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Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
 
 
 
6B_1057/2022  
 
 
Urteil vom 30. März 2023  
 
Strafrechtliche Abteilung  
 
Besetzung 
Bundesrichterin Jacquemoud-Rossari, Präsidentin, 
Bundesrichterin Koch, 
Bundesrichter Hurni, 
Gerichtsschreiber Stadler. 
 
Verfahrensbeteiligte 
A.________, 
vertreten durch Rechtsanwalt Dr. Peter Steiner, 
Beschwerdeführer, 
 
gegen  
 
Oberstaatsanwaltschaft des Kantons Solothurn, 
Franziskanerhof, Barfüssergasse 28, Postfach 157, 
4502 Solothurn, 
Beschwerdegegnerin. 
 
Gegenstand 
Verspätete Einsprache gegen Strafbefehl, 
 
Beschwerde gegen den Beschluss des Obergerichts des Kantons Solothurn, Beschwerdekammer, 
vom 21. Juli 2022 (BKBES.2022.85). 
 
 
Sachverhalt:  
 
A.  
Mit Strafbefehl vom 1. Dezember 2021 sprach die Staatsanwaltschaft des Kantons Solothurn A.________ der Drohung, der mehrfachen groben Verletzung der Verkehrsregeln, der Entwendung eines Motorfahrzeugs zum Gebrauch, des Führens eines Motorfahrzeugs trotz Verweigerung, Entzug oder Aberkennung des Führerausweises sowie des Missbrauchs von Warnsignalen schuldig und verurteilte ihn zu einer unbedingten Freiheitsstrafe von 150 Tagen und einer Busse von Fr. 100.--. 
Der Strafbefehl konnte A.________ laut Sendungsverfolgung der Post nicht zugestellt werden und wurde am 16. Dezember 2021 an die Staatsanwaltschaft zurückgesandt. 
 
B.  
 
B.a. Mit Eingabe vom 25. Januar 2022 erhob A.________ bei der Staatsanwaltschaft des Kantons Solothurn Einsprache gegen den Strafbefehl.  
In der Folge überwies die Staatsanwaltschaft die Einsprache zur Gültigkeitsprüfung an das Richteramt Bucheggberg-Wasseramt. 
Mit Verfügung vom 8. Juni 2022 trat der Amtsgerichtspräsident von Bucheggberg-Wasseramt auf die Einsprache wegen verspäteter Einreichung nicht ein. 
 
B.b. Die dagegen erhobene Beschwerde wies das Obergericht des Kantons Solothurn mit Beschluss vom 21. Juli 2022 ab.  
 
C.  
Mit Beschwerde in Strafsachen beantragt A.________ dem Bundesgericht, es sei der Beschwerdeentscheid aufzuheben und seine Einsprache gegen den Strafbefehl sei gültig zu erklären. Schliesslich sei ihm für das bundesgerichtliche Verfahren die unentgeltliche Rechtspflege zu erteilen. 
Es wurden die kantonalen Akten, nicht aber Vernehmlassungen eingeholt. 
 
 
Erwägungen:  
 
1.  
 
