erhob A.________ Berufung an das Obergericht des Kantons Zürich, wo das Berufungsverfahren bei der II. Strafkammer hängig ist. 
 
B.  
Am 10. September 2022 stellte A.________ bei der III. Strafkammer des Obergerichts ein Ausstandsbegehren gegen Ersatzbezirksrichter lic. iur. Sandro Clausen, der als Einzelrichter am erstinstanzlichen Urteil vom 30. September 2021 mitgewirkt hatte. Er beantragte, es sei festzustellen, dass bei Ersatzrichter Clausen ein Ausstandsgrund im Sinne von Art. 56 lit. f StPO vorgelegen habe, weshalb dieser hätte in den Ausstand treten sollen. Bei Bejahung des Ausstandsgrunds sei das Urteil vom 30. September 2021 im Sinne von Art. 60 StPO vollumfänglich aufzuheben. Ersatzrichter Clausen nahm mit Eingabe vom 30. September 2022 zum Ausstandsbegehren Stellung. Am 31. Oktober 2022 äusserte sich A.________. Mit Beschluss vom 21. November 2022 wies das Obergericht das Ausstandsgesuch ab. 
 
C.  
A.________ begehrt mit Beschwerde in Strafsachen an das Bundesgericht, der Beschluss des Obergerichts sei aufzuheben, sein Ausstandsgesuch gegen Ersatzrichter Clausen sei gutzuheissen und es sei festzustellen, dass ein Ausstandsgrund vorgelegen habe. Das Urteil des Bezirksgerichts vom 30. September 2021, an dem Ersatzrichter Clausen mitgewirkt habe, sei aufzuheben. Eventualiter sei die Sache zu neuer Entscheidung an die Vorinstanz zurückzuweisen. Die Vorinstanz sowie Ersatzrichter Clausen haben auf eine Vernehmlassung verzichtet, letzterer unter Verweis auf seine Stellungnahme vom 30. September 2022 und den angefochtenen Beschluss. 
 
 
Erwägungen:  
 
1.  
Der angefochtene Beschluss des Obergerichts schliesst das derzeit in zweiter Instanz hängige Strafverfahren gegen den Beschwerdeführer nicht ab. Es handelt sich um einen selbstständig eröffneten, kantonal letztinstanzlichen Zwischenentscheid über ein Ausstandsbegehren, gegen den die Beschwerde in Strafsachen nach Art. 92 Abs. 1 BGG offensteht. Der Beschwerdeführer ist als beschuldigte Person zur Beschwerde gegen die Abweisung des von ihm gestellten Ausstandsgesuchs berechtigt (siehe Art. 81 Abs. 1 lit. b Ziff. 1 BGG). 
 
2.  
 
2.1. Der Beschwerdeführer begründete das Ausstandsbegehren vor der Vorinstanz zusammengefasst damit, Ersatzrichter Clausen habe die anlässlich der Hauptverhandlung vom 23. September 2021 seitens des Privatklägers B.________ geäusserten haltlosen Behauptungen, der Beschwerdeführer habe Morddrohungen gegen ihn ausgesprochen und einen Auftragskiller auf ihn angesetzt, nicht den Strafverfolgungsbehörden gemeldet. Er (der Beschwerdeführer) habe aufgrund der Äusserungen des Privatklägers am 29. September 2021 Strafanzeige gegen diesen wegen falscher Anschuldigung, Irreführung der Rechtspflege und Verleumdung erstattet. Das daraufhin eröffnete Strafverfahren sei vor der Staatsanwaltschaft Zürich-Sihl hängig. Im Rahmen der am 1. September 2022 erstmals gewährten Akteneinsicht habe er festgestellt, dass Ersatzrichter Clausen das gravierende Verhalten des Privatklägers vor den Schranken einfach unbeachtet gelassen habe, obschon er von einem unzulässigen Beeinflussungsversuch auf die richterliche Entscheidfindung und allenfalls sogar von einer Irreführung der Rechtspflege sowie einer falschen Anschuldigung hätte ausgehen müssen, was eine entsprechende Meldung an die Strafverfolgungsbehörden des Kantons Zürich hätte zur Folge haben müssen. Der Anschein der Befangenheit bestehe, weil Ersatzrichter Clausen bei einer möglichen, weit gravierenderen Straftat des Privatklägers als derjenigen, welche dieser zur Anzeige gebracht habe, offenbar beide Augen verschlossen habe, ihn (den Beschwerdeführer) jedoch aufgrund der Anzeige des Privatklägers verurteilt habe.  
 
