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Urteilskopf

104 V 135


31. Auszug aus dem Urteil vom 14. September 1978 i.S. Müller gegen Ausgleichskasse des Schreiner-, Möbel- und Holzgewerbes und Obergericht des Kantons Aargau

Regeste

Art. 28 Abs. 2 IVG.
Zur Bemessung der Invalidität erwerbstätiger Versicherter.

Sachverhalt ab Seite 135

BGE 104 V 135 S. 135

A.- Der 1914 geborene Ernst Müller, Inhaber einer zusammen mit zwei Söhnen geführten Schreinerei, leidet seit einigen Jahren an Polyarthritis. Nachdem er ein erstes Begehren angesichts einer vorübergehenden Besserung des Gesundheitszustandes im Mai 1975 zurückgezogen hatte, meldete er sich im April 1976 erneut bei der Invalidenversicherung zum Rentenbezug an. Laut Bericht von Dr. Z., Assistenzärztin am Kantonsspital Aarau, vom 6. Mai 1976 war Ernst Müller seit März 1973 - unterbrochen von Hospitalisationszeiten - zu 75% arbeitsunfähig. Der Hausarzt Dr. B. meinte dagegen, der Versicherte sei vom 2. März 1973 bis 18. September 1974 und vom 30. November 1975 bis 31. Dezember 1975 vollständig arbeitsunfähig gewesen; seither bestehe eine Arbeitsunfähigkeit von 30% (Bericht vom 18. Mai 1976). Ausserdem wurde bei der Regionalstelle für berufliche Eingliederung eine Stellungnahme eingeholt (24. September 1976). Mit Verfügung vom 21. Dezember 1976 sprach die Ausgleichskasse Ernst Müller eine halbe einfache Invalidenrente nebst Zusatzrente für die Ehefrau zu.

B.- Die hiegegen eingereichte Beschwerde wies das Obergericht des Kantons Aargau am 20. Mai 1977 ab.

C.- Ernst Müller lässt Verwaltungsgerichtsbeschwerde führen mit dem Begehren um Ausrichtung einer ganzen Invalidenrente. Er macht unter anderem geltend, dass bei der Bemessung der Invalidität auf den Arztbericht von Dr. Z. abgestellt werden müsse. Denn Dr. B. habe ihn nie in bezug auf die Gelenkleiden untersucht, sondern bloss nach den Anweisungen der Spitalärzte Dr. B. und Dr. Z. behandelt. Die Beurteilung durch den Hausarzt könne daher nicht massgebend sein. Aus dem Rückzug des ersten Gesuches dürfe im übrigen nichts im Hinblick
BGE 104 V 135 S. 136
auf die späteren Verhältnisse abgeleitet werden. Ab Herbst 1975 habe sich sein Gesundheitszustand rasch verschlimmert. Mit der Schreibmaschine habe er nicht mehr schreiben können, von Hand nur noch mit grösster Mühe. Administrative Arbeiten seien ihm nicht mehr möglich gewesen. Schliesslich habe er den Betrieb anfangs 1977 aus gesundheitlichen Gründen seinen Söhnen zur Weiterführung überlassen müssen.
Während die Ausgleichskasse auf einen Antrag verzichtet, schliesst das Bundesamt für Sozialversicherung auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde.

Erwägungen

Aus den Erwägungen:

