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Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
{T 0/2} 
8C_953/2012 
 
Urteil vom 22. Februar 2013 
I. sozialrechtliche Abteilung 
 
Besetzung 
Bundesrichterin Leuzinger, Präsidentin, 
Bundesrichter Ursprung, Maillard, 
Gerichtsschreiber Jancar. 
 
Verfahrensbeteiligte 
S.________, 
vertreten durch Rechtsanwalt Dr. Michael Weissberg, 
Beschwerdeführerin, 
 
gegen 
 
Schweizerische Unfallversicherungsanstalt (SUVA), Fluhmattstrasse 1, 6004 Luzern, 
Beschwerdegegnerin. 
 
Gegenstand 
Unfallversicherung (Leistungskürzung), 
 
Beschwerde gegen den Entscheid des Sozialversicherungsgerichts des Kantons Zürich vom 25. September 2012. 
 
Sachverhalt: 
 
A. 
A.a Die 1987 geborene S.________ arbeitete seit 1. August 2004 als Lernende im Bereich Verkauf bei der O.________ und war damit bei der Schweizerischen Unfallversicherungsanstalt (SUVA) obligatorisch unfallversichert. Am 2. November 2004 wurde sie verletzt auf dem Boden vor ihrem Haus aufgefunden. Die Abklärungen ergaben, dass sie aus dem Fenster ihrer im dritten Stock liegenden Wohnung gestürzt war. Das Spital X.________, wo sie bis 16. November 2004 hospitalisiert war und am 2. sowie 8. November 2004 operiert wurde, diagnostizierte im Austrittsbericht vom 17. November 2004 eine komplette Berstungsfraktur LWK3 sowie eine Keilimpressionsfraktur L2 und L4. Mit Verfügung vom 13. Oktober 2005 verneinte die SUVA ihre Leistungspflicht, da die Versicherte den Gesundheitsschaden absichtlich herbeigeführt habe und nicht davon ausgegangen werden könne, sie sei ohne eigenes Verschulden gänzlich unfähig gewesen, vernunftgemäss zu handeln. Die dagegen von der Versicherten und ihrem Krankenversicherer erhobenen Einsprachen wies sie mit Entscheid vom 27. Dezember 2006 ab, was das Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich mit Entscheid vom 11. September 2007 bestätigte. Das Bundesgericht hob diese Entscheide auf und wies die Sache an die SUVA zurück, damit sie, nach erfolgter Abklärung im Sinne der Erwägungen, über den Leistungsanspruch neu verfüge (Urteil 8C_496/2008 vom 17. April 2009). 
A.b In der Folge holte die SUVA ein Gutachten des Dr. med. C.________, Facharzt FMH Psychiatrie und Psychotherapie, vom 31. März 2010 ein; am 31. August 2010 beantwortete er die Zusatzfragen der SUVA und der Versicherten. Mit Verfügung vom 20. April 2011 verneinte die SUVA ihre Leistungspflicht, da nicht davon ausgegangen werden könne, die Versicherte sei überwiegend wahrscheinlich ohne eigenes Verschulden gänzlich unfähig gewesen, vernunftgemäss zu handeln. Die dagegen erhobene Einsprache wies sie mit Entscheid vom 21. Juni 2011 ab. 
 
B. 
Die hiegegen geführte Beschwerde wies das Sozialversicherungsgericht mit Entscheid vom 25. September 2012 ab. 
 
C. 
Mit Beschwerde beantragt die Versicherte, in Aufhebung des kantonalen Entscheides seien ihr die gesetzlichen Leistungen in vollem Umfang auszurichten; eventuell sei die Sache zur weiteren Abklärung an die SUVA zurückzuweisen. Ein Schriftenwechsel wurde nicht angeordnet. 
 
