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Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
{T 0/2} 
8C_139/2010 
 
Urteil vom 30. Juni 2010 
I. sozialrechtliche Abteilung 
 
Besetzung 
Bundesrichter Ursprung, Präsident, 
Bundesrichterinnen Leuzinger, Niquille, 
Gerichtsschreiber Jancar. 
 
Verfahrensbeteiligte 
X.________, 
vertreten durch Rechtsanwalt Philip Stolkin, 
Beschwerdeführer, 
 
gegen 
 
Schweizerische Unfallversicherungsanstalt (SUVA), Fluhmattstrasse 1, 6004 Luzern, 
Beschwerdegegnerin. 
 
Gegenstand 
Unfallversicherung (vorinstanzliches Verfahren, Invalidenrente, Integritätsentschädigung), 
 
Beschwerde gegen den Entscheid 
des Kantonsgerichts Freiburg 
vom 23. Dezember 2009. 
 
Sachverhalt: 
 
A. 
A.a Der 1964 geborene X.________ arbeitete als Maurer bei der Bauunternehmung A.________ AG und war damit bei der Schweizerischen Unfallversicherungsanstalt (SUVA) obligatorisch unfallversichert, als er am 30. April 1992 eine Traktionsverletzung der rechten Schulter mit Ansatztendinosen periscapulär und subacromialem posttraumatischem Impingement-Syndrom erlitt. Die Behandlung erfolgte konservativ. Ab 18. Mai 1992 bestand wieder volle Arbeitsfähigkeit. Der Versicherte arbeitete ab 16. März 1998 als Maurer bei der Firma B.________ AG und nebenberuflich seit 8. Juni 2002 als Raumpfleger bei der Reinigungsfirma C.________ AG. Bei diesen Firmen war er ebenfalls bei der SUVA obligatorisch unfallversichert. Am 29. Juni 2002 rutschte er von einer Leiter und zog sich eine Rissquetschwunde am linken Oberschenkel mit Beteiligung der Muskulatur, aber ohne Gefäss- und Nervenläsion zu. Gleichentags wurde er im Spital Y.________ operiert (Débridement und primärer Wundverschluss). Die SUVA erbrachte die gesetzlichen Leistungen (Heilbehandlung und Taggeld). Mit Verfügung vom 19. November 2003 stellte sie die Leistungen für die Folgen des Unfalls vom 29. Juni 2002 per 23. November 2003 ein. Dagegen erhoben der Versicherte und sein Krankenversicherer Einsprache. Letzterer zog sie zurück. Die SUVA holte weitere Arztberichte sowie die von der IV-Stelle des Kantons Freiburg eingeholten Gutachten des Neurologen Dr. H.________ vom 7. Februar 2005 und des Psychiaters Dr. med. E.________ vom 23. Januar 2006 ein. Am 30. Mai 2006 war der Versicherte in einen Autounfall verwickelt; das Spital Z.________ diagnostizierte am 31. Mai 2006 eine Distorsion der Halswirbelsäule. Mit Entscheid vom 8. Januar 2007 wies die SUVA die Einsprache ab. Sie führte aus, per verfügtes Datum hätten aus den Unfällen vom 30. April 1992 und 29. Juni 2002 keine organischen Folgen mehr vorgelegen. Die psychischen Beschwerden seien nicht natürlich kausal auf den erstgenannten Unfall zurückzuführen; ob eine natürliche Kausalität zum zweitgenannten Ereignis bestehe, könne offenbleiben, da die adäquate Kausalität zu verneinen sei. 
A.b Mit Verfügung vom 24. Juli 2007 verneinte die IV-Stelle den Rentenanspruch des Versicherten (Invaliditätsgrad 24 %). Die dagegen erhobene Beschwerde wies das Kantonsgericht Freiburg mit Entscheid vom 23. Dezember 2009 ab. Diese Sache ist Gegenstand des bundesgerichtlichen Verfahrens 8C_143/2010. 
 
B. 
Gegen den Einspracheentscheid der SUVA vom 8. Januar 2007 erhob der Versicherte Beschwerde. Die SUVA legte einen Bericht des Psychiaters Dr. med. W.________ vom 7. Dezember 2004 auf. Mit Entscheid vom 23. Dezember 2009 wies das kantonale Gericht die Beschwerde ab. 
 
C. 
Mit Beschwerde beantragt der Versicherte, in Aufhebung des kantonalen Entscheides sei die SUVA anzuweisen, ihm die Taggelder rückwirkend per 19. November 2009 auszubezahlen; eventuell sei sie anzuweisen, ihm eine Rente sowie eine Integritätsentschädigung auf der Basis von je 100 % zuzusprechen; subeventuell sei die Sache an die Vorinstanz zur Neuabklärung zurückzuweisen; es sei ihm die unentgeltliche Rechtspflege zu gewähren. 
Die SUVA schliesst auf Beschwerdeabweisung. Das Bundesamt für Gesundheit verzichtet auf eine Vernehmlassung. 
 