1.1. Der Strafbefehl wird den zur Einsprache befugten Personen unverzüglich schriftlich eröffnet (Art. 353 Abs. 3 StPO). Die Einsprache ist innert 10 Tagen bei der Staatsanwaltschaft einzureichen (Art. 354 Abs. 1 StPO). Ohne gültige Einsprache wird der Strafbefehl zum rechtskräftigen Urteil (Art. 354 Abs. 3 StPO). Das erstinstanzliche Gericht entscheidet über die Gültigkeit des Strafbefehls und der Einsprache (Art. 356 Abs. 2 StPO). Eine verspätete Einsprache ist ungültig.  
Für die Zustellung von Strafbefehlen gelten die allgemeinen Regeln (Art. 84 ff. StPO). Sie erfolgt gemäss Art. 85 Abs. 2 StPO durch eingeschriebene Postsendung oder auf andere Weise gegen Empfangsbestätigung. Die Zustellung einer eingeschriebenen Postsendung, die nicht abgeholt worden ist, gilt nach Art. 85 Abs. 4 lit. a StPO am siebten Tag nach dem erfolglosen Zustellungsversuch als erfolgt, sofern die Person mit einer Zustellung rechnen musste (sog. Zustell- oder Zustellungsfiktion; BGE 143 III 15 E. 4.1; 138 III 225 E. 3.1). Die Begründung eines Prozessrechtsverhältnisses verpflichtet die Parteien, sich nach Treu und Glauben zu verhalten und unter anderem dafür zu sorgen, dass ihnen behördliche Akten zugestellt werden können, welche das Verfahren betreffen (BGE 146 IV 30 E. 1.1.2; 141 II 429 E. 3.1; 138 III 225 E. 3.1; Urteile 6B_368/2022 vom 29. Juni 2022 E. 3; 6B_548/2022 vom 30. Mai 2022 E. 3.4; 6B_110/2016 vom 27. Juli 2016 E. 1.2, nicht publiziert in: BGE 142 IV 286; je mit Hinweisen). Von einer verfahrensbeteiligten Person wird namentlich verlangt, dass sie für die Nachsendung ihrer an die bisherige Adresse gelangenden Korrespondenz besorgt ist und der Behörde gegebenenfalls längere Ortsabwesenheiten mitteilt oder eine Stellvertretung ernennt (vgl. BGE 146 IV 30 E. 1.1.2; 141 II 429 E. 3.1; 139 IV 228 E. 1.1; Urteile 6B_880/2022 vom 30. Januar 2023 E. 2.1; 6B_1455/2021 vom 11. Januar 2023 E. 1.1; 6B_1083/2021, 6B_1084/2021 vom 16. Dezember 2022 E. 5.2, zur Publikation vorgesehen). Diese Obliegenheit beurteilt sich nach den konkreten Verhältnissen und dauert nicht unbeschränkt an (Urteile 6B_1430/2020 vom 15. Juli 2021 E. 1.1; 6B_324/2020 vom 7. September 2020 E. 1.2; 6B_110/2016 vom 27. Juli 2016 E. 1.2, nicht publiziert in: BGE 142 IV 286; je mit Hinweisen). Als Zeitraum, während dem die Zustellfiktion aufrechterhalten werden darf, ohne dass verfahrensbezogene Handlungen erfolgen, werden in der Literatur mehrere Monate bis etwa ein Jahr genannt. Das Bundesgericht erachtete in einem Steuerverfahren einen Zeitraum bis zu einem Jahr seit der letzten verfahrensbezogenen Handlung noch als vertretbar (vgl. Urteil 6B_110/2016 vom 27. Juli 2016 E. 1.2, nicht publiziert in: BGE 142 IV 286; Urteile 6B_368/2022 vom 29. Juni 2022 E. 3; 6B_377/2016 vom 7. November 2016 E. 3.3.2; je mit Hinweisen). 
Bei eingeschriebenen Postsendungen gilt eine widerlegbare Vermutung, dass der Postangestellte den Avis ordnungsgemäss in den Briefkasten oder in das Postfach des Empfängers gelegt hat und das Zustellungsdatum korrekt registriert worden ist. Es findet eine Umkehr der Beweislast in dem Sinne statt, als bei Beweislosigkeit der Entscheid zu Ungunsten des Empfängers ausfällt, der den Erhalt der Abholungseinladung bestreitet. Diese Vermutung kann durch den Gegenbeweis umgestossen werden. Sie gilt so lange, als der Empfänger nicht den Nachweis einer überwiegenden Wahrscheinlichkeit von Fehlern bei der Zustellung erbringt. Verlangt wird, dass konkrete Anzeichen für einen Fehler vorhanden sind (BGE 142 IV 201 E. 2.3; 142 III 599 E. 2.4.1; Urteil 6B_674/2019 vom 19. September 2019 E. 1.4.1; je mit Hinweisen). 
 
1.2. Die Sanktionierung der Nichteinhaltung einer Verfahrensfrist stellt keinen überspitzten Formalismus dar, da eine strikte Anwendung der Regeln über die Fristen aus Gründen der Gleichbehandlung und des öffentlichen Interesses an einer guten Rechtspflege und am Rechtssicherheit gerechtfertigt ist (Urteile 6B_16/2022 vom 26. Januar 2023 E. 1.1, zur Publikation vorgesehen; 6B_1079/2021 vom 22. November 2021 E. 2.1 mit weiteren Hinweisen, zur Publikation vorgesehen; 6B_659/2021 vom 24. Februar 2022 E. 2.1; vgl. auch die Urteile des EGMR Üçdag gegen Türkei vom 31. August 2021, § 38; Sabri Günes gegen Türkei vom 29 Juni 2012, §§ 39 ff. und 56 f.).  
 