2. a) Das IV-Recht unterscheidet bei der Bemessung der Invalidität zwischen den erwerbstätigen und den nichterwerbstätigen Versicherten. Bei der ersten Kategorie ist der Invaliditätsgrad auf Grund eines Einkommensvergleichs zu bestimmen. Dazu wird das Erwerbseinkommen, das der Versicherte nach Eintritt der Invalidität und nach Durchführung allfälliger Eingliederungsmassnahmen durch eine ihm zumutbare Tätigkeit bei ausgeglichener Arbeitsmarktlage erzielen könnte, in Beziehung gesetzt zum Erwerbseinkommen, das er erzielen könnte, wenn er nicht invalid geworden wäre (Art. 28 Abs. 2 IVG; sog. allgemeine Methode des Einkommensvergleichs). Bei den nichterwerbstätigen und den noch in Ausbildung begriffenen Versicherten ist dagegen ein Betätigungsvergleich vorzunehmen und für die Bemessung der Invalidität darauf abzustellen, in welchem Masse der Versicherte behindert ist, sich im bisherigen Aufgabenbereich zu betätigen (Art. 28 Abs. 3 IVG in Verbindung mit Art. 26bis und 27 Abs. 1 IVV; sog. spezifische Methode). Seit dem 1. Januar 1977 gilt für Hausfrauen, die vor dem Eintritt des Gesundheitsschadens nicht ganztägig erwerbstätig waren, die sog. gemischte Methode. Sie besteht darin, dass die Invalidität im Bereich der Erwerbstätigkeit auf Grund des Einkommensvergleichs, im Bereich der üblichen Tätigkeit im Haushalt jedoch anhand des Betätigungsvergleichs bemessen wird (vgl. Art. 27bis IVV).
b) Bei den Erwerbstätigen hat der Einkommensvergleich gemäss Art. 28 Abs. 2 IVG in der Regel in der Weise zu erfolgen, dass die beiden hypothetischen Erwerbseinkommen ziffernmässig
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möglichst genau ermittelt und einander gegenübergestellt werden, worauf sich aus der Einkommensdifferenz der Invaliditätsgrad bestimmen lässt. Insoweit die fraglichen Erwerbseinkommen ziffernmässig nicht genau ermittelt werden können, sind sie nach Massgabe der im Einzelfall bekannten Umstände zu schätzen und die so gewonnenen Annäherungswerte miteinander zu vergleichen. Dieses Vorgehen ist auch dann zulässig, wenn eine genaue ziffernmässige Einkommensermittlung an sich zwar möglich wäre, aber einen unverhältnismässig grossen Aufwand erfordern würde, und wenn ferner angenommen werden kann, dass die blosse Schätzung der Einkommen ein ausreichend zuverlässiges Resultat ergibt. Wird eine Schätzung vorgenommen, so muss diese nicht unbedingt in einer ziffernmässigen Festlegung von Annäherungswerten bestehen. Vielmehr kann auch eine Gegenüberstellung blosser Prozentzahlen genügen. Das ohne Invalidität erzielbare hypothetische Erwerbseinkommen ist alsdann mit 100% zu bewerten, während das Invalideneinkommen auf einen entsprechend kleineren Prozentsatz veranschlagt wird, so dass sich aus der Prozentdifferenz der Invaliditätsgrad ergibt (nicht veröffentlichte Urteile Buck vom 21. Juli 1971 und Mettler vom 5. April 1971). Eine mehr oder weniger genaue Schätzung der beiden hypothetischen Erwerbseinkommen - sei es ziffernmässig in Frankenbeträgen, sei es in blossen Prozentzahlen - rechtfertigt sich insbesondere in Extremfällen, d.h. wenn die konkreten Verhältnisse so liegen, dass die Differenz zwischen den beiden Einkommen mit oder ohne Invalidität den für den Rentenanspruch massgebenden Grenzwert von 66 2/3 %, 50% bzw. 33 1/3 % ganz eindeutig über- oder unterschreitet und in diesem Sinne die Voraussetzungen einer ganzen bzw. einer halben Invalidenrente klar erstellt sind (nicht veröffentlichtes Urteil Buck vom 21. Juli 1971).
c) Unter den Erwerbstätigen gibt es aber auch Fälle, bei denen eine zuverlässige Ermittlung oder Schätzung der beiden hypothetischen Erwerbseinkommen nach dem hievor Gesagten nicht möglich ist. Dies kann beispielsweise bei Selbständigerwerbenden zutreffen (etwa bei Landwirten, vgl. BGE 97 V 57 EVGE 1962 S. 148 f.), unter Umständen aber auch bei Unselbständigerwerbenden (nicht veröffentlichtes Urteil Puglisi vom 10. März 1976), und zwar insbesondere bei Arbeitnehmern, die gewisse Unkosten selbst zu tragen haben und die allenfalls
