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Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
{T 0/2} 
1B_406/2012 
 
Urteil vom 31. Juli 2012 
I. öffentlich-rechtliche Abteilung 
 
Besetzung 
Bundesrichter Fonjallaz, Präsident, 
Bundesrichter Karlen, Chaix, 
Gerichtsschreiber Dold. 
 
Verfahrensbeteiligte 
X.________, Beschwerdeführer, vertreten durch Rechtsanwältin Andrea Meier, 
 
gegen 
 
Staatsanwaltschaft Zofingen-Kulm, 
Untere Grabenstrasse 32, 4800 Zofingen. 
 
Gegenstand 
Sicherheitshaft, 
 
Beschwerde gegen die Verfügung vom 4. Juni 2012 des Obergerichts des Kantons Aargau, Strafgericht, 
1. Kammer. 
 
Sachverhalt: 
 
A. 
X.________ befindet sich seit dem 8. Juli 2011 in Untersuchungshaft und im vorzeitigen Strafvollzug. Mit Urteil vom 30. Mai 2012 sprach ihn das Bezirksgericht Zofingen-Kulm des gewerbsmässigen Betrugs, des versuchten gewerbsmässigen Betrugs, der Irreführung der Rechtspflege sowie der Widerhandlungen gegen das Ausländergesetz schuldig und verurteilte ihn zu einer Freiheitsstrafe von 12 Monaten und einer Busse von Fr. 900.--. Die Untersuchungshaft und der vorzeitige Strafvollzug, insgesamt 328 Tage, wurden auf die Freiheitsstrafe angerechnet. Gleichentags beschloss das Bezirksgericht, der vorzeitige Strafvollzug werde widerrufen und der Beschuldigte freigelassen. Ebenfalls am 30. Mai 2012 beantragte die Staatsanwaltschaft Zofingen-Kulm die Fortsetzung der Sicherheitshaft. Mit Verfügung vom 4. Juni 2012 hiess das Obergericht des Kantons Aargau den Antrag gut und ordnete die Sicherheitshaft bis am 30. November 2012 an. 
 
B. 
Mit Beschwerde in Strafsachen vom 5. Juli 2012 beantragt X.________, die Verfügung des Obergerichts sei aufzuheben und er selbst sei unverzüglich aus der Sicherheitshaft zu entlassen. Eventualiter sei eine Sicherheitshaft von maximal zwei Monaten anzuordnen. Subeventualiter sei die Sache zur Neubeurteilung an die Vorinstanz zurückzuweisen. 
 
Die Staatsanwaltschaft und das Obergericht haben auf eine Vernehmlassung verzichtet. 
 
Erwägungen: 
 
1. 
Das Obergericht hat in der angefochtenen Verfügung gestützt auf Art. 231 Abs. 2 StPO die Fortsetzung der Sicherheitshaft angeordnet (vgl. dazu Urteil 1B_525/2011 vom 13. Oktober 2011 E. 2 mit Hinweisen). Dagegen ist die Beschwerde in Strafsachen das zutreffende Rechtsmittel (Art. 78 Abs. 1 BGG). Die übrigen Sachurteilsvoraussetzungen geben zu keinen Bemerkungen Anlass. Auf die Beschwerde ist einzutreten. 
 
2. 
2.1 Gemäss Art. 221 Abs. 1 StPO sind Untersuchungs- und Sicherheitshaft nur zulässig, wenn die beschuldigte Person eines Verbrechens oder Vergehens dringend verdächtig ist und ernsthaft zu befürchten ist, dass sie sich durch Flucht dem Strafverfahren oder der zu erwartenden Sanktion entzieht (lit. a), Personen beeinflusst oder auf Beweismittel einwirkt, um so die Wahrheitsfindung zu beeinträchtigen (lit. b), oder durch schwere Verbrechen oder Vergehen die Sicherheit anderer erheblich gefährdet, nachdem sie bereits früher gleichartige Straftaten verübt hat (lit. c). Untersuchungs- und Sicherheitshaft dürfen nicht länger dauern als die zu erwartende Freiheitsstrafe (Art. 212 Abs. 3 StPO). Sie sind aufzuheben, sobald ihre Voraussetzungen nicht mehr erfüllt sind (Art. 212 Abs. 2 lit. a StPO). An Stelle der Untersuchungshaft sind Ersatzmassnahmen anzuordnen, wenn sie den gleichen Zweck wie die Haft erfüllen (Art. 212 Abs. 2 lit. c und Art. 237 ff. StPO). 
 
