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Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
{T 0/2} 
9C_266/2008 
 
Urteil vom 28. August 2008 
II. sozialrechtliche Abteilung 
 
Besetzung 
Bundesrichter U. Meyer, Präsident, 
Bundesrichter Lustenberger, Seiler, 
Gerichtsschreiber Traub. 
 
Parteien 
IV-Stelle des Kantons St. Gallen, 9016 St. Gallen, 
Beschwerdeführerin, 
 
gegen 
 
J.________, 
Beschwerdegegner, vertreten durch Rechtsanwalt Paul Rechsteiner, Oberer Graben 44, 9000 St. Gallen. 
 
Gegenstand 
Invalidenversicherung, 
 
Beschwerde gegen den Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons St. Gallen 
vom 19. März 2008. 
 
Sachverhalt: 
 
A. 
Die IV-Stelle des Kantons St. Gallen lehnte das Gesuch des J.________ (geb. 1954), von Beruf Medizinischer Masseur mit Fähigkeitsausweis, um Ausrichtung einer Invalidenrente mit Verfügung vom 26. April 2006 ab, wobei sie von einem (in Anwendung der gemischten Methode der Invaliditätsbemessung ermittelten) Invaliditätsgrad von 26 Prozent ausging. Die dagegen erhobene Einsprache wies die Verwaltung - unter Annahme eines Invaliditätsgrades von nunmehr 21 Prozent - ab (Entscheid vom 25. Oktober 2006). 
 
B. 
Das Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen hiess die gegen den Einspracheentscheid erhobene Beschwerde teilweise gut und stellte fest, J.________ habe (bei einem Invaliditätsgrad von 41 Prozent) Anspruch auf eine Viertelsrente. Das kantonale Gericht wies die Sache zur Festlegung von Rentenbeginn und -höhe an die Verwaltung zurück (Entscheid vom 19. März 2008). 
 
C. 
Die IV-Stelle führt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten mit dem Rechtsbegehren, der kantonale Beschwerdeentscheid sei aufzuheben. 
 
J.________ und das kantonale Gericht beantragen Abweisung der Beschwerde. Das Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV) schliesst auf deren Gutheissung. 
 
Erwägungen: 
 
1. 
1.1 Das kantonale Gericht hat den grundsätzlichen Anspruch des Beschwerdegegners auf eine Viertelsrente festgestellt und die Sache zur Festlegung von Rentenbeginn und -höhe an die IV-Stelle zurückgewiesen. Der angefochtene Entscheid ist als verfahrensabschliessend zu qualifizieren. Da diese "Rückweisung" nur noch der Umsetzung des oberinstanzlich Angeordneten dient und der unteren Instanz somit kein Entscheidungsspielraum mehr verbleibt, handelt es sich materiell nicht - wie bei Rückweisungsentscheiden sonst grundsätzlich der Fall - um einen Zwischenentscheid, der bloss unter den Voraussetzungen der Art. 92 oder 93 BGG beim Bundesgericht anfechtbar wäre, sondern um einen Endentscheid im Sinne von Art. 90 BGG (SVR 2008 IV Nr. 39 S. 131 [9C_684/2007]). 
 
1.2 Letztinstanzlich streitig ist allein noch die Frage, wie das Valideneinkommen zu bemessen sei. Das kantonale Gericht hat die zur Beurteilung des Leistungsanspruchs einschlägigen Rechtsgrundlagen zutreffend dargelegt. Darauf wird verwiesen. 
 
1.3 Das Bundesgericht legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG) und kann deren Sachverhaltsfeststellung von Amtes wegen nur berichtigen und ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht (Art. 105 Abs. 2 BGG). Die gesetzlichen und aus der Rechtsprechung hervorgegangenen Regeln über die Durchführung des Einkommensvergleichs, so betreffend die Anwendbarkeit von statistisch ermittelten Lohnansätzen und die Bezeichnung der massgeblichen Tabelle, entsprechen Rechtsfragen. Die Feststellung der hypothetischen Vergleichseinkommen, namentlich der Umgang mit den Zahlen gemäss Schweizerischer Lohnstrukturerhebung (LSE) des Bundesamtes für Statistik, stellt sich als Tatfrage dar, soweit sie auf konkreter Beweiswürdigung beruht (vgl. BGE 132 V 393 E. 3.3 S. 399). 
 
