Wichtiger Hinweis:
Diese Website wird in älteren Versionen von Netscape ohne graphische Elemente dargestellt. Die Funktionalität der Website ist aber trotzdem gewährleistet. Wenn Sie diese Website regelmässig benutzen, empfehlen wir Ihnen, auf Ihrem Computer einen aktuellen Browser zu installieren.
 
 
Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
                 
 
 
9C_266/2017  
 
 
Urteil vom 29. Mai 2018  
 
II. sozialrechtliche Abteilung  
 
Besetzung 
Bundesrichterin Pfiffner, Präsidentin, 
Bundesrichter Meyer, Parrino, 
Gerichtsschreiberin Huber. 
 
Verfahrensbeteiligte 
IV-Stelle des Kantons St. Gallen, 
Brauerstrasse 54, 9016 St. Gallen, 
Beschwerdeführerin, 
 
gegen  
 
A.________, 
vertreten durch Rechtsanwältin Bettina Surber, 
Beschwerdegegner. 
 
Gegenstand 
Invalidenversicherung, 
 
Beschwerde gegen den Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons St. Gallen 
vom 9. März 2017 (IV 2014/574). 
 
 
Sachverhalt:  
 
A.   
Der 1956 geborene A.________ meldete sich am 17. April 2013 bei der Invalidenversicherung zum Leistungsbezug an. Die IV-Stelle des Kantons St. Gallen liess den Versicherten bidisziplinär begutachten (Expertise vom 23. August 2014). Am 12. November 2014 wies die Verwaltung das Leistungsbegehren nach durchgeführtem Vorbescheidverfahren ab. 
 
B.   
Die von A.________ dagegen erhobene Beschwerde hiess das Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen mit Entscheid vom 9. März 2017 gut. Es hob die Verfügung vom 12. November 2014 auf und stellte fest, A.________ habe mit Wirkung ab dem 1. Dezember 2013 einen Anspruch auf eine Viertelsrente der Invalidenversicherung. 
 
C.   
Die IV-Stelle des Kantons St. Gallen führt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten. Sie beantragt die Aufhebung des vorinstanzlichen Entscheids und die Bestätigung der Verfügung vom 12. November 2014. 
Die Vorinstanz und A.________ schliessen auf Abweisung der Beschwerde. Der Versicherte ersucht ausserdem um unentgeltliche Rechtspflege. Das Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV) verzichtet auf eine Stellungnahme. 
 
 
Erwägungen:  
 
1.   
Mit der Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann u.a. die Verletzung von Bundesrecht gerügt werden (Art. 95 lit. a BGG). Die Feststellung des Sachverhalts kann nur gerügt werden, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Artikel 95 beruht und wenn die Behebung des Mangels für den Ausgang des Verfahrens entscheidend sein kann (Art. 97 Abs. 1 BGG). Das Bundesgericht legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG). Es kann die Sachverhaltsfeststellung der Vorinstanz von Amtes wegen berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Artikel 95 beruht (Art. 105 Abs. 2 BGG). 
 
2.  
 
2.1. Das kantonale Gericht stellte fest, der Beschwerdegegner könne nur noch leidensadaptierte Hilfsarbeiten verrichten. Dabei stützte es sich auf das bidisziplinäre Gutachten der Dres. med. B.________, Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie FMH, und C.________, Facharzt für Orthopädische Chirurgie und Traumatologie des Bewegungsapparates FMH, vom 23. August 2014. Aufgrund der verminderten Belastbarkeit des Achsenskelettes seien dem Versicherten laut Gutachter keine Arbeiten mehr zumutbar, welche das Heben und Tragen von Lasten über 5 kg und Zwangspositionen der Wirbelsäule enthielten. Einer einfachen und routinemässigen Tätigkeit könne er ganztägig mit einer Leistungseinschränkung von 20 % (langsameres Arbeiten, schnellere Ermüdbarkeit, vermehrte und betriebsunübliche Pausen) nachgehen.  
 
