Wichtiger Hinweis:
Diese Website wird in älteren Versionen von Netscape ohne graphische Elemente dargestellt. Die Funktionalität der Website ist aber trotzdem gewährleistet. Wenn Sie diese Website regelmässig benutzen, empfehlen wir Ihnen, auf Ihrem Computer einen aktuellen Browser zu installieren.
Zurück zur Einstiegsseite Drucken
Grössere Schrift
 
 
Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
 
 
 
{T 0/2} 
 
9C_456/2016  
   
   
 
 
 
Urteil vom 12. Mai 2017  
 
II. sozialrechtliche Abteilung  
 
Besetzung 
Bundesrichterin Pfiffner, Präsidentin, 
Bundesrichter Parrino, Bundesrichterin Moser-Szeless, 
Gerichtsschreiberin Keel Baumann. 
 
Verfahrensbeteiligte 
Personalvorsorgestiftung der Firma A.________, 
vertreten durch Dr. phil. et lic. iur. Karin Goy, 
Beschwerdeführerin, 
 
gegen  
 
B.________, 
vertreten durch Rechtsanwälte Hans Furer und Regula Steinemann, 
Beschwerdegegner. 
 
Gegenstand 
Berufliche Vorsorge (Invalidenrente), 
 
Beschwerde gegen den Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons Aargau vom 24. Mai 2016. 
 
 
Sachverhalt:  
 
A.   
Der 1983 geborene B.________ war von Juni 2009 bis Ende November 2011 als Chauffeur angestellt (letzter Arbeitstag: 6. Juni 2011). In dieser Eigenschaft war er bei der Personalvorsorgestiftung der Firma A.________ berufsvorsorgeversichert. 
Am 8. Dezember 2011 meldete sich B.________ zum Bezug von Leistungen der Invalidenversicherung an. Die IV-Stelle für Versicherte im Ausland sprach ihm rückwirkend ab 1. Juni 2012 aufgrund eines Invaliditätsgrades von 100 % eine ganze Invalidenrente (samt Kinderrente) zu (Verfügung vom 16. April 2014). 
 
B.   
Am 5. November 2014 liess B.________ Klage gegen die Personalvorsorgestiftung der Firma A.________ erheben und das Rechtsbegehren stellen, es sei ihm rückwirkend ab Juli 2011 eine ganze Invalidenrente (samt Kinderrente) zuzusprechen und auszuzahlen. Eventualiter beantragte er weitere medizinische Abklärungen; insbesondere seien ein gerichtliches Obergutachten bzw. ein polydisziplinäres gerichtliches Gutachten einzuholen bzw. weitere spezialärztliche Abklärungen (namentlich in Form einer stationären Behandlung über einen längeren Zeitraum) vorzunehmen. 
Mit Entscheid vom 24. Mai 2016 hiess das Versicherungsgericht des Kantons Aargau die Klage gut. Es verpflichtete die Personalvorsorgestiftung der Firma A.________, B.________ ab 19. Juni 2013 Leistungen der beruflichen Vorsorge basierend auf einem Invaliditätsgrad von 100 % auszurichten. 
 
C.   
Die Personalvorsorgestiftung der Firma A.________ lässt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten führen und das Rechtsbegehren stellen, der kantonale Entscheid sei aufzuheben. Es sei festzustellen, dass sie nicht leistungspflichtig sei. Es seien die Akten der Vorinstanz, einschliesslich IV-Akten, beizuziehen. Eventualiter sei zu bestimmen, welche Gesundheitsschädigungen - chronologisch betrachtet - zu welchem Zeitpunkt und in welchem Umfang zur Invalidität beitragen würden. Eventualiter sei zu bestimmen, welcher Invaliditätsgrad für diejenige Gesundheitsbeeinträchtigung vorliege, die während der Dauer des Arbeitsverhältnisses zu einer Arbeitsunfähigkeit mit nachfolgender Invalidität geführt habe. Eventualiter sei ein Gutachten über den Kausalzusammenhang zwischen den Rückenbeschwerden und dem später entdeckten Meniskusschaden am linken Knie erstellen zu lassen. 
In einer Eingabe vom 1. März 2017 (siehe bereits E-Mail vom 5. September 2016) informierte die Rechtsvertreterin der Personalvorsorgestiftung der Firma A.________, dass bei der IV-Stelle zwischenzeitlich eine polydisziplinäre Expertise (Begutachtung vom 5./6. September 2016) eingetroffen sei. Sie ersuchte das Bundesgericht, diese bei der IV-Stelle einzufordern und im Rahmen der Beurteilung der Beschwerde zu berücksichtigen. 
 
