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Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
                 
 
 
9C_598/2018  
 
 
Urteil vom 29. November 2018  
 
II. sozialrechtliche Abteilung  
 
Besetzung 
Bundesrichterin Pfiffner, Präsidentin, 
Bundesrichterinnen Glanzmann, Moser-Szeless, 
Gerichtsschreiberin Stanger. 
 
Verfahrensbeteiligte 
A.________, 
vertreten durch Advokat Dr. Yves Waldmann, 
Beschwerdeführerin, 
 
gegen  
 
IV-Stelle Basel-Landschaft, Hauptstrasse 109, 4102 Binningen, 
Beschwerdegegnerin. 
 
Gegenstand 
Invalidenversicherung, 
 
Beschwerde gegen den Entscheid des Kantonsgerichts Basel-Landschaft, Abteilung Sozialversicherungsrecht, vom 19. April 2018 (720 17 404 / 100). 
 
 
Sachverhalt:  
 
A.  
 
A.a. Die 1965 geborene A.________ meldete sich im Juni 2003 bei der Invalidenversicherung zum Leistungsbezug an. Mit Verfügung vom 16. März 2005 sprach die IV-Stelle Basel-Landschaft ihr eine halbe Rente zu (bestätigt mit Entscheid des Kantonsgerichts Basel-Landschaft vom 14. März 2007). Weiter sprach die IV-Stelle ihr mit Verfügung vom 16. Mai 2008 rückwirkend ab September 2006 eine Hilflosenentschädigung leichten Grades zu.  
 
A.b. Nachdem die Versicherte im Juni 2009 eine Verschlechterung ihres Gesundheitszustandes geltend machte, traf die IV-Stelle verschiedene Abklärungen; insbesondere veranlasste sie eine polydisziplinäre Begutachtung beim ABI, Ärztliches Begutachtungsinstitut, Basel (Expertise vom 9. Juni 2011; Fachrichtungen: Innere Medizin/ Allgemeinmedizin, Psychiatrie und Rheumatologie). Mit Verfügung vom 6. Februar 2012 hob sie die laufende halbe Rente auf (Invaliditätsgrad von 31 %; bestätigt mit Entscheid des Kantonsgerichts Basel-Landschaft vom 2. August 2012 und letztinstanzlich mit Urteil 9C_989/2012 vom 5. September 2013).  
 
A.c. Bereits vor Erlass der rentenaufhebenden Verfügung veranlasste die IV-Stelle eine Abklärung der Hilflosigkeit (Abklärungsbericht vom 3. November 2011) und bestätigte mit Mitteilung vom 4. November 2011 den Anspruch der Versicherten auf eine Hilflosenentschädigung leichten Grades. Im November 2012 leitete die IV-Stelle eine Revision der laufenden Hilflosenentschädigung ein. Mit Verfügung vom 2. November 2017 hob sie die Hilflosenentschädigung wiedererwägungsweise auf.  
 
B.   
Die dagegen erhobene Beschwerde wies das Kantonsgericht Basel-Landschaft mit Entscheid vom 19. April 2018 ab. 
 
C.   
A.________ führt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten und beantragt, die Verfügung vom 2. November 2017 sowie der Entscheid vom 19. April 2018 seien aufzuheben. Weiter wird um Gewährung der unentgeltlichen Prozessführung und Verbeiständung ersucht. 
 
 
Erwägungen:  
 
1.   
Die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann wegen Rechtsverletzungen gemäss Art. 95 und 96 BGGerhoben werden. Das Bundesgericht wendet das Recht von Amtes wegen an (Art. 106 Abs. 1 BGG). Es ist somit weder an die in der Beschwerde geltend gemachten Argumente noch an die Erwägungen der Vorinstanz gebunden; es kann eine Beschwerde aus einem anderen als dem angerufenen Grund gutheissen und es kann sie mit einer von der Argumentation der Vorinstanz abweichenden Begründung abweisen (BGE 134 V 250 E. 1.2 S. 252). Das Bundesgericht prüft grundsätzlich nur die geltend gemachten Rügen; es ist nicht gehalten, wie eine erstinstanzliche Behörde alle sich stellenden rechtlichen Fragen zu prüfen, wenn diese vor Bundesgericht nicht mehr vorgetragen wurden. 
 
2.   
Streitig und zu prüfen ist, ob die Vorinstanz die wiedererwägungsweise Aufhebung der Hilflosenentschädigung leichten Grades zu Recht geschützt hat. 
 
3.  
 