Erwägungen: 
 
1. 
Mit der Beschwerde kann eine Rechtsverletzung nach Art. 95 f. BGG geltend gemacht werden. Das Bundesgericht wendet das Recht von Amtes wegen an (Art. 106 Abs. 1 BGG). Trotzdem prüft es - vorbehältlich offensichtlicher Fehler - nur die in seinem Verfahren geltend gemachten Rechtsverstösse (Art. 42 Abs. 1 und 2 BGG; BGE 135 II 384 E. 2.2.1 S. 389). 
Im Beschwerdeverfahren um die Zusprechung oder Verweigerung von Geldleistungen der Unfallversicherung ist das Bundesgericht nicht an die vorinstanzliche Feststellung des rechtserheblichen Sachverhalts gebunden (Art. 97 Abs. 2 und Art. 105 Abs. 3 BGG). 
 
2. 
2.1 Hat die versicherte Person den Gesundheitsschaden oder den Tod absichtlich herbeigeführt, so besteht kein Anspruch auf Versicherungsleistungen, mit Ausnahme der Bestattungskosten (Art. 37 Abs. 1 UVG). Wollte sich die versicherte Person nachweislich das Leben nehmen oder sich selbst verstümmeln, so findet Art. 37 Abs. 1 UVG keine Anwendung, wenn die versicherte Person zur Zeit der Tat ohne Verschulden gänzlich unfähig war, vernunftgemäss zu handeln, oder wenn die Selbsttötung, der Selbsttötungsversuch oder die Selbstverstümmelung die eindeutige Folge eines versicherten Unfalles war (Art. 48 UVV). Die Vorinstanz hat die hierzu ergangene Rechtsprechung richtig dargelegt (BGE 129 V 95; RKUV 1996 Nr. U 267 S. 309 E. 2; Urteil 8C_496/2008 E. 2.2 f.). Gleiches gilt zum Untersuchungsgrundsatz (Art. 43 Abs. 1 ATSG; Art. 61 lit. c ATSG) und zum Beweiswert ärztlicher Unterlagen (BGE 134 V 231 E. 5.1 S. 232). Darauf wird verwiesen. 
 
2.2 Zu ergänzen ist Folgendes: Im Falle einer Selbsttötung ist auf Grund der Macht des Selbsterhaltungstriebes in der Regel von einer natürlichen Vermutung der Unfreiwilligkeit einer solchen Tat und damit vom Vorliegen eines Unfalles auszugehen, wenn Zweifel bestehen, ob der Tod einer versicherten Person durch Unfall oder Suizid herbeigeführt worden ist. Dass die versicherte Person absichtlich aus dem Leben geschieden ist, darf nur dann als nachgewiesen gelten, wenn gewichtige Indizien jede andere den Umständen angemessene Deutung ausschliessen. Deshalb ist in solchen Fällen zunächst von der durch den Selbsterhaltungstrieb gegebenen natürlichen Vermutung auszugehen, es liege keine Selbsttötung vor, und sodann zu fragen, ob derart überzeugende Umstände vorliegen, dass diese Vermutung widerlegt wird. Damit wird die Beweislast zwar nicht umgekehrt, im Ergebnis aber eine ähnliche Wirkung erzielt. Denn sind die für eine Selbsttötung bzw. einen Selbsttötungsversuch sprechenden Indizien nicht gewichtig (überzeugend) genug, sodass die Unfreiwilligkeitsvermutung bei objektiver Betrachtung nicht als widerlegt gelten kann, so ist in Zweifelsfällen zuungunsten des obligatorischen Unfallversicherers zu entscheiden und das Vorliegen eines Unfalls zu bejahen. Diese Grundsätze gelten auch für den Selbstmordversuch (RKUV 1996 Nr. U 247 S. 168 E. 2b und c; Urteile 8C_271/2012 vom 17. Juli 2012 E. 3.2.1 und 8C_496/2008 E. 2.2). 
 
