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[AZA 0/2] 
5P.171/2001/min 
 
II. Z I V I L A B T E I L U N G ******************************** 
 
 
31. Juli 2001 
 
Es wirken mit: Bundesrichter Reeb, Präsident der II. Zivilabteilung, 
Bundesrichter Merkli, Bundesrichter Meyer und 
Gerichtsschreiber von Roten. 
 
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In Sachen 
A.________, Beschwerdeführerin, vertreten durch Rechtsanwalt Tim Walker, Hinterdorf 27, 9043 Trogen, 
 
gegen 
B.________, Beschwerdegegner, vertreten durch Rechtsanwalt Kurt Bischofberger, Mellingerstrasse 6, Postfach 2028, 5402 Baden, Obergericht von Appenzell A.Rh., Justizaufsichtskommission, 
 
betreffend 
Art. 9 und Art. 29 BV 
(Einstellung des Prozesses nach Art. 207 SchKG), 
wird festgestellt und in Erwägung gezogen: 
 
1.- Das Kantonsgericht von Appenzell A.Rh. stellte einen zwischen A.________ und B.________ hängigen Zivilprozess ein, nachdem über B.________ der Konkurs eröffnet worden war. 
Die im Dispositiv mitgeteilte Einstellungsverfügung focht A.________ mit Rechtsverweigerungsbeschwerde beim kantonalen Obergericht (Justizaufsichtskommission) an. Nach Eingang der kantonsgerichtlichen Begründung für die Einstellung räumte das Obergericht A.________ die Gelegenheit ein, "innert der gesetzlichen, nicht erstreckbaren Frist von 14 Tagen eine Ergänzung/Begründung" zur Beschwerde nachzureichen. Mit einer auf den 15. Januar 2001 datierten Eingabe ergänzte A.________ ihre Rechtsverweigerungsbeschwerde. Das Obergericht wies die Beschwerde ab, soweit darauf eingetreten werden konnte; auf die Beschwerdeergänzung trat es dabei wegen Fristversäumnis nicht ein. Das Obergericht wies ferner das Gesuch von A.________ um Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege ab und auferlegte ihr die Kosten des Verfahrens (Entscheid vom 15. März 2001). 
 
 
Mit staatsrechtlicher Beschwerde wegen Verletzung von Art. 9 (Schutz vor Willkür) und Art. 29 BV (formelle Rechtsverweigerung) beantragt A.________ dem Bundesgericht, den obergerichtlichen Entscheid aufzuheben und die Sache zur Neubeurteilung unter Berücksichtigung ihrer Eingabe vom 15. Januar 2001 an das Obergericht zurückzuweisen. Die Kosten des kantonalen Beschwerdeverfahrens seien dem Kanton aufzuerlegen. 
A.________ erneuert ihr Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege. 
 
 
In seiner Vernehmlassung schliesst das Obergericht auf Abweisung. B.________ hat sich zwar vernehmen lassen, aber ausdrücklich keinen Antrag gestellt. 
2.- Eine formelle Rechtsverweigerung (i.e.S.) und überspitzten Formalismus erblickt die Beschwerdeführerin darin, dass das Obergericht auf ihre Beschwerdeergänzung nicht eingetreten sei; die postamtlichen Bestätigungen belegten, dass sie die fragliche Eingabe vom 15. Januar 2001 am gleichen Tag der Post übergeben und damit rechtzeitig eingereicht habe. Es verletze zudem ihren Anspruch auf rechtliches Gehör, dass das Obergericht kein schriftliches Nachforschungsbegehren bei der Post gestellt und mit ihr nicht Rücksprache genommen habe. 
Weil sie in ihrer Beschwerdeergänzung den Willkürvorwurf substantiiert habe, hätte auch ihr Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege im kantonalen Beschwerdeverfahren nicht abgewiesen werden dürfen. 
 