3.1. Anspruch auf eine Hilflosenentschädigung haben erwachsene Versicherte mit Wohnsitz und gewöhnlichem Aufenthalt in der Schweiz, die hilflos sind (Art. 42 Abs. 1 IVG). Als hilflos gilt unter anderem eine Person, die wegen der Beeinträchtigung der Gesundheit für alltägliche Lebensverrichtungen dauernd der Hilfe Dritter oder der persönlichen Überwachung bedarf (Art. 9 ATSG). Nach Art. 37 Abs. 3 lit. a IVV gilt die Hilflosigkeit als leicht, wenn die versicherte Person trotz der Abgabe von Hilfsmitteln in mindestens zwei alltäglichen Lebensverrichtungen regelmässig in erheblicher Weise auf die Hilfe Dritter angewiesen ist.  
 
3.2. Der Versicherungsträger kann durch Wiedererwägung auf formell rechtskräftige Verfügungen zurückkommen, wenn diese zweifellos unrichtig sind und ihre Berichtigung von erheblicher Bedeutung ist (Art. 53 Abs. 2 ATSG). Es darf - vor dem Hintergrund der damaligen Rechtslage einschliesslich der geltenden Rechtspraxis (BGE 138 V 147 E. 2.1 S. 149) - kein vernünftiger Zweifel an der (von Beginn weg bestehenden) Unrichtigkeit der Verfügung bestehen. Eine Leistungszusprechung ist in der Regel als zweifellos unrichtig anzusehen, wenn sie aufgrund falscher Rechtsregeln erfolgte oder wenn massgebliche Bestimmungen nicht oder unrichtig angewendet wurden. Darunter fällt insbesondere eine auf einer klaren Verletzung des Untersuchungsgrundsatzes (Art. 43 Abs. 1 ATSG) beruhende unvollständige Sachverhaltsabklärung.  
 
4.  
 
4.1. Die Vorinstanz hat erwogen, das Vorgehen der IV-Stelle könne nicht geschützt werden. Diese habe in ihrer Verfügung vom 4. November 2011 (richtig: Mitteilung vom 4. November 2011) zur Bestätigung des Anspruchs auf eine Hilflosenentschädigung leichten Grades auf den Abklärungsbericht vom 3. November 2011a bgestellt und sei demzufolge davon ausgegangen, dass die Beschwerdeführerin in zwei alltäglichen Lebensverrichtungen (Körperpflege und Fortbewegung im Freien) auf regelmässige und erhebliche Hilfe angewiesen sei. Es müsse davon ausgegangen werden, dass dieser Abklärungsbericht (entgegen den darin gemachten Angaben) die aktuellen medizinischen Berichte nicht berücksichtigt habe. Zwar seien die im ABI-Gutachten genannten Diagnosen auch im Abklärungsbericht erwähnt worden. In der Folge habe die Abklärungsperson jedoch auf eine Berücksichtigung der konkreten Beurteilung des Gesundheitszustandes verzichtet und im Wesentlichen den subjektiven Angaben der Beschwerdeführerin Rechnung getragen. Dies ergebe sich aufgrund der Tatsache, dass den zitierten medizinischen Berichten (ABI-Gutachten vom 9. Juni 2011 und Eingabe der Kantonalen Psychiatrischen Klinik B.________ vom 11. Dezember 2009) keine Hinweise zu entnehmen seien, dass die Beschwerdeführerin bei der Körperpflege oder bei der Fortbewegung im Freien auf regelmässige Hilfe angewiesen sei. Damit habe die IV-Stelle bei der Zusprache der Hilflosenentschädigung auf eine offensichtlich unrichtige Sachverhaltsfeststellung abgestellt. Die Voraussetzungen für eine Wiedererwägung im Sinne von Art. 53 Abs. 2 ATSG seien folglich erfüllt.  
 
4.2. Die Be schwerdeführerin wendet dagegen ein, das ABI-Gutachten wie auch die Eingabe der Kantonalen Psychiatrischen Klinik B.________ hätten nicht der Abklärung der Hilflosigkeit gedient, weshalb fehlende Hinweise diesbezüglich nicht zur Feststellung führen könnten, diese Berichte würden den Abklärungsbericht vom 3. November 2011 widerlegen. Letzterer hingegen habe sich gerade zu dieser Frage geäussert, weshalb er in erster Linie massgebend sei.  
 