Erwägungen: 
 
1. 
1.1 Der Beschwerdeführer macht geltend, der Sachverhalt sei nicht vollumfänglich geklärt. Die Vorinstanz hätte nebst einem Gutachten auch eine öffentliche Verhandlung im Sinne von Art. 6 EMRK anordnen müssen. 
 
1.2 Vorinstanzlich hat der Versicherte unter anderem beantragt, es sei eine öffentliche Verhandlung durchzuführen; sein Rechtsvertreter sei zum Plädoyer zuzulassen. 
Die Vorinstanz hat erwogen, dies sei ein unmissverständlicher Antrag auf eine öffentliche Verhandlung im Sinne von Art. 6 Ziff. 1 EMRK. Sie hat deren Durchführung aber unter Hinweis auf die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte (EGMR) sowie des Bundesgerichts resp. des Eidg. Versicherungsgerichts (seit 1. Januar 2007: I. und II. sozialrechtliche Abteilung des Bundesgerichts) abgelehnt, denn das aus medizinischen Laien bestehende Gericht sei nicht in der Lage, aus dem persönlichen Eindruck der Partei eine verlässlichere Beurteilung zu gewinnen als aus dem Studium der medizinischen Akten. Das Gericht lehnte sodann in antizipierter Würdigung weitere Beweismassnahmen ab, insbesondere die beantragte Einvernahme des Versicherten und die verlangte Befragung des Hausarztes, da das medizinische Dossier vollständig sei. 
 
2. 
2.1 Nach Art. 6 Ziff. 1 EMRK hat jedermann Anspruch darauf, dass seine Sache in billiger Weise öffentlich und innerhalb einer angemessenen Frist von einem unabhängigen und unparteiischen, auf Gesetz beruhenden Gericht gehört wird, das über zivilrechtliche Ansprüche und Verpflichtungen oder über die Stichhaltigkeit der gegen ihn erhobenen strafrechtlichen Anklage zu entscheiden hat (Satz 1). 
Das kantonale Gericht, welchem es primär obliegt, die Öffentlichkeit der Verhandlung zu gewährleisten (BGE 122 V 47 E. 3 S. 54), hat bei Vorliegen eines klaren und unmissverständlichen Parteiantrages grundsätzlich eine öffentliche Verhandlung durchzuführen (BGE 122 V 47 E. 3a und b S. 55 f.). Von einer ausdrücklich beantragten öffentlichen Verhandlung kann abgesehen werden, wenn der Antrag der Partei als schikanös erscheint oder auf eine Verzögerungstaktik schliessen lässt und damit dem Grundsatz der Einfachheit und Raschheit des Verfahrens zuwiderläuft oder sogar rechtsmissbräuchlich ist. Gleiches gilt, wenn sich ohne öffentliche Verhandlung mit hinreichender Zuverlässigkeit erkennen lässt, dass eine Beschwerde offensichtlich unbegründet oder unzulässig ist (BGE 122 V 47 E. 3b/cc und dd S. 56). Als weiteres Motiv für die Verweigerung einer beantragten öffentlichen Verhandlung fällt die hohe Technizität der zur Diskussion stehenden Materie in Betracht. Schliesslich kann das kantonale Gericht von einer öffentlichen Verhandlung absehen, wenn es auch ohne eine solche allein aufgrund der Akten zum Schluss gelangt, dass dem materiellen Rechtsbegehren der bezüglich der Verhandlung antragstellenden Partei zu entsprechen ist (BGE 122 V 47 E. 3b/ee und ff S. 57 f.; Urteil 9C_1034/2009 vom 8. Juni 2010 E. 2.2). 
 
2.2 Beim vorliegenden Prozess betreffend Taggelder, eine Rente und eine Integritätsentschädigung der Unfallversicherung handelt es sich um eine Streitigkeit über einen zivilrechtlichen Anspruch im Sinne von Art. 6 Ziff. 1 EMRK (BGE 125 V 499 E. 2a S. 501, 122 V 47 E. 2a S. 50 mit Hinweisen; SVR 2006 IV Nr. 1 E. 3.3 [I 573/03]). Ferner liegt auch ein rechtzeitig gestellter, unmissverständlicher Antrag auf Durchführung einer öffentlichen Verhandlung vor (BGE 122 V 47 E. 3b/bb S. 56; vgl. Urteil 9C_1034/2009 E. 2.3). 
 