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zivilrechtlich als Selbständigerwerbende gelten (beispielsweise Akkordanten).
Das Eidg. Versicherungsgericht hat verschiedentlich festgehalten, dass in solchen Fällen ein Betätigungsvergleich - in Anlehnung an die spezifische Methode für Nichterwerbstätige (Art. 27 IVV) - vorzunehmen und der Invaliditätsgrad nach Massgabe der erwerblichen Auswirkung der verminderten Leistungsfähigkeit in der konkreten erwerblichen Situation zu ermitteln ist (BGE 97 V 57, ZAK 1969 S. 524, EVGE 1962 S. 148; nicht veröffentlichte Urteile Marty vom 21. Mai 1976, Puglisi vom 10. März 1976, Rosset vom 21. November 1973). Der grundsätzliche Unterschied dieses besonderen Verfahrens zur sog. spezifischen Methode besteht darin, dass die Invalidität nicht unmittelbar nach Massgabe des Betätigungsvergleichs als solchem bemessen wird. Vielmehr ist zunächst anhand des Betätigungsvergleichs die leidensbedingte Behinderung festzustellen; sodann aber ist diese im Hinblick auf ihre erwerbliche Auswirkung besonders zu gewichten. Eine bestimmte Einschränkung im funktionellen Leistungsvermögen eines Erwerbstätigen kann zwar, braucht aber nicht notwendigerweise eine Erwerbseinbusse gleichen Umfanges zur Folge zu haben. Wollte man bei Erwerbstätigen ausschliesslich auf das Ergebnis des Betätigungsvergleichs abstellen, so wäre der gesetzliche Grundsatz verletzt, wonach bei dieser Kategorie von Versicherten die Invalidität nach Massgabe der Erwerbsunfähigkeit zu bestimmen ist (vgl. Art. 4 Abs. 1 IVG).
Da sich dieses besondere Verfahren zur Bemessung der Invalidität bei Erwerbstätigen von der zur Bemessung der Invalidität Nichterwerbstätiger anzuwendenden spezifischen Methode wesentlich unterscheidet, erscheint es als unzweckmässig, diese beiden Verfahren unter der gleichen Bezeichnung "spezifische Methode" zusammenzufassen (nicht veröffentlichte Urteile Wolf vom 1. Juni 1977, Marty vom 21. Mai 1976 und Rosset vom 21. November 1973; ZAK 1969 S. 745). Es empfiehlt sich vielmehr, das besondere Verfahren bei Erwerbstätigen als "ausserordentliches Bemessungsverfahren" zu bezeichnen (nicht veröffentlichte Urteile Eisenring vom 19. Januar 1978, Zurwerra vom 20. Dezember 1977 und Puglisi vom 10. März 1976; vgl. auch Rz 116 und den Zwischentitel vor Rz 148 der neuen Wegleitung des Bundesamtes für Sozialversicherung über Invalidität und Hilflosigkeit, Druckvorlage vom 1. Juni 1978).
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3. Verwaltung und Vorinstanz ermittelten den Invaliditätsgrad sinngemäss auf Grund des ausserordentlichen Bemessungsverfahrens. Dies ist richtig angesichts des Umstandes, dass es sich bei der Schreinerei des Beschwerdeführers um einen Familienbetrieb handelt und dass das Geschäftsergebnis eines solchen Gewerbebetriebes - abgesehen von den familiären Faktoren - von einer Reihe nur schwer überblickbarer Komponenten, insbesondere auch solcher konjunktureller Natur, abhängt.
Um im vorliegenden Fall zu einem ausreichend zuverlässigen Ergebnis gelangen zu können, müssen aber vor allem zwei Voraussetzungen erfüllt sein: aus medizinischer Sicht muss der Zustand des Beschwerdeführers in der Weise abgeklärt sein, dass beurteilt werden kann, inwieweit der Beschwerdeführer in seinem Betrieb noch arbeitsfähig ist, d.h. ob und inwieweit er bestimmte betriebliche Funktionen zumutbarerweise noch ausüben kann, und aus betriebswirtschaftlicher Sicht muss die erwerbliche Bedeutung dieser Funktionen im Hinblick auf das Gesamtergebnis des Betriebes geklärt sein.