2.2. Die Vorinstanz ermittelte durch einen Einkommensvergleich (Art. 16 ATSG und Art. 28a Abs. 1 IVG) bei einem Valideneinkommen von Fr. 77'201.- und einem Invalideneinkommen von Fr. 44'586.- einen Invaliditätsgrad von 42 %. Streitig und zu prüfen ist die Höhe der Vergleichseinkommen und die daraus resultierende Bemessung des Invaliditätsgrades.  
 
3.  
 
3.1. Wird das Invalideneinkommen auf der Grundlage von statistischen Durchschnittswerten ermittelt, ist der entsprechende Ausgangswert (Tabellenlohn) allenfalls zu kürzen. Damit soll der Tatsache Rechnung getragen werden, dass persönliche und berufliche Merkmale, wie Art und Ausmass der Behinderung, Lebensalter, Dienstjahre, Nationalität oder Aufenthaltskategorie und Beschäftigungsgrad Auswirkungen auf die Lohnhöhe haben können. Aufgrund dieser Faktoren kann die versicherte Person die verbliebene Arbeitsfähigkeit auch auf einem ausgeglichenen Arbeitsmarkt möglicherweise nur mit unterdurchschnittlichem erwerblichem Erfolg verwerten (BGE 126 V 75 E. 5b/aa S. 79 f.). Der Abzug soll aber nicht automatisch erfolgen. Er ist unter Würdigung der Umstände im Einzelfall nach pflichtgemässem Ermessen gesamthaft zu schätzen und darf 25 % nicht übersteigen (BGE 134 V 322 E. 5.2 S. 327 f.; 126 V 75 E. 5b/bb-cc S. 80).  
 
3.2. Ob ein leidensbedingter Abzug vom Tabellenlohn vorzunehmen ist, stellt eine vom Bundesgericht frei überprüfbare Rechtsfrage dar. Dagegen ist die Höhe des (im konkreten Fall grundsätzlich angezeigten) Abzugs eine Ermessensfrage und somit letztinstanzlich nur bei Ermessensüberschreitung, -missbrauch oder -unterschreitung korrigierbar (BGE 137 V 71 E. 5.1 S. 72 f.; Urteil 9C_421/2017 vom 19. September 2017 E. 2.1.2).  
 
3.3. Das kantonale Gericht nahm bei der Bemessung des Invalideneinkommens auf der Grundlage der vom Bundesamt für Statistik herausgegebenen Schweizerischen Lohnstrukturerhebung (LSE) 2010 - unter Berücksichtigung der Nominallohnentwicklung von 2010 bis 2011 und der betriebsüblichen Arbeitszeit von 41,7 Stunden pro Woche - einen Abzug vom Tabellenlohn von 10 % vor und ermittelte einen Betrag von Fr. 44'586.-. Den Tabellenlohnabzug begründete die Vorinstanz damit, dass der Beschwerdegegner unter kognitiven Defiziten leide und er deshalb im Betrieb nicht flexibel eingesetzt werden könne. Mit Blick auf die Arbeitszeit fehle es dem Versicherten ebenfalls an Flexibilität, da er nicht in der Lage sei, seine Leistung vorübergehend zu erhöhen und Überstunden zu leisten. Ausserdem drohe die Gefahr überdurchschnittlicher Krankheitsabsenzen. Im Weiteren weise der Versicherte klare Lohnnachteile aus, die nicht durch eine besondere Qualifikation oder durch eine überdurchschnittliche Leistungsfähigkeit ausgeglichen werden könnten. Es sei offensichtlich, dass er die ihm verbliebene Arbeitskraft nicht zu einem "Preis" verkaufen könne, der dem Zentralwert entspreche, welcher also höher sei als der "Preis", den 50 % seiner gesunden mit einem Pensum von 80 % tätigen Konkurrenten für einen Hilfsarbeitsplatz erzielen würden. Dem müsse mit einem Abzug vom Zentralwert Rechnung getragen werden.  
 
3.4.  
 