2.2 Der Beschwerdeführer wendet sich nicht gegen die Annahme eines dringenden Tatverdachts. Er macht indessen geltend, es liege entgegen der Ansicht des Obergerichts keine Fluchtgefahr vor. Er habe die deutsche Staatsangehörigkeit. Auch wenn er sich schon in Syrien, der Türkei und anderen Ländern aufgehalten habe, lebe er normalerweise in Deutschland oder der Schweiz. Somit könnte er sich kaum dem Vollzug einer Freiheitsstrafe entziehen. Ein unstetes Leben begründe nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts noch keine Fluchtgefahr. Zudem dauere der angeordnete Freiheitsentzug zu lange. Es liege ein erstinstanzliches Urteil in der Sache vor und darauf sei grundsätzlich abzustellen. Vorliegend sei insbesondere zu berücksichtigen, dass der Deliktsbetrag lediglich Fr. 9'000.-- betrage. Das Obergericht habe sich mit diesem Umstand und auch sonst mit dem erstinstanzlichen Urteil nicht auseinandergesetzt. Zudem habe es die Möglichkeit einer bedingten Entlassung nicht in Betracht gezogen. 
 
2.3 Das Obergericht legt dar, der Beschwerdeführer sei im Januar 2010 unter falschem Namen in die Schweiz eingereist und habe als angeblich syrischer Asylbewerber in einer Asylbewerberunterkunft gelebt. Er habe angegeben, seine Angehörigen und Freunde würden in Syrien und im Irak wohnen. In der Schweiz kenne er einzig einen Freund, den er in der Asylbewerberunterkunft kennengelernt habe. Er übe keine Erwerbstätigkeit aus und habe hier auch kein Vermögen. Feste soziale Beziehungen bestünden somit nicht. Aufgrund der ihm drohenden Ausschaffung habe er keinen Grund, den Ausgang des Berufungsverfahrens abzuwarten, zumal er bei einer nicht auszuschliessenden Gutheissung der Anträge der Staatsanwaltschaft mit einer sehr viel höheren Freiheitsstrafe rechnen müsse. Es liege auch keine Überhaft vor. Die Staatsanwaltschaft habe eine Freiheitsstrafe von 2 1/2 Jahren beantragt. Wenn sie damit durchdringe, so läge selbst bei der Berücksichtigung der Möglichkeit der bedingten Entlassung keine Überhaft vor. 
 
2.4 Es trifft zu, dass ein "unstetes" Leben im Sinne eines Aufenthalts in verschiedenen Ländern allein keine Fluchtgefahr zu begründen vermag (vgl. Urteil 1B_20/2012 vom 1. Februar 2012 E. 2.2.2). Vorliegend ist indessen zu berücksichtigen, dass der Beschwerdeführer unter einer falschen Identität in die Schweiz eingereist ist und sich hier aufgehalten hat. Auch droht ihm nach den unbestrittenen Feststellungen der Vorinstanz die Ausschaffung. Welche Bedeutung diese Umstände und die fehlende Verankerung in der Schweiz für die Fluchtgefahr haben, kann indessen offen gelassen werden. Wie im Folgenden darzulegen ist, ist die Beschwerde wegen Überhaft gutzuheissen. 
 
2.5 Das in Art. 212 Abs. 3 StPO verankerte Verbot der Überhaft ergibt sich aus dem Grundsatz der Verhältnismässigkeit. Die Haftdauer darf nicht in grosse Nähe zur zu erwartenden Freiheitsstrafe rücken, um diese nicht zu präjudizieren (BGE 133 I 168 E. 4.1 S. 170 f.; 132 I 21 E. 4.1 S. 27 f.; je mit Hinweisen). 
 
In Fällen, wo ein erstinstanzliches Urteil vorliegt, ist für die Beurteilung der Haftdauer grundsätzlich auf dieses abzustellen. Davon ausgehend ist zu prüfen, ob die Berufungsinstanz eine schärfere Strafe aussprechen könnte (Urteile 1B_338/2010 vom 12. November 2010 E. 3.2; 1B_122/2009 vom 10. Juni 2009 E. 2; je mit Hinweisen). Dies gilt auch dann, wenn wie hier die Begründung des erstinstanzlichen Urteils noch ausstehend ist. 
 