2. 
Das kantonale Gericht hat mit Bezug auf die Feststellung des Valideneinkommens aus dem Beruf eines Medizinischen Masseurs erkannt, dieses sei anhand der konkreten Verhältnisse nicht zuverlässig ermittelbar. Im Einspracheverfahren sei das gemäss Auszug aus dem Individuellen Konto (IK) im Jahr 1995 während neun Monaten erzielte Einkommen auf ein Jahr hochgerechnet worden. Dabei handle es sich nicht um eine repräsentative Grundlage. Somit müssten Tabellenlöhne der LSE beigezogen werden. Das entsprechende Jahreseinkommen betrage bezogen auf 2004 Fr. 74'618.- (Gesundheits- und Sozialwesen, Anforderungsniveau 3 [Berufs- und Fachkenntnisse vorausgesetzt], aufgerechnet auf eine durchschnittliche betriebliche Arbeitszeit von 41,6 Wochenstunden). Der so gewonnene Wert erscheine plausibel, zumal der Versicherte über eine Anerkennung des Schweizerischen Roten Kreuzes als Medizinischer Masseur sowie über langjährige Berufserfahrung verfüge. 
 
Die beschwerdeführende IV-Stelle wendet unter Berufung auf ein Gutachten des Regionalen Ärztlichen Dienstes (RAD) der Invalidenversicherung vom 29. März 2006 ein, der Beschwerdegegner sei bis 1999 in der Lage gewesen, in seiner erlernten Tätigkeit als Medizinischer Masseur im Angestelltenverhältnis ohne Einschränkungen zu arbeiten. Danach habe der Versicherte angesichts der Auswirkungen der posttraumatischen Kniearthrose keine Möglichkeit mehr gesehen, die unselbständige Erwerbstätigkeit fortzuführen, und eine selbständige Arbeit aufgenommen. Die Einkommenszahlen aus den Jahren 1994 bis 1998 ergäben (ohne 1996) einen Durchschnitt von Fr. 40'995.-. Das Valideneinkommen betrage somit höchstens Fr. 45'000.-. Es sei wenig wahrscheinlich, dass der Beschwerdegegner als Gesunder im Jahr 2004 das vom kantonalen Gericht unterstellte, fast doppelt so hohe Valideneinkommen erzielen konnte. 
 
3. 
3.1 Für die Bemessung des Valideneinkommens ist entscheidend, was die versicherte Person im massgebenden Zeitpunkt des Rentenbeginns (vgl. BGE 129 V 222 mit Hinweis) nach dem Beweisgrad der überwiegenden Wahrscheinlichkeit als Gesunde tatsächlich verdienen würde und nicht, was sie bestenfalls verdienen könnte. Die Ermittlung des Valideneinkommens muss so konkret wie möglich erfolgen. Da die bisherige Tätigkeit ohne Gesundheitsschaden erfahrungsgemäss fortgesetzt worden wäre, ist in der Regel vom letzten Lohn auszugehen, der vor Eintritt der Gesundheitsschädigung erzielt wurde. Dieses Gehalt ist wenn nötig der Teuerung und der realen Einkommensentwicklung anzupassen (SVR 2008 IV Nr. 35 S. 118 E. 3.2.2 [I 822/06]). 
 
