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Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
{T 0/2} 
1B_74/2009 
 
Urteil vom 30. März 2009 
I. öffentlich-rechtliche Abteilung 
 
Besetzung 
Bundesrichter Féraud, Präsident, 
Bundesrichter Raselli, Eusebio, 
Gerichtsschreiber Kessler Coendet. 
 
Parteien 
X.________, Beschwerdeführer, vertreten durch Rechtsanwalt Stephan Kübler, 
 
gegen 
 
Staatsanwaltschaft IV des Kantons Zürich, Gewaltdelikte, Molkenstrasse 15/17, Postfach, 
8026 Zürich. 
 
Gegenstand 
Gesuch um Bewilligung des vorzeitigen Massnahmeantritts, 
 
Beschwerde gegen die Verfügung vom 29. Januar 2009 des Obergerichts des Kantons Zürich, 
Präsidium der Anklagekammer. 
Sachverhalt: 
 
A. 
Die Staatsanwaltschaft IV des Kantons Zürich führt gegen X.________, Jahrgang 1983, eine Strafuntersuchung. In diesem Verfahren ist am 18. Dezember 2008 gegen ihn Anklage erhoben worden. Vorgeworfen werden ihm unter anderem versuchte schwere Körperverletzung, mehrfache einfache Körperverletzung, mehrfacher Angriff, Gewaltdarstellung, Drohung, Nötigung, Rassendiskriminierung, mehrfache Gewalt und Drohung gegen Behörden und Beamte. Die Anklagekammer des Obergerichts des Kantons Zürich hat die Anklage am 20. Januar 2009 zugelassen und dem Obergericht zur Beurteilung überwiesen. 
 
B. 
Am 22. Januar 2009 ersuchte X.________ um Bewilligung des vorzeitigen Massnahmenantritts in einer Einrichtung für junge Erwachsene. Er war damals bereits im vorzeitigen Strafvollzug. Die Präsidentin der Anklagekammer wies das Gesuch mit Verfügung vom 29. Januar 2009 ab. 
 
C. 
Mit Eingabe vom 11. März 2009 legt X.________ gegen die Verfügung vom 29. Januar 2009 beim Bundesgericht Beschwerde in Strafsachen ein. Er beantragt die Aufhebung des angefochtenen Entscheids und die Bewilligung des gewünschten vorzeitigen Massnahmenantritts. Ausserdem stellt er ein Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung im bundesgerichtlichen Verfahren. Die Staatsanwaltschaft und die Präsidentin der Anklagekammer haben Verzicht auf eine Vernehmlassung erklärt. 
 
Erwägungen: 
 
1. 
Angefochten ist ein Zwischenentscheid betreffend Vollzugsregime der strafprozessualen Haft. Der Beschwerdeführer befindet sich im vorzeitigen Strafvollzug. Er stellt kein Gesuch um Haftentlassung. Streitig ist die von ihm beantragte Versetzung in den stationären vorzeitigen Massnahmenvollzug. Bei diesem Rechtsstreit handelt es sich um eine Strafsache im Sinne von Art. 78 Abs. 1 BGG. Mit Blick auf den Verfahrensausgang kann offen bleiben, inwiefern der vorliegende Zwischenentscheid gestützt auf Art. 92 f. BGG direkt beim Bundesgericht angefochten werden kann. Insbesondere ist fraglich, ob ein nicht wieder gutzumachender Nachteil im Sinne von Art. 93 Abs. 1 lit. a BGG vorliegt. 
 
2. 
Zunächst wirft der Beschwerdeführer der Vorinstanz eine mangelhafte Entscheidbegründung vor. Er ist der Meinung, die Vorinstanz habe in einseitiger Weise die Argumente, die zu seinen Gunsten sprechen würden, nicht berücksichtigt. Aus Art. 29 Abs. 2 BV lässt sich ein Anspruch auf hinreichende Entscheidbegründung ableiten (vgl. BGE 134 I 83 E. 4.1 S. 88; 133 I 270 E. 3.1 S. 277; je mit Hinweisen). Hier enthält der angefochtene Entscheid in den wesentlichen Punkten eine genügende Begründung. Der Beschwerdeführer tut nicht dar, inwiefern diese Begründung es ihm nicht ermöglicht hätte, sich sachgerecht zu wehren. Der Umstand, dass die Vorinstanz nicht zur selben rechtlichen Würdigung gelangt ist wie der Beschwerdeführer, stellt keine Verletzung des rechtlichen Gehörs dar. In diesem Punkt ist die Beschwerde abzuweisen. 
 