1.3. Die Vorinstanz hat sich zutreffend auf diese Grundsätze bezogen und Folgendes erwogen:  
Der Einwand des Beschwerdeführers, die Staatsanwaltschaft habe ihn nicht darauf hingewiesen, dass er mit fristauslösenden Zustellungen rechnen müsse, sei unbeachtlich. Denn der Strafbefehl sei innerhalb von vier Monaten nach der polizeilichen Einvernahme ergangen, in der der Beschwerdeführer über den Fortgang des Verfahrens bei der Staatsanwaltschaft unterrichtet worden sei. Er habe daher jederzeit mit einer solchen Zustellung rechnen müssen. 
Auch mit dem Einwand, keine Abholungseinladung erhalten zu haben, könne der Beschwerdeführer nicht durchdringen, da es keine objektiven Anhaltspunkte für eine fehlerhafte Postzustellung gebe. Es sei auf das Suchsystem "Track and Trace" der Post abzustellen. Bei Vorliegen des Vermerks "zur Abholung gemeldet" dürfe vermutet werden, dass eine Abholungseinladung in den Briefkasten eingelegt worden sei. Denn wenn die Post bereits über ein derartiges Nachweissystem für die Zustellung von Einschreibsendungen verfüge und dieses im konkreten Fall auch angewendet habe, dürfe grundsätzlich auf diese Vermerke abgestellt werden. Um die Vermutung zu widerlegen, dass der Postbedienstete die Abholungseinladung ordnungsgemäss in den Briefkasten oder das Postfach des Empfängers eingelegt hat und das Zustellungsdatum richtig registriert wurde, müssten konkrete Anhaltspunkte für einen Fehler vorliegen. Zur Widerlegung der fiktiven Zustellung könne sich der Beschwerdeführer nicht pauschal darauf berufen, dass seine Ehefrau den Strafbefehl ebenfalls nicht per B-Post erhalten habe oder dass es in der Ehe Streitigkeiten gebe, weshalb es denkbar sei, dass die Ehefrau ihm den Strafbefehl nicht übergeben habe. Dies seien reine Behauptungen und Spekulationen, die nicht durch Tatsachen belegt seien und als solche nicht ausreichten. Vermutungen müssten auf plausiblen Indizien beruhen, aus denen sich die konkrete Möglichkeit der Nichtzustellung des Einschreibens ergebe. An diesem Ergebnis änderten auch die vom Beschwerdeführer behaupteten Nachforschungen nichts, da nicht dargelegt werde, worin diese konkret bestanden hätten. 
Im vorliegenden Fall liege ein Sendungsprotokoll ("Track and Trace") der Schweizerischen Post bei den Akten. In Kombination mit dem von der Staatsanwaltschaft eingereichten Barcode ergebe sich daraus, dass diese den am 1. Dezember 2021 erlassenen Strafbefehl am 3. Dezember 2021 der Schweizerischen Post übergeben habe. Die Post habe die Sendung dem Beschwerdeführer am 6. Dezember 2021 nicht zustellen können und gemäss den elektronisch erfassten Sendungsdaten eine Abholungseinladung hinterlassen. Bis zum Ablauf der Abholfrist am 13. Dezember 2021 habe der Beschwerdeführer die Sendung nicht abgeholt, weshalb die Post die Sendung an die Staatsanwaltschaft zurückgesandt habe. Der Strafbefehl gelte mit unbenutztem Ablauf der Abholfrist am 13. Dezember 2021 als zugestellt, so dass die über seinen Verteidiger erhobene und am 26. Januar 2022 der Post übergebene Einsprache nach Ablauf der zehntägigen Einsprachefrist und damit viel zu spät erfolgt sei. 
 
1.4. Die beiden Einwände des Beschwerdeführers gegen diese zutreffenden Erwägungen sind ohne Erfolg:  
So macht er geltend, er sei anlässlich der polizeilichen Einvernahme vom 12. August 2021 zwar darauf hingewiesen worden, dass eine Meldung an die zuständige Staatsanwaltschaft erfolgen werde, nicht aber darauf, dass er mit fristauslösenden Zustellungen zu rechnen habe. Dieser Einwand ist - wie bereits die Vorinstanz ausgeführt hat - unbegründet: Wer von der Polizei einvernommen und dabei darauf hingewiesen wird, dass gegen ihn ein Strafverfahren eröffnet worden ist, weiss um die Begründung eines entsprechenden Prozessrechtsverhältnisses und muss jederzeit mit dem Zugang fristauslösender Prozesshandlungen rechnen. 
Weiter wendet er sich gegen die vorinstanzliche Sachverhaltsfeststellung, wonach ihm eine Abholungseinladung in den Briefkasten gelegt worden sei. Mit den entsprechenden Rügen verkennt er indessen den Grundsatz der Bindung des Bundesgerichts an den vorinstanzlich festgestellten Sachverhalt gemäss Art. 105 Abs. 1 BGG: Jedenfalls legt er nicht in einer den strengen Begründungsanforderungen von Art. 106 Abs. 2 BGG genügenden Weise dar, weshalb die vorinstanzliche Sachverhaltsfeststellung nicht nur unrichtig, sondern schlechthin unvertretbar, d.h. willkürlich sein soll. 
 
2.  
Die Beschwerde erweist sich als unbegründet, soweit sie überhaupt zulässige Rügen enthält. 
Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege ist aussichtslos. Die Gerichtskosten sind dem Beschwerdeführer aufzuerlegen (Art. 66 Abs. 1 BGG). Seiner finanziellen Lage ist durch eine reduzierte Gerichtsgebühr Rechnung zu tragen (Art. 65 Abs. 2 BGG). 
 
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:  
 
1.  
Die Beschwerde wird abgewiesen, soweit darauf eingetreten wird. 
 
2.  
Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege wird abgewiesen. 
 
3.  
Die Gerichtskosten von Fr. 1'200.-- werden dem Beschwerdeführer auferlegt. 
 
4.  
Dieses Urteil wird den Parteien und dem Obergericht des Kantons Solothurn, Beschwerdekammer, schriftlich mitgeteilt. 
 
 
Lausanne, 30. März 2023 
 
Im Namen der Strafrechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
 
Die Präsidentin: Jacquemoud-Rossari 
 
Der Gerichtsschreiber: Stadler