3.4.1. Soweit die Vorinstanz einen Tabellenlohnabzug mit vorhandenen kognitiven Defiziten begründete, kann ihr nicht gefolgt werden. Dabei handelt es sich um Einschränkungen, welche bereits beim Anforderungs- und Belastungsprofil berücksichtigt worden sind, weshalb diese nicht nochmals - als abzugsrelevant - herangezogen werden dürfen (Urteil 9C_264/2016 vom 7. Juli 2016 E. 5.2.2 mit Hinweisen).  
 
3.4.2. Mit Bezug auf den leidensbedingten Abzug ist zu beachten, dass das medizinische Anforderungs- und Belastungsprofil eine zum zeitlich zumutbaren Arbeitspensum tretende qualitative oder quantitative Einschränkung der Arbeitsfähigkeit darstellt, wodurch in erster Linie das Spektrum der erwerblichen Tätigkeiten (weiter) eingegrenzt wird, welche unter Berücksichtigung der Fähigkeiten, Ausbildung und Berufserfahrung der versicherten Person realistischerweise noch in Frage kommen. Davon zu unterscheiden ist die Gegenstand des Abzugs vom Tabellenlohn bildende Frage, ob mit Bezug auf eine konkret in Betracht fallende Tätigkeit bei ausgeglichener Arbeitsmarktlage verglichen mit einem gesunden Mitbewerber nur bei Inkaufnahme einer Lohneinbusse reale Chancen für eine Anstellung bestehen. Ist von einem genügend breiten Spektrum an zumutbaren Verweisungstätigkeiten auszugehen, können unter dem Titel leidensbedingter Abzug grundsätzlich nur Umstände berücksichtigt werden, die auch auf einem ausgeglichenen Arbeitsmarkt als ausserordentlich zu bezeichnen sind (Urteil 9C_826/2015 vom 13. April 2016 E. 3.2.1).  
Dementsprechend kann nach der Gerichtspraxis in der Regel eine psychisch bedingte verstärkte Rücksichtnahme seitens Vorgesetzter und Arbeitskollegen nicht als eigenständiger Abzugsgrund anerkannt werden (Urteil 9C_366/2015 vom 22. September 2015 E. 4.3.1, in: SZS 2015 S. 561 mit Hinweisen), ebenso wenig das Risiko von vermehrten gesundheitlichen Absenzen oder weniger Flexibilität, was das Leisten von Überstunden etwa bei Verhinderung eines Mitarbeiters anbetrifft (Urteile 8C_146/2017 vom 7. Juli 2017 E. 5.2.2; 9C_708/2009 vom 19. November 2009 E. 2.3.2, in: SVR 2010 IV Nr. 28 S. 87; 9C_437/2015 vom 30. November 2015 E. 2.4 und 8C_712/2012 vom 30. November 2012 E. 4.2.1). Aus dem Gutachten vom 23. August 2014 geht denn auch nicht hervor, dass eine besondere Rücksichtnahme seitens des Arbeitgebers oder der Arbeitskollegen geboten wäre. Ebenfalls ergeben sich auch keine Anhaltspunkte für ein erhöhtes Krankheitsrisiko, das zu vermehrten und nicht kalkulierbaren Abwesenheiten vom Arbeitsplatz führen würde. 
 
3.4.3. Nach dem Gesagten vermögen die vom kantonalen Gericht herangezogenen Argumente keinen Abzug vom Tabellenlohn zu begründen. Einen über die in BGE 126 V 75 E. 5a/cc S. 78 f. genannten Kriterien hinausgehenden grundsätzlichen Abzug vom Tabellenlohn zu gewähren, rechtfertigt sich nicht mit der Begründung der Vorinstanz, der Versicherte könne mit seinen Einschränkungen den Zentralwert nicht erreichen. Es ist nachvollziehbar, dass die versicherten Personen aufgrund ihres medizinischen Zumutbarkeitsprofils nicht mehr alle Tätigkeiten innerhalb eines Anforderungsniveaus (neu: Kompetenzniveau) ausüben können und die Möglichkeit besteht, dass diese den Zentralwert nicht erreichen. Dies führt jedoch nicht zu einem grundsätzlich vorzunehmenden leidensbedingten Tabellenlohnabzug. Denn jeder Anwendung statistischer Werte ist die Abstrahierung, d.h. die Ausblendung der konkreten Gegebenheiten des Einzelfalles, immanent (BGE 142 V 178 E. 2.5.7 S. 188; Urteil 9C_200/2017 vom 14. November 2017 E. 4.3.2).  
 