 
4.3. Ob dem Abklärun gsbericht vom 3. November 2011 Beweiswert zukommt, was die Vorinstanz implizit verneinte, kann offe n bleiben ( vgl. zu den beweisrechtlichen Anforderungen an einen Abklärungsbericht an Ort und Stelle BGE 140 V 543 E. 3.2.1 S. 546 f. mit Hinweisen). Im Zeitpunkt der Bestätigung der Hilflosenentschädigung (Mitteilung vom 4. November 2011) lag der IV-Stelle neben besagtem Abklärungsbericht das kurz zuvor verfasste Gutachten des ABI sowie die Eingabe der Kantonalen Psychiatrischen Klinik B.________ vom 11. Dezember 2009 vor. Daraus ergeben sich gewichtige Anhaltspunkte, welche bei der Verwaltung erhebliche Zweifel aufkommen lassen mussten, dass die Beschwerdeführerin bei der Körperpflege und bei der Fortbewegung im Freien auf regelmässige und erhebliche Dritthilfe angewiesen ist, und zwingend nach weiteren Sachverhaltsabklärungen riefen:  
 
4.3.1. Gemäss ABI-Gutachten vom 9. Juni 2011 besteht aus polydisziplinärer Sicht für eine körperlich leichte, wechselbelastende, unter adaptierten Arbeitsplatzbedingungen auszuübende berufliche Tätigkeit eine 75 %ige, ganztägig verwertbare Arbeits- und Leistungsfähigkeit. Durch adäquate, zumutbare medizinische Massnahmen sei die Arbeitsfähigkeit in einigen Monaten auf 100 % anzuheben.  
Aus rheumatologischer Sicht könne klar festgehalten werden, dass der Explorandin jegliche ambulante rehabilitative Massnahmen zugemutet werden könnten, insbesondere im Sinne einer Schadenminderungspflicht. Diese therapeutischen Massnahmen sollten jedoch mehrheitlich aktiv mobilisierend durchgeführt werden, um ihre massive muskuläre Dekonditionierung und die deutlich eingeschränkte kardiovaskuläre Leistungsfähigkeit mittel- und langfristig Schritt für Schritt zu verbessern, dies bedinge jedoch einen eindeutigen Wechsel des bis anhin rein passiv durchgeführten Therapiemodus. Der rheumatologische Experte gab zu bedenken, als wesentlicher Hinderungsfaktor zur Umsetzung der aus rheumatologischer Sicht sinnvollen und als zumutbar erachteten kardiovaskulären und allgemein therapeutischen Massnahmen müsse von einer eindrücklichen subjektiven Krankheits- und Behinderungsüberzeugung und ausgeprägten Selbstlimitierung der Explorandin ausgegangen werden. Auch der psychiatrische Experte sprach von einer deutlich ausgeprägten subjektiven Krankheits- und Behinderungsüberzeugung. 
 
4.3.2. Zur Konsistenz hielten die ABI-Gutachter fest, die Explorandin habe gegenüber den Examinatoren geschildert, dass sie sich in der freien Wirtschaft absolut nicht mehr arbeitsfähig einschätze, wegweisend begründet durch ihre multilokulären Beschwerden, für die sie keine eigentliche Ursache angeben könne. Im Rahmen der Laborabklärung habe festgestellt werden können, dass das verordnete Antidepressivum einerseits sehr niedrig dosiert worden sei, andererseits im Medikamentenspiegel gar nicht habe nachgewiesen werden können, was gegen das Vorliegen einer relevanten komorbiden depressiven Störung spreche. Zusätzlich könne festgehalten werden, dass die Explorandin entgegen ihren Aussagen weder die verordneten Analgetika Typ Paracetamol noch die Morphinpräparate einnehme, wie dies verordnet worden sei. Konsekutiv könne daraus der Schluss gezogen werden, dass die Aussagen der Versicherten in Bezug auf die beklagte Schmerzintensität mit Vorsicht interpretiert werden müssten. Ein aggravatorisches Verhalten sei aus gutachterlicher Sicht nicht von der Hand zu weisen.  
 
4.3.3. In Bezug auf die Arbeitsfähigkeit im Haushalt führten die Experten aus, die subjektive Einschätzung der Explorandin, dass sie auch in der Haushaltsführung in eigener Zeiteinteilung kaum mehr eine verwertbare Leistung erbringen könne, sei weder aus psychiatrischer noch aus somatischer Sicht nachvollziehbar. Gemäss Einschätzung der Experten sollte es der Versicherten neben einer Teilzeittätigkeit möglich sein, in eigener Zeiteinteilung die üblichen Haushaltsaufgaben mit Unterstützung durch ihre Familie selber zu bewältigen. In Bezug auf die globale Arbeitsleistung im Haushalt sei von einer Einschränkung im Haushalt von maximal 20 % auszugehen. Dies beträfen körperlich regelmässig schwer belastende Tätigkeiten wie beispielsweise Fenster putzen, Grossreinigungen, das Tragen von schweren Einkäufen usw.  
 