2.2. Nach Art. 30 Abs. 1 BV und Art. 6 Ziff. 1 EMRK hat jede Person, deren Sache in einem gerichtlichen Verfahren beurteilt werden muss, Anspruch darauf, dass ihre Streitsache von einem unbefangenen, unvoreingenommenen und unparteiischen Richter beurteilt wird. Es soll garantiert werden, dass keine sachfremden Umstände, die ausserhalb des Prozesses liegen, in sachwidriger Weise zugunsten oder zulasten einer Partei auf das gerichtliche Urteil einwirken. Art. 30 Abs. 1 BV soll zu der für einen korrekten und fairen Prozess erforderlichen Offenheit des Verfahrens im Einzelfall beitragen und damit ein gerechtes Urteil ermöglichen. Die Garantie wird verletzt, wenn bei objektiver Betrachtung Gegebenheiten vorliegen, die den Anschein der Befangenheit oder die Gefahr der Voreingenommenheit zu begründen vermögen (BGE 147 III 379 E. 2.3.1; 144 I 159 E. 4.3; je mit weiteren Hinweisen). Art. 56 StPO konkretisiert diesen Grundsatz für das Strafverfahren (BGE 138 I 425 E. 4.2.1).  
Fehlerhafte Verfügungen und Verfahrenshandlungen begründen für sich grundsätzlich keinen Anschein der Voreingenommenheit. Materielle oder prozessuale Rechtsfehler stellen einzig dann einen Ausstandsgrund gemäss Art. 56 lit. f StPO dar, wenn sie besonders krass sind oder wiederholt auftreten, sodass sie einer schweren Amtspflichtverletzung gleichkommen und sich einseitig zulasten einer der Prozessparteien auswirken; andernfalls begründen sie keinen hinreichenden Anschein der Befangenheit. Gegen beanstandete Verfahrenshandlungen sind primär die zur Verfügung stehenden Rechtsmittel auszuschöpfen (BGE 143 IV 69 E. 3.2; 141 IV 178 E. 3.2.3; 138 IV 142 E. 2.3). 
Gemäss Art. 58 Abs. 1 StPO hat die Partei, die den Ausstand einer in einer Strafbehörde tätigen Person verlangen will, der Verfahrensleitung ohne Verzug ein entsprechendes Gesuch zu stellen, sobald sie vom Ausstandsgrund Kenntnis hat; die den Ausstand begründenden Tatsachen sind glaubhaft zu machen. Wer den Mangel nicht unverzüglich vorbringt, wenn er davon Kenntnis erhält, sondern sich stillschweigend auf ein Verfahren einlässt, verwirkt nach ständiger bundesgerichtlicher Rechtsprechung den Anspruch auf spätere Anrufung der angeblich verletzten Ausstandsbestimmung (BGE 143 V 66 E. 4.3; 141 III 210 E. 5.2; 140 I 271 E. 8.4.3; je mit weiteren Hinweisen). 
 