3. 
An mehreren Stellen in der Beschwerdeschrift wird die Unvoreingenommenheit der Vorinstanz angezweifelt. Im Hinblick auf die Frage der allfälligen Parteilichkeit von Personen, die am angefochtenen Entscheid mitgewirkt haben, fehlen jedoch rechtsgenügliche Verfassungsrügen. Darauf kann nicht eingetreten werden. Das Bundesgericht prüft im vorliegenden Zusammenhang nur Rügen, die in der Beschwerde hinreichend begründet werden (Art. 42 Abs. 2 und Art. 106 Abs. 2 BGG, vgl. dazu BGE 134 II 244 E. 2.2 S. 246 mit Hinweisen). 
 
4. 
4.1 Der Beschwerdeführer macht in der Sache geltend, er rechne gestützt auf das psychiatrische Gutachten vom 17. November 2008 im Falle einer Verurteilung mit einer stationären therapeutischen Massnahme im Sinne von Art. 61 StGB. Es sei ihm geholfen, wenn er die Massnahme umgehend antreten könne. Er verfüge über eine Aufnahmezusage einer Einrichtung für junge Erwachsene; die Staatsanwaltschaft habe sich im Verfahren vor der Vorinstanz ebenfalls für die Bewilligung des vorzeitigen Massnahmenantritts ausgesprochen. Die Ablehnung seines Gesuchs durch die Vorinstanz beruhe auf einer willkürlichen Anwendung von § 71a der Strafprozessordnung des Kantons Zürich (StPO/ZH; LS 321) und verstosse gegen Art. 58 StGB
 
4.2 Ist die Anordnung einer Massnahme nach den Art. 59-61 oder Art. 63 StGB zu erwarten, so kann dem Täter gestattet werden, den Vollzug vorzeitig anzutreten (Art. 58 Abs. 1 StGB). Die grundsätzliche Möglichkeit des vorzeitigen Antritts einer therapeutischen Massnahme besteht ungeachtet einer entsprechenden Bestimmung im kantonalen Strafprozessrecht (Marianne Heer, in: Basler Kommentar, Strafrecht, 2. Aufl. 2007, N. 1 zu Art. 58 StGB). Das kantonale Recht kann aber den Sachbereich näher regeln und dabei den vorzeitigen Vollzug von bestimmten weiteren Voraussetzungen abhängig machen (vgl. dazu Stratenwerth/Wohlers, Schweizerisches Strafgesetzbuch, Handkommentar, 2007, N. 1 zu Art. 58 StGB). 
 
4.3 Nach § 71a Abs. 3 StPO/ZH wird die Bewilligung zum vorzeitigen Massnahmenantritt erteilt, wenn die Anordnung einer freiheitsentziehenden Massnahme zu erwarten ist und der Zweck des Strafverfahrens nicht gefährdet wird. Dabei setzt § 22 Abs. 1 der kantonalen Justizvollzugsverordnung (JVV/ZH; LS 331.1) unter anderem voraus, dass ein Gutachten oder ein gutachterlicher Bericht eine Massnahme empfiehlt. Nach der Rechtsprechung belassen Art. 58 Abs. 1 StGB und § 71a Abs. 3 StPO/ZH der zuständigen Behörde ein gewisses Ermessen in ihrem Entscheid über die Bewilligung des vorzeitigen Massnahmenantritts (vgl. das Urteil des Bundesgerichts 1B_307/2008 vom 23. Dezember 2008 E. 2.3). Zu klären gilt es, ob die Vorinstanz bei ihrem Entscheid im konkreten Fall der Empfehlung des Gutachtens zu Recht nicht gefolgt ist. 
 
5. 
5.1 Der forensische Experte teilt dem Richter aufgrund seiner Sachkunde Erfahrungs- oder Wissenssätze seiner Disziplin mit, erforscht für das Gericht erhebliche Tatsachen oder zieht sachliche Schlussfolgerungen aus bereits feststehenden Fakten. Er ist Entscheidungsgehilfe des Richters, dessen Wissen er durch besondere Kenntnisse aus seinem Sachgebiet ergänzt. Die Würdigung der Beweise, inklusive gutachterliche Feststellungen, und die Beantwortung der sich stellenden Rechtsfragen bleiben jedoch Aufgabe des Gerichts (vgl. BGE 130 I 337 E. 5.4.1 S. 345; 127 I 73 E. 3f/bb S. 81; je mit Hinweisen). Immerhin darf das Gericht in Fachfragen nicht ohne triftige Gründe von einer gerichtlichen Expertise abweichen und muss Abweichungen begründen (vgl. BGE 130 I 337 E. 5.4.2 S. 345; 129 I 49 E. 4 S. 57; je mit Hinweisen). 
 