4.3.4. Sodann gab die Versicherte bei der Begutachtung selbst an, sie versuche nachmittags je nach Verfassung einen kurzen Spaziergang von 15 bis 20 Minuten Dauer durchzuführen. Den Haushalt erledige ihre Tochter. "Kleine Sachen, wie Salat oder Fertiggerichte, gehe sie selber im Laden holen."  
 
4.3.5. Hinzu kommt, dass dem Schreiben der Kantonalen Psychiatrischen Klinik B.________ vom 11. Dezember 2009 zu entnehmen ist, die Versicherte sei während der stationären Behandlung vom 10. bis 17. Juni 2009 auf keine Hilfe von Drittpersonen beim Essen, der Körperpflege oder Fortbewegung angewiesen gewesen. Weshalb besagtes Schreiben im Rahmen der Wiedererwägung keine Berücksichtigung finden kann, ist mit Blick auf sein Datum der Eingabe bei der IV-Stelle (im Dezember 2009) nicht ersichtlich.  
 
4.3.6. Aufgrund dieser Aktenlage durfte die IV-Stelle nicht - zumindest nicht ohne weitere Abklärungen - von einer Hilflosigkeit in den Lebensverrichtungen Körperpflege und Fortbewegung im Freien ausgehen. Die Bestätigung der Hilflosenentschädigung vom 4. November 2011 beruhte auf einer unvollständigen Sachverhaltsabklärung und wurde daher zu Recht in Wiedererwägung gezogen (vgl. E. 3.2).  
 
4.4. Liegt in diesem Sinn ein Rückkommenstitel vor, gilt es grundsätzlich, mit Wirkung ex nunc et pro futuro einen rechtskonformen Zustand herzustellen (Art. 85 Abs. 2 i.V.m. Art. 88bis Abs. 2 IVV). In diesem Zusammenhang macht die Beschwerdeführerin geltend, sowohl die IV-Stelle als auch die Vorinstanz liessen den Sachverhalt im Zeitpunkt der aufhebenden Verfügung vom 2. November 2017 unbeachtet und verweigerten dessen Abklärung. Dieser Einwand erweist sich als unbegründet. Den Akten ist zu entnehmen, dass die IV-Stelle zur Prüfung der künftigen Anspruchsberechtigung Abklärungen getroffen und diverse Unterlagen eingeholt hat. Dass sich daraus eine rechtlich relevante Hilflosigkeit (vgl. E. 3.1) ergeben würde, legt die Versicherte nicht dar. Damit hat es sein Bewenden (vgl. E. 1).  
 
5.   
Zusammenfassend hat das kantonale Gericht die wiedererwägungsweise Aufhebung der Hilflosenentschädigung im Ergebnis zu Recht bestätigt. Die Beschwerde ist unbegründet. 
 
6.   
Dem Ausgang des Verfahrens entsprechend sind die Gerichtskosten der Beschwerdeführerin aufzuerlegen (Art. 66 Abs. 1 BGG). Ihrem Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege ist stattzugeben, da die entsprechenden gesetzlichen Voraussetzungen erfüllt sind (Art. 64 Abs. 1 und 2 BGG). Es wird indessen ausdrücklich auf Art. 64 Abs. 4 BGG aufmerksam gemacht, wonach sie der Bundesgerichtskasse Ersatz zu leisten haben wird, wenn sie später dazu in der Lage ist. 
 
 
 Demnach erkennt das Bundesgericht:  
 
1.   
Die Beschwerde wird abgewiesen. 
 
2.   
Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege für das bundesgerichtliche Verfahren wird gutgeheissen, und es wird der Beschwerdeführerin Advokat Dr. Yves Waldmann als Rechtsbeistand beigegeben. 
 
3.   
Die Gerichtskosten von Fr. 800.- werden der Beschwerdeführerin auferlegt, indes vorläufig auf die Bundesgerichtskasse genommen. 
 
4.   
Advokat Dr. Yves Waldmann wird aus der Bundesgerichtskasse eine Entschädigung von Fr. 2800.- ausgerichtet. 
 
5.   
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Kantonsgericht Basel-Landschaft, Abteilung Sozialversicherungsrecht, und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt. 
 
 
Luzern, 29. November 2018 
Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
 
Die Präsidentin: Pfiffner 
 
Die Gerichtsschreiberin: Stanger