3. 
Das Bundesgericht wies im Urteil 8C_496/2008 die Sache an die SUVA zurück, damit sie, nach erfolgter Abklärung im Sinne der Erwägungen, über den Leistungsanspruch neu verfüge (Dispositiv Ziff. 1). Es erwog, die Versicherte habe am 2. November 2004 zunächst in suizidaler Absicht Medikamente eingenommen und sei danach in suizidaler Absicht aus dem Fenster gesprungen (E. 5.1). Hieran ist festzuhalten (BGE 135 III 334 E. 2 S. 335; Urteil 2C_1020/2011 vom 16. November 2012 E. 4.2), zumal das Gutachten des Psychiaters Dr. med. C.________ vom 31. März 2010 und seine Ergänzung vom 31. August 2010 einen anderen Sachverhalt nicht als wahrscheinlicher erscheinen lassen (vgl. SVR 2012 BVG Nr. 22 S. 89 E. 5.1 mit Hinweis [9C_541/2011]). 
 
4. 
Zu prüfen ist, ob die Versicherte im Zeitpunkt des Suizidversuchs gänzlich unfähig war, vernunftgemäss zu handeln (Urteil 8C_496/2008 E. 6). 
 
4.1 Der Psychiater Dr. med. C.________ stellte im Gutachten vom 31. August 2010 für den Zeitpunkt des Sprungs aus dem Fenster folgende Diagnose: Anpassungsstörung mit vorwiegender Beeinträchtigung von anderen Gefühlen (Depression, Anspannung, Sorgen, Verzweiflung, Trauer, Sehnsucht nach Nähe zum verstorbenen Freund; ICD-10 F43.23); Störung durch Sedativa und Hypnotika (akute Intoxikation mit Temesta und Stilnox; ICD-10 F13.0). Im Rahmen der Beantwortung der Zusatzfragen vom 31. August 2010 ergänzte er die erstgenannte Diagnose dahingehend, dass möglicherweise ein dissoziativer Prozess mitgewirkt habe. 
Die Vorinstanz erkannte mit einlässlicher Begründung, auf die verwiesen wird, dass die Beurteilung des Dr. med. C.________ die Anforderungen an eine rechtsgenügliche medizinische Entscheidungsgrundlage erfülle, weshalb darauf abzustellen sei. Sie folgte seiner Einschätzung, dass bei der Versicherten ein noch in gewissem Masse vernunftgemässes (wenn auch unverhältnismässiges) und willentliches Handeln wahrscheinlicher gewesen sei als eine gänzlich durch übermächtige Triebe gesteuerte Suizidhandlung. Demnach bestätigte sie den strittigen Einspracheentscheid vom 21. Juni 2011. 
 