2.3 Das Bundesgericht hat sich im Urteil BGE 9C_870/2009 vom 8. Juni 2010 eingehend mit der - als nicht einheitlich erkannten - Rechtsprechung sowohl des EGMR als auch des Bundesgerichts und des Eidg. Versicherungsgerichts zum Verzicht auf eine beantragte öffentliche Verhandlung im erstinstanzlichen Beschwerdeverfahren betreffend sozialversicherungsrechtliche Ansprüche auseinandergesetzt. Es hat entschieden, dass in Verfahren mit hauptsächlich medizinischer Fragestellung eine bessere Eignung des schriftlichen Verfahrens nicht erkennbar sei, auch wenn Gegenstand in einer allfälligen Verhandlung einzig die Auseinandersetzung mit den vorhandenen Stellungnahmen von Ärztinnen und Ärzten zu Gesundheitsschaden und Grad der Arbeitsunfähigkeit bildet. Es handle sich bei der Würdigung solcher medizinischer Berichte und der Beurteilung der Beweiskraft einander widersprechender ärztlicher Aussagen um eine auf dem Gebiet des Sozialversicherungsrechts alltägliche und damit nicht um eine "hochtechnische" Thematik im Sinne der Rechtsprechung (vgl. Urteil BGE 9C_870/2009 E. 3.2; Urteil 9C_1034/2009 E. 2.4). 
In diesem Lichte sind die Voraussetzungen für einen Verzicht auf die vom Versicherten in der Beschwerde an die Vorinstanz ausdrücklich beantragte Durchführung einer öffentlichen Verhandlung nicht gegeben. Weder ist der Antrag schikanös, noch läuft er dem Grundsatz der Einfachheit und Raschheit des Verfahrens zuwider. Sodann kann das Rechtsmittel nicht als offensichtlich unbegründet oder unzulässig bezeichnet werden, was denn auch seitens der Vorinstanz nicht angenommen wurde. Von hoher Technizität kann im vorliegenden Fall ebenfalls nicht gesprochen werden: Streitig ist, ob beim Versicherten natürlich- und erforderlichenfalls adäquat-unfallkausale gesundheitliche Störungen (vgl. BGE 134 V 109 E. 2.1 S. 111 f.) vorliegen und bejahendenfalls, inwieweit sie sich auf seine Arbeitsfähigkeit und Integrität auswirken. Damit liegt ein Streit vor, der keine Ausnahme von der Pflicht, eine öffentliche Verhandlung durchzuführen, begründet. 
Indem die Vorinstanz unter diesen Umständen von der beantragten öffentlichen Verhandlung abgesehen hat, wurde dieser in Art. 6 Ziff. 1 EMRK gewährleisteten Verfahrensgarantie nicht Rechnung getragen. Es ist daher unumgänglich, die Sache an sie zurückzuweisen, damit sie den Verfahrensmangel behebt und die vom Beschwerdeführer verlangte öffentliche Verhandlung durchführt. Hernach wird es über die Beschwerde materiell neu befinden (vgl. Urteil 9C_1034/2009 E. 2.5 f.). 
 
3. 
Dem Prozessausgang entsprechend sind die Gerichtskosten der unterliegenden SUVA aufzuerlegen. Sie hat dem Beschwerdeführer überdies eine - im Hinblick auf den parallelen Fall (8C_143/2010) reduzierte - Parteientschädigung zu bezahlen (Art. 66 Abs. 1, Art. 68 Abs. 1 und 2 BGG; vgl. Urteil 9C_1034/2009 E. 3). Damit wird sein Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege gegenstandslos. 
 
Demnach erkennt das Bundesgericht: 
 
1. 
Die Beschwerde wird in dem Sinne teilweise gutgeheissen, als der Entscheid des Kantonsgerichts Freiburg vom 23. Dezember 2009 aufgehoben wird. Die Sache wird an dieses zurückgewiesen, damit es im Sinne der Erwägungen verfahre. 
 
2. 
Die Gerichtskosten von Fr. 750.- werden der Beschwerdegegnerin auferlegt. 
 
3. 
Die Beschwerdegegnerin hat den Beschwerdeführer für das bundesgerichtliche Verfahren mit Fr. 1'800.- zu entschädigen. 
 
4. 
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Kantonsgericht Freiburg, Sozialversicherungsgerichtshof, und dem Bundesamt für Gesundheit schriftlich mitgeteilt. 
 
Luzern, 30. Juni 2010 
Im Namen der I. sozialrechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
Der Präsident: Der Gerichtsschreiber: 
 
Ursprung Jancar