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Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
 
 
 
8C_206/2017  
   
   
 
 
 
Urteil vom 9. Juni 2017  
 
I. sozialrechtliche Abteilung  
 
Besetzung 
Bundesrichter Maillard, Präsident, 
Bundesrichter Frésard, Bundesrichterin Viscione, 
Gerichtsschreiber Hochuli. 
 
Verfahrensbeteiligte 
A.________, 
vertreten durch Rechtsanwältin Sibylle Zingg Righetti, 
Beschwerdeführerin, 
 
gegen  
 
IV-Stelle Bern, 
Scheibenstrasse 70, 3014 Bern, 
Beschwerdegegnerin. 
 
Gegenstand 
Invalidenversicherung, 
 
Beschwerde gegen den Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Bern 
vom 8. Februar 2017. 
 
 
Sachverhalt:  
 
A.   
A.________, geboren 1989, meldete sich am 1. März 2013 wegen anhaltender Arbeitsunfähigkeit seit Mai 2012 bei der IV-Stelle Bern zum Leistungsbezug an. Nach erwerblichen und medizinischen Abklärungen verneinte die IV-Stelle einen Leistungsanspruch (Verfügung vom 10. Juni 2016). 
 
B.   
Die hiegegen erhobene Beschwerde der A.________ wies das Verwaltungsgericht des Kantons Bern ab (Entscheid vom 8. Februar 2017). 
 
C.   
Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten lässt A.________ beantragen, die IV-Stelle habe ihr unter Aufhebung des angefochtenen Entscheides die gesetzlichen Leistungen zu erbringen. Eventualiter sei eine neue Begutachtung anzuordnen und die Sache zur Neubeurteilung an die IV-Stelle zurückzuweisen. 
Während die IV-Stelle auf Abweisung der Beschwerde schliesst, verzichtet das Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV) auf eine Vernehmlassung. 
 
 
Erwägungen:  
 
1.   
Mit der Beschwerde kann eine Rechtsverletzung nach Art. 95 f. BGG geltend gemacht werden. Das Bundesgericht wendet das Recht von Amtes wegen an (Art. 106 Abs. 1 BGG) und ist folglich weder an die in der Beschwerde geltend gemachten Argumente noch an die Erwägungen der Vorinstanz gebunden (BGE 134 I 65 E. 1.3 S. 67 f.; 134 V 250 E. 1.2 S. 252, je mit Hinweisen). Trotzdem prüft es - vorbehältlich offensichtlicher Fehler - nur die in seinem Verfahren geltend gemachten Rechtswidrigkeiten (Art. 42 Abs. 1 und 2 BGG; BGE 135 II 384    E. 2.2.1 S. 389). Es legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG). Es kann deren Sachverhaltsfeststellung nur berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht und wenn die Behebung des Mangels für den Ausgang des Verfahrens entscheidend sein kann (Art. 97 Abs. 1 BGG in Verbindung mit Art. 105 Abs. 2 BGG). 
 
2.   
Streitig ist, ob das kantonale Gericht Bundesrecht verletzte, indem es bei gegebener Aktenlage die Verfügung der IV-Stelle vom 10. Juni 2016 bestätigte, wonach ein anspruchsrelevanter Gesundheitsschaden auszuschliessen sei. Verwaltung und Vorinstanz stützten sich hinsichtlich der Feststellung des Gesundheitszustandes zwar auf die Erkenntnisse gemäss interdisziplinärem Gutachten des Zentrums für Medizinische Begutachtung in Basel (ZMB) vom 10. Juni 2014 (nachfolgend: ZMB-Gutachten). In Bezug auf die Arbeitsfähigkeit wichen sie jedoch davon ab und stellten ausschlaggebend auf die beiden reinen Aktenbeurteilungen der Dr. med. B.________, Fachärztin für Neurologie, Psychiatrie und Psychotherapie des Regionalen Ärztlichen Dienstes (RAD) der Invalidenversicherung in Bern, vom 11. Dezember 2015 und 31. Mai 2016 ab. 
 
3.   
Das kantonale Gericht hat die für die Beurteilung der Streitsache massgeblichen materiell- und beweisrechtlichen Grundlagen gemäss Gesetz und Rechtsprechung zutreffend dargelegt. Dies betrifft namentlich die Bestimmungen und Grundsätze zu den Begriffen der Erwerbsunfähigkeit (Art. 7 ATSG) und der Invalidität (Art. 8 Abs. 1 ATSG in Verbindung mit Art. 4 Abs. 1 IVG), zur Bestimmung des Invaliditätsgrades (Art. 16 ATSG) sowie zum Beweiswert und zur Beweiswürdigung medizinischer Berichte und Gutachten (BGE 134 V 231 E. 5.1 S. 232; 125 V 351 E. 3 S. 352 ff. mit Hinweisen). Darauf wird verwiesen. 
 