4.2 Diesem vorinstanzlichen Ergebnis ist beizupflichten. Damit ist die auf Grund des Selbsterhaltungstriebes im Zweifelsfall geltende natürliche Vermutung der Unfreiwilligkeit einer versuchten Selbsttötung umgestossen. Die Beschwerdeführerin erhebt keine Rügen, welche die vorinstanzlichen Sachverhaltsfeststellungen als unrichtig oder unvollständig (Art. 97 Abs. 2 BGG) oder den angefochtenen Entscheid als rechtsfehlerhaft nach Art. 95 BGG erscheinen lassen. Festzuhalten ist insbesondere Folgendes: 
4.2.1 Die Versicherte wendet ein, Dr. med. C.________ habe bei der Beantwortung der Zusatzfragen am 31. August 2010 ausgeführt, man könne sich fragen, ob hier zusätzlich zur toxisch bedingten Bewusstseinsstörung ein dissoziativer Prozess im Gange gewesen sei, welcher in Wechselwirkung mit den Intoxionsfolgen stetig ausgeprägter geworden sei und schliesslich zu einer möglicherweise vollständigen (Ab)Dissoziation des Todeswunsches geführt habe, so dass dieser nicht mehr bewusst kontrollierbar gewesen sei. Dem Gutachter sei es somit nicht möglich gewesen, die zentrale Frage der Urteilsfähigkeit zum Tatzeitpunkt zu beantworten. Diesem Einwand kann nicht gefolgt werden. Denn Dr. med. C.________ legte schlüssig dar, dass seine Beurteilung im Gutachten vom 31. März 2010, wonach bei der Versicherten keine gänzliche Urteilsunfähigkeit bestanden habe, wahrscheinlicher sei; die Mitwirkung eines dissoziativen Prozesses mit gänzlicher Urteilsunfähigkeit sei bloss möglich. 
4.2.2 Die Versicherte macht geltend, sie habe nach dem Tod ihres Freundes rund zwei Wochen nichts gegessen und rund 4 kg abgenommen. Am Unfallabend habe sie zudem Alkohol auf den leeren Magen getrunken und danach diverse Tabletten und grosse Mengen Schlafmittel (Stilnox, Temesta und Baldriantropfen) eingenommen. Diesen Umständen trage Dr. med. C.________ zu wenig Rechnung. Es fehlten ihm die notwendigen Fachkenntnisse, um die Wirkung dieser Umstände auf die Urteilsfähigkeit zu beurteilen. 
Dem kann nicht beigepflichtet werden. Denn Dr. med. C.________ setzte sich mit der Wirkung der von der Versicherten eingenommenen Substanzen einlässlich und hinreichend auseinander. Auch war ihm ihre Gewichtsabnahme und ihr Gewicht vor dem Sprung aus dem Fenster bekannt. Von mangelnder Fachkompetenz des Dr. med. C.________ kann nicht gesprochen werden. 
4.2.3 Dr. med. C.________ legte bei der Beantwortung der Zusatzfragen am 31. März 2010 dar, beim Sprung der Versicherten aus dem Fenster handle es sich um eine motorisch komplexe Handlung, die eine bewusste und zielgerichtete Steuerung erfordere (auf den Tisch steigen, sich positionieren und unter Kraftanstrengung zum Sprung ansetzen). Daraus müsse gefolgert werden, dass das Bewusstsein weder quantitativ vollständig aufgehoben gewesen noch qualitativ solcherart gestört gewesen sei, dass keine geordnete Handlung mehr möglich gewesen wäre. Der Sprung aus dem Fenster spreche darum gegen das Vorliegen einer vollständigen Aufhebung der Urteilsfähigkeit. Die Versicherte rügt, dabei werde übersehen, dass die Frage der Motorik keinen Zusammenhang mit der Urteilsfähigkeit habe; gerade Personen, die einem übermächtigen Todestrieb ausgesetzt seien, seien oftmals zu grossen Kraftakten fähig, um die suizidale Handlung zu vollziehen. 
Hierzu ist festzuhalten, dass Dr. med. C.________ die Frage der Urteilsfähigkeit umfassend und schlüssig unter Berücksichtigung des damaligen psychischen Zustandes der Versicherten und der weiteren Umstände des Ereignisses klärte. Der Sprungvorgang bildete nur einen Teilaspekt seiner Argumentation. Hievon abgesehen räumte er am 31. August 2010 ein, dass auch bei einer vollständigen Aufhebung der Urteilfähigkeit im Rahmen eines dissoziierten Bewusstseinszustandes eine komplexe motorische Handlung (Sprung) möglich gewesen wäre; indessen erachtete er es als wahrscheinlicher, dass bei der Versicherten keine gänzliche Urteilsunfähigkeit bestand. 
 
4.3 Da von weiteren Abklärungen keine zusätzlichen Erkenntnisse zu erwarten sind, ist darauf zu verzichten (antizipierte Beweiswürdigung; BGE 136 I 229 E. 5.3 S. 236). 
 
5. 
Die unterliegende Beschwerdeführerin trägt die Verfahrenskosten (Art. 66 Abs. 1, Art. 68 Abs. 2 BGG). 
 
Demnach erkennt das Bundesgericht: 
 
1. 
Die Beschwerde wird abgewiesen. 
 
2. 
Die Gerichtskosten von Fr. 750.- werden der Beschwerdeführerin auferlegt. 
 
3. 
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich und dem Bundesamt für Gesundheit schriftlich mitgeteilt. 
 
Luzern, 22. Februar 2013 
 
Im Namen der I. sozialrechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
 
Die Präsidentin: Leuzinger 
 
Der Gerichtsschreiber: Jancar