3.2 Abweichend vom Grundsatz, dass das - so konkret wie möglich zu ermittelnde - Valideneinkommen auf einem vor Eintritt des Gesundheitsschadens tatsächlich erzielten Erwerb fussen soll, kann im Wesentlichen in zwei Konstellationen auf sogenannte Tabellenlöhne (im Regelfall gemäss LSE) zurückgegriffen werden: 
3.2.1 Nach der Rechtsprechung sind invaliditätsfremde Gesichtspunkte (z.B. geringe Schulbildung, fehlende berufliche Ausbildung, mangelnde Sprachkenntnisse, beschränkte Anstellungsmöglichkeiten wegen Saisonnierstatus) im Rahmen des Einkommensvergleichs gemäss Art. 16 ATSG entweder gar nicht oder dann aber bei beiden Vergleichsgrössen gleichmässig zu berücksichtigen (BGE 129 V 222 E. 4.4 S. 225 mit Hinweisen). Wird in einem solchen Fall beim Invalideneinkommen die der verbliebenen Leistungsfähigkeit entsprechende übliche Entlohnung herangezogen, so darf das Valideneinkommen nicht nach dem vor Eintritt der Invalidität effektiv erzielten Lohn ermittelt werden, wenn dieser in erheblichem Ausmass (SVR 2008 IV Nr. 2 S. 5 E. 5.4 [I 697/05]; Urteil 9C_404/2007 vom 11. April 2008, E. 2.3) von einkommensmindernden Faktoren beeinflusst war (SVR 2007 IV Nr. 1 S. 4 E. 5.5 [I 750/04]). Entsprechende Überlegungen gelten auch im Hinblick auf die Bezeichnung der zutreffenden Tabelle (branchenspezifisch oder gesamtarbeitsmarktbezogen: SVR 2008 IV Nr. 35 S. 118 f. E. 3.2.1 und 3.2.3 [I 822/06]). Wenn allerdings aufgrund der Umstände des Einzelfalls anzunehmen ist, der Versicherte hätte sich ohne gesundheitliche Beeinträchtigung voraussichtlich dauernd aus freien Stücken mit einer bescheidenen Erwerbstätigkeit begnügt, so ist darauf abzustellen (BGE 8C_255/2007 vom 12. Juni 2008, E. 4.1; BGE 125 V 146 E. 5c/bb S. 157). 
3.2.2 Fehlen aussagekräftige konkrete Anhaltspunkte im Hinblick auf den letzten vor Eintritt der Gesundheitsschädigung erzielten Lohn, ist auf Erfahrungs- und Durchschnittswerte zurückzugreifen. In den Durchschnittswerten der LSE schlägt sich nieder, was eine Person mit gleichen beruflichen Voraussetzungen wie der Versicherte verdienen könnte. Auf sie darf jedoch im Rahmen der Invaliditätsbemessung nur unter Mitberücksichtigung der für die Entlöhnung im Einzelfall relevanten persönlichen und beruflichen Faktoren abgestellt werden (Urteil 8C_664/2007 vom 14. April 2008, E. 6.2 mit Hinweisen; AHI 1999 S. 240 f. [I 377/98]). 
3.3 
3.3.1 Es ist nicht erkennbar, inwiefern invaliditätsfremde Gesichtspunkte für die tiefen, kaum existenzsichernden Einkommen vor Eintritt der Gesundheitsschädigung hätten verantwortlich sein sollen. Das BSV geht in seiner Stellungnahme zur Beschwerde zu Recht davon aus, namentlich der ausländerrechtliche Status habe keine massgebende Bedeutung für die tiefen Einkommen. 
3.3.2 Hingegen ergeben sich aus dem früheren Lohnverlauf keine tragfähigen konkreten Anhaltspunkte für den im Zeitpunkt des Einkommensvergleichs zu gewärtigenden Validenlohn. Der beschwerdeführenden IV-Stelle ist nicht zuzustimmen, soweit sie davon ausgeht, der Gesundheitsschaden habe vor 1999 keine erwerblichen Einschränkungen gezeitigt. Der Beschwerdegegner erlitt in den 70-er Jahren einen Autounfall, bei welchem er sich unter anderem Verletzungen des linken Knies zuzog. Als mittelbare Unfallfolge trat später eine schwere Schädigung eines Oberschenkelmuskels (Quadrizeps) hinzu. Mit der Zeit entwickelte sich eine ausgeprägte Arthrose des linken Knies und eine mittelschwere Arthrose des linken Hüftgelenks. Eine durch Schmerzen und Einschränkungen der Beweglichkeit bedingte Arbeitsunfähigkeit "von 20 Prozent und mehr" besteht nach spezialärztlicher Einschätzung seit dem Unfall von 1976 (Gutachten des Orthopäden Dr. B.________ vom 20. Dezember 2005). Die medizinische Abklärungsstelle der Invalidenversicherung verwies auf den Umstand, dass seitens der zuständigen Behörde in Deutschland seit 1979 ein Behinderungsgrad von 30 Prozent anerkannt sei, und hielt fest, der Versicherte habe "bis 1999 in seiner angestammten Tätigkeit als medizinischer Masseur im Angestelltenverhältnis beruflich erfolgreich arbeiten" können. "Zu diesem Zeitpunkt entwickelte sich die posttraumatische Gonarthrose dermassen, dass der Versicherte in einer angestellten Tätigkeit keine berufliche Chance mehr sah. Eine gut dotierte Führungsposition musste ausgeschlagen werden. Er machte sich selbstständig und konnte bis Sommer 2003 seine angestammte Tätigkeit mit allerdings zunehmenden gesundheitlichen Problemen ausüben. Seit Juli 2003 nutzt der Versicherte seine Restarbeitsfähigkeit als Hausmann. Ohne Gesundheitsschaden würde er heute in einem Pensum von 100 % aushäusig erwerbstätig sein wollen" (Gutachten des RAD vom 29. März 2006). 
 