4.   
 
4.1. Laut ZMB-Gutachten blieb die Beschwerdeführerin auf Grund der idiopathischen Hypersomnie in einer reinen Bürotätigkeit seit Februar 2012 voll arbeitsunfähig. Hinsichtlich einer abwechslungsreichen Tätigkeit mit körperlicher Belastung und der Möglichkeit von vermehrten Pausen gingen die ZMB-Gutachter von einer 50%-igen Arbeitsfähigkeit aus. Mit Stellungnahme vom 11. Dezember 2015 zum ZMB-Gutachten führte die RAD-Ärztin dagegen aus, angesichts der Diskrepanzen zwischen den anamnestischen Angaben zur Müdigkeit einerseits und den fehlenden kognitiven Beeinträchtigungen sowie dem komplexen sozialen Aktivitätsniveau andererseits sei kein invalidisierender Gesundheitsschaden objektivierbar. Eine verkürzte Ein-schlafzeit sei nicht krankheitswertig. Eine Narkolepsie beziehungsweise ein imperativer Schlafdrang und ein obstruktives Schlafapnoe-Syndrom sowie periodische Beinbewegungen im Schlaf seien ausgeschlossen worden. Auch nach Kenntnisnahme von den Ergebnissen der schlafmedizinischen Abklärungen gemäss Berichten des Spitals C.________ vom 3. Juli 2015 und der Klinik D.________ vom 17. Januar 2016 hielt die RAD-Ärztin an ihrem Standpunkt fest (Bericht vom 31. Mai 2016).  
 
4.2. Zwar legte das kantonale Gericht im Rahmen der Beweiswürdigung zutreffend dar, auch die ZMB-Gutachter hätten anfänglich nur differenzialdiagnostisch "an eine idiopathische Hypersomnie gedacht" und ausführlich das anamnestisch hohe Aktivitätsniveau der Versicherten beschrieben. Dementsprechend nachvollziehbar ist denn auch die vorinstanzliche Schlussfolgerung, wonach das ZMB-Gutachten hinsichtlich der Arbeitsfähigkeitsbeurteilung nicht zu überzeugen vermag.  
 
4.3. Die Beschwerdeführerin rügt unter anderem eine Verletzung der Beweiswürdigungsregeln (Art. 61 lit. c ATSG) sowie eine offensichtlich unrichtige Sachverhaltsfeststellung. Sie macht geltend, die Vorinstanz habe Bundesrecht verletzt, indem sie in pflichtwidriger Beweiswürdigung den Aktenbeurteilungen der RAD-Ärztin im Gegensatz zum ZMB-Gutachten vollen Beweiswert zuerkannt habe.  
 
4.3.1. Fehlte es dem ZMB-Gutachten nach zutreffender Beweiswürdigung gemäss angefochtenem Entscheid an der nach BGE 125 V 351 E. 3a S. 352 erforderlichen Schlüssigkeit und Nachvollziehbarkeit hinsichtlich der Einschätzung der trotz des Gesundheitsschadens verbleibenden Leistungsfähigkeit, waren die Verwaltung (Art. 43 Abs. 1 ATSG) und - im Beschwerdefall - das kantonale Gericht (Art. 61 lit. c ATSG) grundsätzlich gehalten, nach Massgabe des Untersuchungsgrundsatzes die nötigen ergänzenden Abklärungen zwecks Bereinigung der Widersprüchlichkeiten und Diskrepanzen zu tätigen. Die Vorinstanz verletzte Bundesrecht, indem sie unter den gegebenen Umständen den beiden reinen Aktenbeurteilungen der RAD-Ärztin volle Beweiskraft hinsichtlich der Einschätzung der Arbeitsfähigkeit beimass. Denn der Beweiswert von RAD-Berichten nach Art. 49 Abs. 2 IVV ist nur - aber immerhin - dann mit jenem externer medizinischer Sachverständigengutachten vergleichbar, sofern sie den praxisgemässen Anforderungen an ein ärztliches Gutachten (BGE 134 V 231 E. 5.1 S. 232) genügen und die Arztperson über die notwendigen fachlichen Qualifikationen verfügt (BGE 137 V 210 E. 1.2.1 S. 219). Entgegen den erwähnten Anforderungen an ein ärztliches Gutachten hat die RAD-Ärztin die Versicherte nicht untersucht.  
 
4.3.2.   
 