 
Erwägungen:  
 
1.  
Mit der Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann unter anderem die Verletzung von Bundesrecht gerügt werden (Art. 95 lit. a BGG). Die Feststellung des Sachverhalts kann nur gerügt werden, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Artikel 95 beruht und wenn die Behebung des Mangels für den Ausgang des Verfahrens entscheidend sein kann (Art. 97 Abs. 1 BGG). Das Bundesgericht legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG). Es kann die Sachverhaltsfeststellung der Vorinstanz von Amtes wegen berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Artikel 95 beruht (Art. 105 Abs. 2 BGG). 
 
2.  
 
2.1. Neue Tatsachen und Beweismittel dürfen nur soweit vorgebracht werden, als erst der Entscheid der Vorinstanz dazu Anlass gibt (Art. 99 Abs. 1 BGG; BGE 135 V 194). Das Vorbringen von Tatsachen, die sich erst nach dem angefochtenen Entscheid ereigneten oder entstanden (echte Noven), ist vor Bundesgericht unzulässig (BGE 139 III 120 E. 3.1.2 S. 123 mit Hinweisen).  
 
 
2.2. Bei dem von der Beschwerdeführerin in ihrer Eingabe vom 1. März 2017 in Aussicht gestellten polydisziplinären Gutachten, welches erst nach dem angefochtenen Entscheid erstellt wurde, handelt es sich um ein echtes Novum, welches von Vornherein unbeachtlich zu bleiben hat. Weiterungen dazu erübrigen sich.  
 
3.  
 
3.1. Invalidenleistungen der (obligatorischen) beruflichen Vorsorge werden von derjenigen Vorsorgeeinrichtung geschuldet, bei welcher die ansprechende Person bei Eintritt der Arbeitsunfähigkeit, deren Ursache zur Invalidität geführt hat, versichert war (Art. 23 lit. a BVG; BGE 138 V 409 E. 6.2 S. 419). Für die Bestimmung der Leistungszuständigkeit ist eine erhebliche und dauerhafte Einbusse an funktionellem Leistungsvermögen im bisherigen Beruf oder Aufgabenbereich massgebend. Diese muss mindestens 20 % betragen (BGE 134 V 20 E. 3.2.2 S. 23; SVR 2014 BVG Nr. 36 S. 134, 9C_569/2013 E. 1.1 mit weiteren Hinweisen).  
Der Anspruch setzt zudem einen engen zeitlichen und sachlichen Zusammenhang zwischen der während des Vorsorgeverhältnisses (einschliesslich Nachdeckungsfrist nach Art. 10 Abs. 3 BVG) bestandenen Arbeitsunfähigkeit und der allenfalls erst später eingetretenen Invalidität voraus (Art. 28 und 29 IVG i.V.m. Art. 26 Abs. 1 BVG; BGE 134 V 20 E. 3.2 S. 22; SVR 2015 BVG Nr. 29 S. 107, 9C_326/2014 E. 6.2). Der hier streitige und zu prüfende sachliche Konnex ist gegeben, wenn der Gesundheitsschaden, welcher zur Arbeitsunfähigkeit geführt hat, im Wesentlichen der gleiche ist wie derjenige, auf welchem die Erwerbsunfähigkeit beruht (BGE 138 V 409 E. 6.2 S. 419; 134 V 20 E. 3.2 S. 22). 
 
3.2. Entscheidungserhebliche Feststellungen der Vorinstanz zur Art des Gesundheitsschadens und zur Arbeitsfähigkeit, die Ergebnis einer Beweiswürdigung sind, binden das Bundesgericht, soweit sie nicht offensichtlich unrichtig sind oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruhen. Dies gilt auch für den Zeitpunkt des Eintritts der Arbeitsunfähigkeit, deren Ursache zur Invalidität geführt hat (Art. 23 lit. a BVG). Frei zu prüfende Rechtsfrage ist dagegen, nach welchen Gesichtspunkten die Entscheidung über den Zeitpunkt des Eintritts einer rechtserheblichen Arbeitsunfähigkeit erfolgt und ob diese Entscheidung auf einer genügenden Beweislage beruht (SVR 2016 BVG Nr. 37 S. 150, 9C_115/2015 E. 5.1 mit Hinweisen).  
 