2.3. Nach Art. 302 Abs. 1 StPO sind die Strafbehörden (Art. 12 ff. StPO) verpflichtet, alle Straftaten, die sie bei ihrer amtlichen Tätigkeit festgestellt haben oder die ihnen gemeldet worden sind, der zuständigen Behörde anzuzeigen, soweit sie für die Verfolgung nicht selber zuständig sind.  
Ersatzrichter Clausen räumte in seiner Stellungnahme vom 30. September 2022 ein, dass seitens des Einzelgerichts keine Anzeige erstattet worden sei, obwohl die im Verhandlungsprotokoll festgehaltenen Äusserungen des Privatklägers B.________ "an sich eine Anzeigepflicht ausgelöst hätten". Zur Erklärung, weshalb das Einzelgericht keine Strafanzeige erstattet hatte, führte er aus, dass die Staatsanwaltschaft Zürich-Sihl das Einzelgericht kurze Zeit nach der massgeblichen Hauptverhandlung aufgrund einer vom Beschwerdeführer in dieser Angelegenheit eingereichten Strafanzeige um Zustellung der Verfahrensakten ersucht habe. Vor diesem Hintergrund habe das Einzelgericht von einer eigenen Strafanzeige abgesehen. Der Vorwurf des Beschwerdeführers, es seien bezüglich einer möglichen Straftat des Privatklägers "beide Augen" verschlossen worden, treffe nicht zu. Das Einzelgericht habe die gegen den Beschwerdeführer zur Anklage gebrachten Vorwürfe unvoreingenommen, unabhängig und unparteiisch beurteilt. 
Die Vorinstanz geht zu Recht davon aus, dass das beanstandete Vorgehen des Einzelgerichts bei dieser Sachlage keine schwere Amtspflichtverletzung darstellt, die den Ausstand von Ersatzrichter Clausen rechtfertigen würde: 
Ob das Einzelgericht - wie der Beschwerdeführer anzunehmen scheint - bei grundsätzlich bestehender Anzeigepflicht tatsächlich verpflichtet gewesen wäre, die Strafanzeige unmittelbar nach der Hauptverhandlung zu erstatten, ist für den Ausgang des vorliegenden Verfahrens nicht entscheidend, da ein Zuwarten von einigen Tagen zumindest kein besonders krasses Fehlverhalten darstellt, aus dem auf eine fehlende Distanz oder Neutralität gegenüber den Parteien des Strafverfahrens geschlossen werden muss. Dem Beschwerdeführer kann auch nicht gefolgt werden, wenn er die Verzögerung dahingehend interpretiert, dass das Einzelgericht - unabhängig von der Strafanzeige des Beschwerdeführers - gar nie vorgehabt habe, Strafanzeige zu erstatten. Vielmehr kann dieses Vorgehen ohne Weiteres auf administrative Abläufe oder andere Ursachen zurückzuführen sein. Ausserdem geht der Beschwerdeführer selbst nicht davon aus, Ersatzrichter Clausen habe die gegen ihn an der Gerichtsverhandlung geäusserten Anschuldigungen geglaubt und den Privatkläger aus diesem Grund nicht angezeigt.  
Sodann erscheint auch zweifelhaft, ob das definitive Absehen von der Strafanzeige nach Kenntnisnahme von der Strafanzeige des Beschwerdeführers eine Pflichtverletzung darstellt, zumal dem Gericht bei der Frage, ob eine Strafanzeige zu erstatten ist, ein gewisses Ermessen zukommen muss (so die Vorinstanz zu Recht unter Hinweis auf BOSSHARD/LANDSHUT, in: Donatsch/Lieber/Summers/Wohlers [Hrsg.], Kommentar zur Schweizerischen Strafprozessordnung [StPO], 3. Aufl. 2020, N. 12 zu Art. 302 StPO). Die genaue Tragweite von Art. 302 Abs. 1 StPO bei möglicherweise strafbaren Äusserungen in einer Gerichtsverhandlung braucht jedoch an dieser Stelle - unter Ausstandsgesichtspunkten - nicht weiter erörtert zu werden. Die Vorinstanz hat die Frage, ob das Einzelgericht pflichtwidrig von einer Anzeige abgesehen hat, bundesrechtskonform offengelassen. 
Im Übrigen vermag auch der Vorwurf des Beschwerdeführers, das Einzelgericht habe sich im erstinstanzlichen Strafverfahren nicht hinreichend mit seinen Argumenten auseinandergesetzt, keinen Anschein der Parteilichkeit zu begründen. Die Vorinstanz verweist den Beschwerdeführer mit seiner appellatorischen Kritik am erstinstanzlichen Strafurteil richtigerweise auf das hängige Berufungsverfahren, ohne im Einzelnen darauf einzugehen. Die in diesem Zusammenhang erhobene Gehörsrüge (Art. 29 Abs. 2 BV) geht fehl. 
Die vom Beschwerdeführer ins Feld geführten Umstände vermögen insgesamt bei objektiver Betrachtung nicht den Anschein der Befangenheit oder die Gefahr der Voreingenommenheit von Ersatzrichter Clausen zu begründen. Die Vorinstanz hat das Ausstandsbegehren des Beschwerdeführers zu Recht abgewiesen. Dabei durfte sie offenlassen, ob der Beschwerdeführer das Ausstandsgesuch - neun Tage nach Kenntnisnahme des angeblichen Ausstandsgrunds - rechtzeitig im Sinne von Art. 58 Abs. 1 StPO gestellt hat. Die vom Beschwerdeführer gerügten Rechtsverletzungen liegen nicht vor. 
 
3.  
Die Beschwerde ist unbegründet und deshalb abzuweisen. Bei diesem Ausgang wird der Beschwerdeführer kostenpflichtig (Art. 66 Abs. 1 BGG). Eine Parteientschädigung ist nicht zuzusprechen (Art. 68 Abs. 3 BGG). 
 
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:  
 
1.  
Die Beschwerde wird abgewiesen. 
 
2.  
Die Gerichtskosten von Fr. 2'000.-- werden dem Beschwerdeführer auferlegt. 
 
3.  
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Bezirksgericht Zürich, 4. Abteilung, und dem Obergericht des Kantons Zürich, III. Strafkammer, schriftlich mitgeteilt. 
 
 
Lausanne, 28. März 2023 
 
Im Namen der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
 
Das präsidierende Mitglied: Müller 
 
Der Gerichtsschreiber: Schurtenberger