4.3.2.1. Zwar verwies das kantonale Gericht auf die Rechtsprechung, wonach hier angeblich die Voraussetzungen erfüllt seien, um auf einen rechtsgenüglichen Aktenbericht ohne eigene Untersuchung durch die RAD-Ärztin abstellen zu können. Dieses Vorgehen setzt jedoch voraus, dass die reine Aktenbeurteilung auf einen an sich feststehenden medizinischen Sachverhalt abgestützt werden kann (RKUV 2006    Nr. U 578 S. 170, U 245/05 E. 3.4 i.f. mit Hinweis).  
 
4.3.2.2. Dies ist mit Blick auf die hier massgebenden tatsächlichen Verhältnisse schon auf Grund der Schwierigkeiten hinsichtlich der Diagnosestellung und der Diskrepanzen zwischen den anamnestischen Angaben und der diskutierten Schlafstörung (vgl. E. 4.2 hievor) zu verneinen. Angesichts der mit angefochtenem Entscheid zutreffend festgestellten Widersprüchlichkeiten und Inkonsistenzen gemäss ZMB-Gutachten waren zusätzliche Untersuchungsmassnahmen unumgänglich. Die Unsicherheiten hinsichtlich einer fachärztlich-einwandfrei zu diagnostizierenden Gesundheitsstörung (BGE 141 V 281 E. 2.1 S. 285 mit Hinweis), die Zweifel in Bezug auf die tatsächliche Einnahme des verordneten Tramadols, das Fehlen von kognitiven und/oder affektiven Störungen bei Geltendmachung eines krankhaft veränderten Schlaf-Wach-Rhythmus und der fragliche Krankheitswert der subjektiv geklagten Druckschmerzhaftigkeit der Muskulatur erforderten ergänzende Abklärungen insbesondere in Bezug auf die Frage nach einem tatsächlich invalidisierenden Gesundheitsschaden.  
 
4.3.3. Das kantonale Gericht hat demnach den Untersuchungsgrundsatz (Art. 61 lit. c ATSG) und die bundesrechtlichen Vorgaben an den Beweiswert und die Beweiswürdigung medizinischer Berichte und Gutachten (BGE 125 V 351 E. 3a S. 352) verletzt, indem es unter den gegebenen Umständen der reinen Aktenbeurteilung der Dr. med. B.________ volle Beweiskraft zuerkannte und auf ergänzende versicherungsexterne Abklärungen verzichtete. Mit Blick auf die gesamte Aktenlage fehlt es an einer den praxisgemässen Anforderungen genügenden (BGE 134 V 231 E. 5.1 S. 232; vgl. auch E. 3 hievor), zuverlässigen, widerspruchsfreien und schlüssigen fachärztlich-neurologisch-psychiatrisch-rheumatologischen Begutachtung mit Einschätzung der Arbeitsfähigkeit in Bezug auf die angestammte und eine leidensangepasste Tätigkeit unter Berücksichtigung sämtlicher Gesundheitsschäden. Das kantonale Gericht wird diese ergänzenden Abklärungen veranlassen und hernach über die vorinstanzliche Beschwerde neu entscheiden (vgl. SVR 2017 IV Nr. 13 S. 31, 8C_452/2016 E. 4.3).  
 
5.   
Die Rückweisung der Sache an die Verwaltung oder an das kantonale Gericht zu weiterer Abklärung (mit noch offenem Ausgang) gilt für die Frage der Auferlegung der Gerichtskosten wie auch der Parteientschädigung als vollständiges Obsiegen im Sinne von Art. 66 Abs. 1 sowie Art. 68 Abs. 1 und 2 BGG, unabhängig davon, ob sie beantragt oder ob das entsprechende Begehren im Haupt- oder im Eventualantrag gestellt wird (BGE 137 V 210 E. 7.1 S. 271). Entsprechend dem Ausgang des Verfahrens sind die Gerichtskosten daher der unterliegenden Beschwerdegegnerin aufzuerlegen. Sie hat der Beschwerdeführerin überdies eine Parteientschädigung zu entrichten. 
 
 
 Demnach erkennt das Bundesgericht:  
 
1.   
Die Beschwerde wird teilweise gutgeheissen und der Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Bern, Sozialversicherungsrechtliche Abteilung, vom 8. Februar 2017 aufgehoben. Die Sache wird zu neuer Entscheidung an die Vorinstanz zurückgewiesen. Im Übrigen wird die Beschwerde abgewiesen. 
 
2.   
Die Gerichtskosten von Fr. 800.- werden der Beschwerdegegnerin auferlegt. 
 
3.   
Die Beschwerdegegnerin hat die Beschwerdeführerin für das bundesgerichtliche Verfahren mit Fr. 2'800.- zu entschädigen. 
 
4.   
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Bern, Sozialversicherungsrechtliche Abteilung, und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt. 
 
 
Luzern, 9. Juni 2017 
 
Im Namen der I. sozialrechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
 
Der Präsident: Maillard 
 
Der Gerichtsschreiber: Hochuli