4.  
 
4.1. Nach eingehender Würdigung der medizinischen Akten, insbesondere des polydisziplinären Gutachtens der PMEDA AG (Polydisziplinäre Medizinische Abklärungen), Zürich (nachfolgend: PMEDA), vom 15. Oktober 2013, gelangte die Vorinstanz zum Ergebnis, zwischen der am 7. Juni 2011 eingetretenen Arbeitsunfähigkeit und der ab Juni 2012 bestehenden Invalidität (Verfügung der IV-Stelle für Versicherte im Ausland vom 16. April 2014) bestehe sowohl ein sachlicher als auch ein zeitlicher Zusammenhang. Bei Eintritt der Arbeitsunfähigkeit, deren Ursache zur Invalidität geführt habe, sei B.________ bei der Beschwerdeführerin versichert gewesen. Aufgrund der Bindungswirkung der Feststellungen der IV-Stelle - die Beschwerdeführerin sei bereits ins Vorbescheidverfahren einbezogen worden und eine offensichtliche Unhaltbarkeit der invalidenversicherungsrechtlichen Betrachtungsweise weder erkennbar noch geltend gemacht - sei eine Leistungspflicht der Beschwerdeführerin zu bejahen. Der für den Eintritt der anfänglichen Arbeitsunfähigkeit verantwortliche Gesundheitsschaden - das lumbale Vertebralsyndrom - entspreche dem Krankheitsbild, welches zur Zusprache einer Rente der Invalidenversicherung ab 1. Juni 2012 geführt habe. Es habe damals keine wesentlich anders geartete Krankheit vorgelegen. Die von der Beschwerdeführerin angegebene Ursache, das CRPS, sei nach den übereinstimmenden Ausführungen der Parteien erstmals nach der arthroskopischen Knieoperation vom 3. Dezember 2012 aufgetreten. Zu diesem Zeitpunkt sei der Versicherte schon seit über einem Jahr aufgrund lumbaler Beschwerden vollständig arbeitsunfähig gewesen.  
Des Weitern stellte die Vorinstanz im Wesentlichen gestützt auf das PMEDA-Gutachten vom 15. Oktober 2013 fest, nach der Operation des linken Kniegelenks vom 3. Dezember 2012 (Innenmeniskushinterhornriss Grad III; Bericht des PD Dr. med. C.________, Chefarzt am Spital D.________ [D], selben Datums) sei zusätzlich zum lumbalen Vertebralsyndrom ein komplexes regionales Schmerzsyndrom Typ I (CRPS) aufgetreten, welches in einem engen sachlichen Zusammenhang mit dem Bandscheibenvorfall LW4/5 (mit Nervenwurzelkompression L5) stehe. Da mithin die Arbeitsunfähigkeit des Versicherten während eines Jahres ohne wesentlichen Unterbruch angedauert habe, sei am 1. Juni 2012 ein Rentenanspruch entstanden. Die Beschwerdeführerin habe dem Versicherten auf der Grundlage eines Invaliditätsgrades von 100 % Leistungen der beruflichen Vorsorge auszurichten, wobei der grundsätzlich ab 1. Juni 2012 bestehende Anspruch wegen der Ausrichtung von Krankentaggeldern bis 19. Juni 2013 aufgeschoben worden sei. 
 