3.4.4. Der Beschwerdegegner nennt in seiner Vernehmlassung sein fortgeschrittenes Alter als weiteren Grund, der einen Abzug vom Tabellenlohn rechtfertigen würde. Hierfür kann auf die Rechtsprechung verwiesen werden, gemäss welcher Hilfsarbeiten auf dem massgeblichen hypothetischen Arbeitsmarkt (Art. 16 ATSG) grundsätzlich altersunabhängig nachgefragt werden (Urteil 9C_200/2017 vom 14. November 2017 E. 4.5 mit Hinweisen). Ebenfalls nicht abzugsrelevant sind die von ihm angeführten sprachlichen Schwierigkeiten, da Hilfsarbeitertätigkeiten keine guten Kenntnisse der deutschen Sprache erfordern (Urteile 9C_777/2015 vom 12. Mai 2016 E. 5.3; 9C_426/2014 vom 18. August 2014 E. 4.2).  
 
3.5. Aus den dargelegten Gründen verletzt der von der Vorinstanz gewährte Abzug vom Tabellenlohn Bundesrecht.  
 
3.6. Wird der von der Vorinstanz ohne Abzug festgestellte Tabellenlohn mit einer Leistungseinschränkung von 20 % übernommen, ergibt sich ein Invalideneinkommen von Fr. 49'540.- (Fr. 61'925.- x 0,8). Weiterungen zum Valideneinkommen erübrigen sich. Denn selbst wenn das vom kantonalen Gericht ermittelte Valideneinkommen, welches gemäss Beschwerdeführerin zu hoch angesetzt sein soll, herangezogen wird, ergibt der Einkommensvergleich einen rentenausschliessenden Invaliditätsgrad von 36 % (Valideneinkommen: Fr. 77'201.- [vgl. E. 2.2]; Invalideneinkommen: Fr. 49'540.-). Die Vorinstanz sprach dem Versicherten folglich zu Unrecht ab 1. Dezember 2013 eine Viertelsrente zu. Die Beschwerde ist begründet.  
 
4.  
 
4.1. Mit Verfügung vom 15. März 2018 forderte das Bundesgericht den Beschwerdegegner auf, den Erhebungsbogen für die unentgeltliche Rechtspflege sorgfältig auszufüllen und zusammen mit der Bestätigung der Steuerbehörde der Wohnsitzgemeinde bis zum 30. April 2018 einzureichen. Damit verbunden war der Hinweis, dass bei unbenütztem Fristablauf das Gericht aufgrund der Akten entscheiden werde. Nach zweimaliger Fristerstreckung reichte der Versicherte die einverlangten Unterlagen nicht ein. Aufgrund der vorliegenden Akten ist eine Bedürftigkeit nicht ausgewiesen, weshalb das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege abgewiesen wird.  
 
4.2. Dem Verfahrensausgang entsprechend sind die Gerichtskosten dem unterliegenden Beschwerdegegner aufzuerlegen (Art. 66 Abs. 1 Satz 1 BGG).  
 
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:  
 
1.   
Die Beschwerde wird gutgeheissen. Der Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons St. Gallen vom 9. März 2017 wird aufgehoben und die Verfügung der IV-Stelle St. Gallen vom 12. November 2014 bestätigt. 
 
2.   
Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege wird abgewiesen. 
 
3.   
Die Gerichtskosten von Fr. 800.- werden dem Beschwerdegegner auferlegt. 
 
4.   
Die Sache wird zur Neuverlegung der Kosten und der Parteientschädigung des vorangegangenen Verfahrens an das Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen zurückgewiesen. 
 
5.   
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt. 
 
 
Luzern, 29. Mai 2018 
Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
 
Die Präsidentin: Pfiffner 
 
Die Gerichtsschreiberin: Huber