5.2 Vorliegend sieht der Gutachter im Strafverfahren die Einweisung des Beschwerdeführers in eine Einrichtung für junge Erwachsene als angezeigt an. Grundsätzlich spreche nichts gegen die Durchführung einer ambulanten Behandlung während der allfälligen Verbüssung einer Freiheitsstrafe. Die erstgenannte Massnahme verdiene indessen klar den Vorzug. 
Die Vorinstanz legt im angefochtenen Entscheid ihre Vorbehalte gegenüber der gutachterlichen Einschätzung dar. Dabei erinnert sie daran, dass der Beschwerdeführer sich zu Beginn des vorzeitigen Strafvollzugs ohne achtenswerte Gründe weigerte, mit einer ihm zugewiesenen, dunkelhäutigen Therapeutin zusammenzuarbeiten. Weiter weist die Vorinstanz auf die eingeklagten Sachverhalte, die Vorstrafen und die verbalen Äusserungen des Beschwerdeführers bezüglich Gewaltanwendung in der Strafuntersuchung hin. Daraus folgert sie, er scheine seine Ansichten und Vorstellungen gewaltsam durchsetzen zu wollen. Es sei zu berücksichtigen, dass es der Beschwerdeführer gewesen sei, der jeweils die betreffenden Konfliktsituationen herbeigeführt habe. Zwar sei der Beschwerdeführer aufgrund eines früheren Strafurteils zu einer ambulanten Behandlung verpflichtet; diese Massnahme sei aber nicht zum Tragen gekommen. Es liege bei der gegebenen Sachlage nicht auf der Hand, dass die im Rahmen einer Einrichtung für junge Erwachsene absolvierbare Berufslehre deliktpräventiv wirken könne. Im Übrigen bestehe auch im Strafvollzug die Möglichkeit, eine Berufslehre zu machen. 
Die Komplexität der Verhältnisse rechtfertigt es gemäss der Vorinstanz, dass die Anordnung einer Massnahme im Sinne von Art. 61 StGB dem Sachgericht vorbehalten werde. Dieser Entscheid werde mit der Verweigerung des vorzeitigen Vollzugs nicht präjudiziert. 
 
5.3 Der Beschwerdeführer bestreitet nicht, die fragliche Therapeutin abgelehnt zu haben. Er wirft der Vorinstanz hingegen vor, insoweit übertriebene Anforderungen aufzustellen. Die Akzeptanz fremdländischer oder andersdenkender Menschen bilde ja gerade sein Problem, das letztlich zur Anklage an das Obergericht geführt habe. Der Vorfall habe nicht mit seiner Therapiewilligkeit zu tun. Im Gutachten wird erklärt, der Beschwerdeführer scheine mittlerweile über den nötigen Reifegrad zu verfügen, um sich im Hinblick auf eine Massnahme nach Art. 61 StGB ein- und unterordnen zu können. Es ist der Vorinstanz beizupflichten, wenn sie den betreffenden Vorfall sinngemäss als Indiz bewertet, das diese gutachterliche Beurteilung entkräftet. Dabei kann keine Rede davon sein, dass die Vorinstanz zu strenge Massstäbe angelegt hätte. 
 
5.4 Weiter bezeichnet der Beschwerdeführer es als aktenwidrig, dass die Vorinstanz festgehalten hat, die ambulante Therapie gemäss dem früheren Strafurteil sei nicht zum Tragen gekommen. Dabei übersehe die Vorinstanz, dass er sich inzwischen einer ambulanten Behandlung bei der Therapieperson unterziehe, mit der er bereits vor dem Antritt des vorzeitigen Strafvollzugs Gespräche geführt habe. Mit diesem Vorwurf kann der Beschwerdeführer allerdings nichts zu seinen Gunsten ableiten. Die Erwägung der Vorinstanz lässt sich nicht nur im Sinne des Beschwerdeführers verstehen. Es kann ihr auch der Sinn beigelegt werden, dass die ambulante Therapie bislang noch zu wenig Wirkung gezeigt habe. Bei einem solchen Verständnis ist die fragliche Erwägung nicht zu beanstanden. Der Beschwerdeführer bringt selbst vor, es dürfe nicht erwartet werden, dass diese ambulante Therapie - angesichts ihrer beschränkten Dauer - seine Einstellung zu Gewalt und Gesellschaft markant verändert habe. 
 