a) Die ärztlichen Auskünfte sind insofern widersprüchlich, als der Hausarzt Dr. B. im Bericht vom 18. Mai 1976, auf den Verwaltung und Vorinstanz im wesentlichen abstellten, für die Zeit vom 30. November 1975 bis 31. Dezember 1975 volle und ab 1. Januar 1976 bis auf weiteres 30%ige Arbeitsunfähigkeit bescheinigte, während Dr. Z. in ihrem Bericht vom 6. Mai 1976 (visiert von Dr. B., Leiter für Rheumatologie am Kantonsspital Aarau) die Auffassung vertrat, dass der Beschwerdeführer" seit März 1973 bis jetzt" durchgehend - abgesehen von den Zeiten der Hospitalisation - zu 75% arbeitsunfähig gewesen sei. Die letztere Schätzung ist sicherlich teilweise unrichtig, weil auf Grund der eigenen Angaben des Beschwerdeführers (Schreiben vom 10. Mai 1975) in Verbindung mit dem Bericht der Regionalstelle vom 24. September 1976 etwa ab Oktober 1974 für ein Jahr eine erhebliche Besserung eintrat und in dieser Zeit volle oder doch annähernd volle Arbeitsfähigkeit bestand, während zumindest für die Zeit des Spitalaufenthaltes vom 1. bis 19. Dezember 1975 und höchstwahrscheinlich auch darüber hinaus im Rahmen des Berichtes des Dr. B. volle Arbeitsunfähigkeit angenommen werden muss. Anderseits ist aber auch der Bericht des Hausarztes zu wenig schlüssig, wird doch die Beurteilung der Arbeitsfähigkeit nicht speziell begründet; zudem zweifelt
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der Beschwerdeführer deren Richtigkeit in der Verwaltungsgerichtsbeschwerde mit Nachdruck an. Jedenfalls steht fest, dass im vorliegenden Fall konkrete Angaben fehlen, inwieweit sich die leidensbedingte Behinderung des Beschwerdeführers auf dem manuellen Sektor der Berufsausübung als Schreiner einerseits und im Bereiche der Betriebsleitung und der kaufmännischen Belange anderseits auswirkte. Diese Lücken sind durch geeignete zusätzliche Erhebungen zu schliessen, weshalb die Sache an die Verwaltung zurückzuweisen ist.
b) Falls nicht allein schon die nähere medizinische Abklärung eine ausreichend zuverlässige Bemessung der Invalidität gestatten sollte (so etwa im Extremfall, dass bezüglich aller betrieblichen Funktionen fast vollständige Arbeitsunfähigkeit bescheinigt würde und demnach ein zwei Drittel offensichtlich übersteigender Invaliditätsgrad anzunehmen wäre), muss die Arbeitsunfähigkeit auf den verschiedenen in Betracht kommenden Arbeitsgebieten auch noch nach ihrer erwerblichen Auswirkung in bezug auf das Geschäftsergebnis gewichtet werden. Der Beschwerdeführer beanstandet insbesondere, dass die administrativen Arbeiten zu stark gewichtet seien; in seinem Betrieb mit bloss zwei Angestellten seien sie von untergeordneter Bedeutung und würden eine dritte Person nicht zu 50% auslasten. Zur Abklärung dieser Fragen könnte sich allenfalls eine Begutachtung durch einen Fachmann als notwendig erweisen. Der Regionalstellenbericht vom 24. September 1976 ist diesbezüglich zu wenig aufschlussreich.
c) Schliesslich wird bei der Neubeurteilung des Falles insbesondere auch darauf zu achten sein, dass invaliditätsfremde Faktoren, wie z.B. eine konjunkturbedingte Erwerbseinbusse, nicht in die Invaliditätsbemessung miteinbezogen werden.

Dispositiv

Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird in dem Sinne gutgeheissen, dass der Entscheid des Obergerichts des Kantons Aargau vom 20. Mai 1977 und die Verfügung der Ausgleichskasse Schreiner vom 21. Dezember 1976 aufgehoben werden und die Sache an die Verwaltung zurückgewiesen wird, damit sie nach erfolgter Aktenergänzung im Sinne der Erwägungen über den Rentenanspruch neu verfüge.

Inhalt

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Regeste: deutsch französisch italienisch

Sachverhalt

Erwägungen 2 3

Dispositiv

Referenzen

BGE: 97 V 57

Artikel: Art. 28 Abs. 2 IVG, Art. 28 Abs. 3 IVG, Art. 26bis und 27 Abs. 1 IVV, Art. 27bis IVV mehr...