a) Die Zivilprozessordnung des Kantons Appenzell A.Rh. (ZPO, bGS 231. 1) kennt offenbar keinen Rechtsbehelf um einen Gerichtsfehler, wie ihn die Beschwerdeführerin behauptet, rasch und formlos zu beseitigen. Der obergerichtliche Entscheid, auf die Beschwerdeergänzung wegen Fristversäumnis nicht einzutreten, ist ein kantonal letztinstanzlicher Endentscheid und unterliegt - auf Bundesebene einzig (Art. 84 Abs. 2 OG) - der staatsrechtlichen Beschwerde (Art. 86 f. OG; Ehrenzeller, Zivilprozessordnung des Kantons Appenzell A.Rh. 
vom 27. April 1980, Urnäsch 1988, N. 1 zu Art. 282 ZPO); die Berechnung der versäumten Frist richtet sich nach dem Recht, das die Frist setzt, vorliegend also nach kantonalem Recht (BGE 123 III 67 E. 2a S. 69). Dessen Anwendung überprüft das Bundesgericht lediglich auf Willkür hin, selbst wenn das kantonale Recht inhaltlich gleich lautet wie entsprechendes Bundesrecht (BGE 125 I 7 E. 3a S. 8; 116 Ia 90 E. 2b S. 92). 
 
Die staatsrechtliche Beschwerde ist - von hier nicht zutreffenden Ausnahmen abgesehen - kassatorischer Natur (BGE 124 I 327 E. 4 S. 332). Entgegen der Annahme des Obergerichts missachten die von der Beschwerdeführerin neben der verlangten Aufhebung gestellten Anträge diesen Grundsatz nicht. Sie hängen vom Erfolg der Hauptrüge ab, auf die Beschwerdeergänzung sei zu Unrecht nicht eingetreten worden, und erläutern blosse Folgen einer Gutheissung der staatsrechtlichen Beschwerde. 
Diesfalls geht die Sache ohnehin an das Obergericht zur Neubeurteilung zurück, das je nach Verfahrensausgang auch über die Kosten und die Voraussetzungen der unentgeltlichen Rechtspflege neu zu entscheiden haben wird; darauf abzielende Anträge sind nicht unzulässig, sondern überflüssig (Urteil des Bundesgerichts vom 15. Dezember 1993, E. 1b, in: SJ 1994 S. 434). Zur Begründung ihres Aufhebungsantrags legt die Beschwerdeführerin Bestätigungen der Schweizerischen Post ins Recht, wonach ihre Eingabe vom 15. Januar 2001 an diesem Tag der Post übergeben worden ist; diese Noven sind selbst im Rahmen einer Willkürbeschwerde zulässig, zumal erst der angefochtene Entscheid zu ihrem Vortrag Anlass gegeben hat (BGE 99 Ia 113 E. 4a S. 122; 102 Ia 7 E. 3a S. 10). 
 
Die weiteren Eintretensvoraussetzungen sind erfüllt; auf die staatsrechtliche Beschwerde kann eingetreten werden. 
 
b) Tritt eine Behörde auf eine ihr unterbreitete Sache nicht ein, obwohl sie darüber entscheiden müsste, begeht sie eine formelle Rechtsverweigerung (BGE 117 Ia 116 E. 3a S. 117; 125 III 440 E. 2a S. 441), die als Verletzung von Art. 29 Abs. 1 BV gerügt werden kann (vgl. zur Massgeblichkeit der zu Art. 4 aBV ergangenen Rechtsprechung: Botschaft, BBl 1997 I 1 ff., S. 181 f.). 
 