5.5 Die Vorbringen des Beschwerdeführers sind auch nicht geeignet, die Triftigkeit der weiteren, bei E. 5.2 hiervor wiedergegebenen Überlegungen in Frage zu stellen. Insoweit verfällt der Beschwerdeführer weitgehend in rein appellatorische Kritik am angefochtenen Entscheid, auf die nicht näher einzugehen ist. Im Übrigen ist es richtig, dass in E. 2.4 des Urteils 1B_307/2008 vom 23. Dezember 2008 steht, die im Rahmen eines vorzeitigen Massnahmenvollzugs gewonnenen Erfahrungen könnten im Hinblick auf das Strafurteil wertvoll sein. Der vorliegende Fall ist jedoch besonders gelagert. Nach der Sachdarstellung des Beschwerdeführers (vgl. E. 5.4 hiervor) findet eine ambulante Behandlung im bestehenden, vorzeitigen Strafvollzug bereits statt; die Eventualempfehlung des Gutachtens stimmt damit im Wesentlichen überein. 
 
5.6 Darüber hinaus hat die Vorinstanz erwogen, die Anordnung der fraglichen Massnahme werde sich dem Sachgericht auch mit Blick auf die zu erwartenden Anträge der Staatsanwaltschaft im Rahmen der Anklage nicht ohne Weiteres aufdrängen. Der Beschwerdeführer tut nicht dar, inwiefern diese Anträge der Staatsanwaltschaft von entscheidender Bedeutung sein sollen. Im Übrigen äussert er selbst die Befürchtung, es bestehe angesichts der Regelungen von Art. 61 Abs. 4 StGB zur Höchstdauer der Massnahme die Gefahr, dass das Sachgericht von einer solchen Massnahme absehen könnte. 
 
5.7 Ferner hat die Vorinstanz der Erwartung Ausdruck verliehen, dass in Bälde ein Termin für die Gerichtsverhandlung im Hauptverfahren angesetzt werde. Der Beschwerdeführer entgegnet, das Obergericht habe im Nachgang zum angefochtenen Entscheid bekannt gegeben, dass die Gerichtsverhandlung frühestens Ende August 2009, d.h. nach den Gerichtsferien, durchgeführt werde. In Anwendung von Art. 99 Abs. 1 BGG sind im bundesgerichtlichen Verfahren echte Noven - d.h. Tatsachen, die erst nach dem Entscheid der Vorinstanz eingetreten sind - unbeachtlich (vgl. BGE 134 IV 97 E. 5.1.3 S. 103 mit Hinweis). Unabhängig davon ist dem Beschwerdeführer nicht zu folgen, wenn er seine Einweisung in eine Einrichtung für junge Erwachsene als dringlich hinzustellen versucht. 
 
5.8 Insgesamt lassen sich im angefochtenen Entscheid hinreichende Gründe dafür ausmachen, dass hier der fraglichen Empfehlung des Gutachtens nicht mittels eines vorzeitigen Vollzugs nachgekommen zu werden braucht. Die Vorinstanz hat, entgegen der Meinung des Beschwerdeführers, keine Ermessensunterschreitung begangen. Es hält vor dem Bundesrecht stand, dass das Gesuch des Beschwerdeführers abgewiesen worden ist. 
 
6. 
Nach dem Gesagten ist die Beschwerde abzuweisen, soweit darauf eingetreten werden kann. Da die Voraussetzungen gemäss Art. 64 Abs. 1 und 2 BGG erfüllt sind, kann dem Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung entsprochen werden. 
 
Demnach erkennt das Bundesgericht: 
 
1. 
Die Beschwerde wird abgewiesen, soweit darauf einzutreten ist. 
 
2. 
Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung wird gutgeheissen. Rechtsanwalt Stephan Kübler wird aus der Bundesgerichtskasse eine Entschädigung von Fr. 1'500.-- ausgerichtet. 
 
3. 
Es werden keine Gerichtskosten erhoben. 
 
4. 
Dieses Urteil wird dem Beschwerdeführer, der Staatsanwaltschaft IV und dem Obergericht des Kantons Zürich, Präsidium der Anklagekammer, schriftlich mitgeteilt. 
 
Lausanne, 30. März 2009 
Im Namen der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
Der Präsident: Der Gerichtsschreiber: 
 
Féraud Kessler Coendet