3.4 Bei dieser Aktenlage ist die - zwar nicht im angefochtenen Entscheid selber, aber in der einschlägig begründeten Vernehmlassung zum Ausdruck kommende - tatbeständliche Feststellung der Vorinstanz jedenfalls nicht offensichtlich unrichtig, die gesundheitsbedingten Einschränkungen hätten die erwerblichen Verhältnisse bereits vor Aufnahme der selbständigen Tätigkeit im Jahr 1999 beeinflusst, weshalb die entsprechenden Daten nicht als Grundlage für die Bemessung des Valideneinkommens taugten. Entgegen dem Verständnis der Beschwerdeführerin ist die Stellungnahme der medizinischen Abklärungsstelle nicht so aufzufassen, dass vor 1999 aufgrund der Spätfolgen des Unfalls keine Beeinträchtigung bestand; die Ausführungen zeigen vielmehr, dass die fortschreitende Arthrose damals ein Ausmass erreicht hatte, welches die Tätigkeit im Angestelltenverhältnis nicht mehr zuliess. Angesichts der medizinischen Anamnese liegt es auf der Hand, dass die auffällig häufigen Stellenwechsel, die teilweise nur unterjährige Tätigkeit und die weit unterdurchschnittlichen Lohnansätze nicht frei gewählt oder arbeitsmarktlichen Gründen zuzuschreiben waren. Andere als die aktenmässig ausgewiesenen 
gesundheitlichen Gründe für die ungewöhnliche Erwerbssituation über längere Dauer hinweg sind nicht ersichtlich. 
 
3.5 Auch die anschliessende Rechtsfrage, ob bei dieser Sachlage der Rückgriff auf statistische Werte angezeigt sei, hat das kantonale Gericht richtig beantwortet. Unter dem Blickwinkel der eingeschränkten Sachverhaltsüberprüfung (Art. 105 Abs. 2 BGG) sowie der freien Rechtskontrolle (Art. 95 und Art. 106 Abs. 1 BGG) ist nicht zu beanstanden, dass das kantonale Gericht das Valideneinkommen auf der Grundlage eines Tabellenlohns bemessen hat. Schliesslich besteht keine offensichtliche Unrichtigkeit der vorinstanzlich unter dieser Prämisse erhobenen statistischen Werte (vgl. oben E. 1.3 und E. 2). 
 
4. 
Andere Parameter der Invaliditätsbemessung liegen nicht im Streit (zum Rügeprinzip: BGE 119 V 347 E. 1a S. 349 mit Hinweis). Es bleibt somit bei einem Invaliditätsgrad, aufgrund dessen der Beschwerdegegner grundsätzlich Anspruch auf eine Viertelsrente der Invalidenversicherung hat. 
 
Demnach erkennt das Bundesgericht: 
 
1. 
Die Beschwerde wird abgewiesen. 
 
2. 
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden der Beschwerdeführerin auferlegt. 
 
3. 
Die Beschwerdeführerin hat den Beschwerdegegner für das bundesgerichtliche Verfahren mit Fr. 1500.- zu entschädigen. 
 
4. 
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt. 
 
Luzern, 28. August 2008 
 
Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
Der Präsident: Der Gerichtsschreiber: 
 
Meyer Traub