4.2. Die Beschwerdeführerin stellt sich auf den Standpunkt, die massgebliche Gesundheitseinschränkung beim Versicherten betreffe nicht den Rücken, sondern das linke Knie (Operation vom 3. Dezember 2012). Sie sei als Vorsorgeeinrichtung nicht leistungspflichtig, weil die das Knie betreffende Beeinträchtigung bis zum Ende der Versicherungsdeckung am 31. Dezember 2011 nicht zu einer Einschränkung der Arbeitsfähigkeit geführt habe.  
Dieser Auffassung kann nicht beigepflichtet werden. Die von der Beschwerdeführerin angesprochenen, erst im Jahr 2012 aufgetretenen Kniebeschwerden ändern nichts daran, dass der Versicherte - wie die Vorinstanz verbindlich festgestellt hat - seit 7. Juni 2011 bereits aufgrund von Rückenbeschwerden vollständig arbeitsunfähig war: Nachdem er anfangs Juni 2011 einen Bandscheibenvorfall LW4/5 mit Lumboischialgie M54.4 erlitten hatte, brachte ihm zwar eine am 24. Juni 2011 vorgenommene Dekompression des Bandscheibenvorfalls LW4/5 links eine vorübergehende Verbesserung (Bericht des Prof. Dr. med. E.________, Klinik F.________ [D], vom 27. Juni 2011). Bereits nach einigen Wochen litt er aber erneut an einem Beinschmerz links, welcher ihn stark beeinträchtigte; des Weitern war die LWS-Beweglichkeit deutlich eingeschränkt (Bericht der Klinik G.________ vom 5. September 2011). Im Mai 2012 durchgeführte lokale Infiltrationsbehandlungen waren ebenso ohne Erfolg wie der Einsatz eines Periduralkatheters (Bericht des Prof. Dr. med. H.________, Chefarzt, Spital I.________ [D], vom 29. Mai 2012). Aus diesem Krankheitsverlauf ergibt sich klar, dass das fortbestehende lumbale Vertebralsyndrom nach Spinalnervenwurzelkompression L5 links und lumbaler Bandscheibenoperation die Grundlage für die seit 7. Juni 2011 andauernde vollständige Arbeitsunfähigkeit bildeten (vgl. auch PMEDA-Gutachten vom 15. Oktober 2013 und Bericht des Regionalen Ärztlichen Dienstes der IV-Stelle [RAD] vom 21. Oktober 2013). Soweit die Beschwerdeführerin die Verwaltungsakten der IV-Stelle in diesem Zusammenhang für nicht massgeblich hält, weil sie erst nach dem Auftreten des CRPS im Dezember 2012 ergangen seien, übersieht sie, dass ihnen der gesamte Sachverhalt, wie er sich seit Eintritt der Arbeitsunfähigkeit im Juni 2011 entwickelt hat, zugrunde liegt. Bei dieser Sachlage gibt die vorinstanzliche Feststellung, wonach der Gesundheitsschaden, auf welchem die Arbeitsunfähigkeit beruhte, von der Art her derselbe war wie derjenige, welcher zur Erwerbsunfähigkeit führte, zu keinen Beanstandungen Anlass. 
Nicht offensichtlich unrichtig hat die Vorinstanz sodann gestützt auf das PMEDA-Gutachten vom 15. Oktober 2013, insbesondere das neurologische Teilgutachten, festgestellt, dass zwischen dem später aufgetretenen komplexen regionalen Schmerzsyndrom und dem Bandscheibenvorfall LW4/5, welcher eine multiple Schädigung der lumbalen Region zur Folge hatte, ein enger sachlicher Zusammenhang besteht. Entgegen der Beschwerdeführerin kann nicht gesagt werden, das CRPS stelle ein zweites, anderes Leiden dar, welches das erste abgelöst habe und für die Invalidisierung allein ausschlaggebend sei, womit der sachliche Zusammenhang entfiele (vgl. dazu Urteil 9C_40/2008 vom 4. September 2008 E. 2.2 in fine). Unter den gegebenen Umständen bestand kein Anlass für die von der Beschwerdeführerin geforderte Abklärung der Frage, in welchem Umfang das CRPS zur Gesamtinvalidität beigetragen habe. 
 
4.3. Nach dem Gesagten beruhen die massgebenden Sachverhaltsfeststellungen der Vorinstanz nicht auf einer offensichtlich unrichtigen Würdigung der Akten. Ebenso wenig verletzen die vorinstanzlichen Erwägungen die für die Leistungspflicht der Vorsorgeeinrichtung massgebenden Grundsätze. Damit hat es mit dem angefochtenen Entscheid sein Bewenden.  
 
5.   
Dem Ausgang des Verfahrens entsprechend hat die unterliegende Beschwerdeführerin die Gerichtskosten zu tragen (Art. 66 Abs. 1 BGG). 
 
 
 Demnach erkennt das Bundesgericht:  
 
1.   
Die Beschwerde wird abgewiesen. 
 
2.   
Die Gerichtskosten von Fr. 800.- werden der Beschwerdeführerin auferlegt. 
 
3.   
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons Aargau und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt. 
 
 
Luzern, 12. Mai 2017 
 
Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
 
Die Präsidentin: Pfiffner 
 
Die Gerichtsschreiberin: Keel Baumann