Praxisgemäss hat das Obergericht der Beschwerdeführerin eine nicht erstreckbare Frist von vierzehn Tagen zur Beschwerdeergänzung angesetzt; denn es ist ein Gebot des Anspruchs auf rechtliches Gehör, dass dem Rechtsmittelkläger zu den erst nachträglich bekannt gegebenen Entscheidungsgründen das Recht auf Stellungnahme eingeräumt wird, wenn die Rechtsmittelfrist bereits ab Eröffnung der anzufechtenden Verfügung im Dispositiv zu laufen beginnt (AR GVP 10/1998 S. 138 f.). 
Die Fristansetzung ist dem Empfänger laut obergerichtlichem Nachforschungsbegehren an die Post am 20. Dezember 2000 ausgehändigt worden. Die Frist hat deshalb am 21. ds. zu laufen begonnen, ist nach drei Tagen durch die Gerichtsferien vom 24. Dezember bis und mit 2. Januar unterbrochen worden, hat dann noch elf Tage bis Samstag, den 13. Januar 2001, gedauert und am Montag, den 15. ds., geendet (vgl. zur Berechnung: 
Ehrenzeller, N. 2 f. zu Art. 71 und N. 3 zu Art. 76 ZPO). 
 
 
Das Obergericht ist zum selben Ergebnis gelangt. 
Weil das Datum des Poststempels nicht leserlich gewesen ist, hat es die Postaufgabe mittels Sendungsverfolgung auf Internet "Track & Trace" kontrolliert und auf Grund der Anzeige "Postaufgabe: 16.01.2001, 17.14 Uhr" die Eingabe für verspätet erklärt. Die Bestätigungen der Beschwerdeführerin belegen nun aber, dass sie die Beschwerdeergänzung vom 15. Januar 2001 gleichentags und damit rechtzeitig einer schweizerischen Poststelle übergeben hat (Art. 71 ZPO i.V.m. Art. 3 Abs. 3 des Gesetzes über den Fristenlauf, bGS 143. 4). Die gegenteilige Annahme des Obergerichts ist unhaltbar (Art. 9 BV; BGE 126 I 168 E. 3a S. 170). Für die damit erstellte formelle Rechtsverweigerung ist belanglos, dass sich das Obergericht auf eine fehlerhafte Dienstleistung der Post verlassen hat; desgleichen ist unerheblich, warum das Obergericht - im Gegensatz zum Fristbeginn - die Fristwahrung nicht mit einem formellen Nachforschungsbegehren an die Post geklärt hat. 
 
c) Aus den dargelegten Gründen muss die staatsrechtliche Beschwerde wegen formeller Rechtsverweigerung i.e.S. 
(Art. 29 Abs. 1 BV) gutgeheissen werden. Das gleichzeitig als verletzt gerügte Verbot des überspitzten Formalismus wird insoweit bedeutungslos; das strikte Beachten von Rechtsmittelfristen ist zudem aus Gründen der Rechtssicherheit und im Interesse der Gegenpartei, über den genauen Rechtskraftzeitpunkt eines Entscheids Gewissheit zu haben, gerechtfertigt und damit nicht überspitzt formalistisch (z.B. Urteil des Bundesgerichts vom 23. März 2000, E. 4, in: Zeitschrift für Walliser Rechtsprechung, ZWR 2001 S. 173). 
 