Der Beschwerdeführer hat bereits jetzt einen längeren Freiheitsentzug erlitten, als ihm bei Bestätigung des erstinstanzlichen Urteils drohen würde. Die Vorinstanz hat sich zum ergangenen bzw. zu erwartenden Urteil nicht substanziell geäussert. Stattdessen hat sie lediglich auf den Antrag der Staatsanwaltschaft abgestellt und es unter Hinweis auf die Vielzahl der Delikte und die einschlägigen Vorstrafen in Deutschland als "nicht ausgeschlossen" bezeichnet, dass eine empfindlich höhere Strafe ausgesprochen werden könnte. Auch dem Antrag der Staatsanwaltschaft an die Vorinstanz vom 30. Mai 2012 lässt sich diesbezüglich nur wenig Konkretes entnehmen. Die Staatsanwaltschaft verweist auf den Umstand, dass eine Minderheit des erstinstanzlichen Gerichts eine Freiheitsstrafe von zwei Jahren als angemessen erachtet habe und argumentiert weiter, gewerbsmässiger Betrug könne mit bis zu 15 Jahren Freiheitsentzug bestraft werden. Auf die vom Beschwerdeführer ins Feld geführte geringe Höhe des Deliktsbetrags geht weder das Obergericht noch die Staatsanwaltschaft ein. 
 
Auch wenn davon auszugehen wäre, dass die Berufungsinstanz die erstinstanzlich ausgefällte Strafe leicht erhöhen wird, rückte der erstandene Freiheitsentzug bereits jetzt in grosse Nähe dazu. Um eine Aufrechterhaltung der Haft zu rechtfertigen, müssten deshalb konkrete Anhaltspunkte für eine erhebliche Erhöhung der erstinstanzlich ausgefällten Strafe bestehen. Solche werden jedoch weder von der Vorinstanz noch von der Staatsanwaltschaft vorgebracht. Der Berufungsantrag der Staatsanwaltschaft auf eine Straferhöhung, der Hinweis auf die Ansicht einer Minderheit des erstinstanzlichen Gerichts und auf den abstrakten Strafrahmen für gewerbsmässigen Betrug reichen für die Rechtfertigung der Annahme einer erheblichen Straferhöhung nicht aus. 
 
Unter diesen Voraussetzungen stellt die Fortdauer der Sicherheitshaft eine Verletzung von Art. 212 Abs. 3 StPO dar. 
 
3. 
Die Beschwerde ist gutzuheissen, der angefochtene Entscheid aufzuheben und der Beschwerdeführer aus der Sicherheitshaft zu entlassen. Diesem Ausgang des Verfahrens entsprechend sind im bundesgerichtlichen Verfahren keine Kosten zu erheben (Art. 66 Abs. 1 und 4 BGG). Der Kanton Aargau hat dem Beschwerdeführer für das vorinstanzliche Verfahren und das Verfahren vor Bundesgericht eine angemessene Parteientschädigung zu bezahlen (Art. 68 Abs. 1, 2 und 5 BGG). Damit erweist sich das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege als gegenstandslos. 
 
Demnach erkennt das Bundesgericht: 
 
1. 
Die Beschwerde wird gutgeheissen und der angefochtene Entscheid aufgehoben. Der Beschwerdeführer wird unverzüglich aus der Sicherheitshaft entlassen. 
 
2. 
Es werden keine Gerichtskosten erhoben. 
 
3. 
Der Kanton Aargau hat den Beschwerdeführer für das Verfahren vor dem Obergericht des Kantons Aargau und für das bundesgerichtliche Verfahren mit insgesamt Fr. 2'500.-- zu entschädigen. 
 
4. 
Dieses Urteil wird dem Beschwerdeführer, der Staatsanwaltschaft Zofingen-Kulm und dem Obergericht des Kantons Aargau, Strafgericht, 1. Kammer, schriftlich mitgeteilt. 
 
Lausanne, 31. Juli 2012 
Im Namen der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
 
Der Präsident: Fonjallaz 
 
Der Gerichtsschreiber: Dold