Entgegen der Ansicht des Obergerichts setzt die Gutheissung der staatsrechtlichen Beschwerde nicht voraus, dass die Beschwerdeführerin den Entscheid in der Sache als willkürlich anficht, demzufolge weder mit der summarisch begründeten Berufungsschrift ein Beschwerdegrund dargetan werde, noch ein solcher aus den Akten ersichtlich sei. Es genügt, dass der angefochtene Entscheid in Verletzung des Rechtsverweigerungsverbots ergangen ist und das Obergericht von der Beschwerdeführerin nach dem Gesagten zulässigerweise Vorgebrachtes in der Entscheidfindung nicht berücksichtigt hat. 
Nur wenn das Obergericht, das zu Unrecht auf die Beschwerdeergänzung nicht eingetreten ist, zu den darin enthaltenen Vorbringen in einem Eventualstandpunkt materiell Stellung genommen hätte, könnte von der Aufhebung des angefochtenen Entscheids abgesehen werden (BGE 122 I 182 E. 4d S. 193) und wäre die Beschwerdeführerin verpflichtet gewesen, sich in ihrer Beschwerdeschrift mit einer derartigen Hilfsbegründung auseinander zu setzen (BGE 121 I 1 E. 5a/bb Abs. 1 S. 11). 
Das Obergericht ist nicht so verfahren; es hat der Beschwerdeführerin vielmehr eine fehlende Auseinandersetzung mit Entscheidgründen vorgehalten, die bei Beschwerdeerhebung noch gar nicht vorgelegen hatten (E. 6 Abs. 1 S. 4), und ist lediglich gestützt auf Mutmassungen davon ausgegangen, es liege kein Beschwerdegrund vor (E. 6 Abs. 2 S. 4 des angefochtenen Entscheids). Schliesslich ist das Obergericht auch in seiner Vernehmlassung an das Bundesgericht materiell nicht auf die Beschwerdeergänzung eingegangen, so dass sich eine Prüfung der Frage erübrigt, ob der Mangel des kantonalen Verfahrens allenfalls durch das Bundesgericht hätte behoben werden können (vgl. dazu BGE 121 I 1 E. 5a/bb Abs. 2 und 3 S. 11 f.). 
Bei diesem Verfahrensausgang kann offen bleiben, ob das Obergericht den Anspruch auf rechtliches Gehör (Art. 29 Abs. 2 BV) dadurch verletzt hat, dass es auf die Beschwerdeergänzung wegen Fristversäumnis nicht eingetreten ist, ohne die Beschwerdeführerin zu seinen Nachforschungen über die Rechtzeitigkeit der Postaufgabe vorgängig anzuhören. 
 
3.- Die anwaltlich vertretene Beschwerdeführerin hat Anspruch auf Parteientschädigung (Art. 159 Abs. 1 und 2 OG). 
Nachdem der Beschwerdegegner in seiner Vernehmlassung weder ausdrücklich noch sinngemäss einen Antrag gestellt und den aufzuhebenden Entscheid im kantonalen Verfahren auch nicht veranlasst hat, können ihn keine Kosten- und Entschädigungsfolgen treffen (Urteil des Bundesgerichts vom 3. Dezember 1984, E. 3, in: Pra 74/1985 Nr. 97 S. 272; Messmer/Imboden, Die eidgenössischen Rechtsmittel in Zivilsachen, Zürich 1992, S. 35 bei und in Anm. 19 daselbst mit weiteren Nachweisen). 
Unter diesen Umständen hat der Kanton Appenzell A.Rh. die Beschwerdeführerin für das bundesgerichtliche Verfahren zu entschädigen; kostenpflichtig wird er hingegen nicht (Art. 156 Abs. 2 OG). Das Gesuch der Beschwerdeführerin um unentgeltliche Rechtspflege wird damit gegenstandslos. Dem Beschwerdegegner, der - wie erwähnt - keinen Antrag gestellt hat, eine Entschädigung zu Lasten des Kantons zuzuerkennen, rechtfertigt sich nicht, da sein Aufwand vom Umfang und Inhalt her vernachlässigbar gewesen ist; ein Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege hat er nicht gestellt. 
 
Demnach erkennt das Bundesgericht: 
 
1.- Die staatsrechtliche Beschwerde wird gutgeheissen, soweit darauf einzutreten ist, und der Entscheid des Obergerichts (Justizaufsichtskommission) von Appenzell A.Rh. vom 15. März 2001 wird aufgehoben. 
2.- Es werden keine Gerichtskosten erhoben. 
 
 
3.- Der Kanton Appenzell A.Rh. hat die Beschwerdeführerin für das bundesgerichtliche Verfahren mit Fr. 1'200.-- zu entschädigen. 
 
4.- Dieses Urteil wird den Parteien und dem Obergericht (Justizaufsichtskommission) von Appenzell A.Rh. schriftlich mitgeteilt. 
_____________ 
Lausanne, 31. Juli 2001 
 
Im Namen der II. Zivilabteilung 
des SCHWEIZERISCHEN BUNDESGERICHTS 
Der Präsident: 
 
Der Gerichtsschreiber: