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Urteilskopf

108 Ia 69


15. Auszug aus dem Urteil der I. öffentlichrechtlichen Abteilung vom 26. Mai 1982 i.S. X. gegen Staatsanwaltschaft des Kantons Zürich und Direktion der Justiz des Kantons Zürich (staatsrechtliche Beschwerde)

Regeste

Persönliche Freiheit; Aufschub des Strafvollzuges auf unbestimmte Zeit bei Straferstehungsunfähigkeit.
Die Strafvollzugsbehörden haben nicht das Recht, auf den Vollzug einer rechtskräftig verhängten Strafe zu verzichten (Erw. 2a); hingegen ist ein Strafaufschub auf unbestimmte Zeit ausnahmsweise zulässig (Erw. 2b). Voraussetzungen hiefür (Erw. 2c), insbesondere bei Selbstmordgefahr (Erw. 2d).
Gesundheitliche Störungen, die zur Entlassung aus der Sicherheitshaft geführt haben, brauchen nicht zu einem Aufschub des Strafvollzuges zu führen (Erw. 3).

Sachverhalt ab Seite 70

BGE 108 Ia 69 S. 70
Gestützt auf ein fachärztliches Gutachten bejahte die Staatsanwaltschaft des Kantons Zürich die Hafterstehungsfähigkeit von X. und setzte den Termin für den Antritt der mehrjährigen Zuchthausstrafe fest. Die Direktion der Justiz des Kantons Zürich wies den von X. hiegegen erhobenen Rekurs ab. Gegen diesen Entscheid hat X. staatsrechtliche Beschwerde gestützt auf Art. 4 BV und auf das ungeschriebene verfassungsmässige Recht der persönlichen Freiheit eingereicht.

Erwägungen

Auszug aus den Erwägungen:

2. a) Die angefochtene Verfügung stützt sich auf § 23 des zürcherischen Gesetzes über das kantonale Strafrecht und den Vollzug von Strafen und Massnahmen (kantonales Straf- und Vollzugsgesetz StVG ZH) vom 30. Juni 1974. Diese Bestimmung lautet wie folgt:
"Eine vollstreckbare Freiheitsstrafe oder freiheitsentziehende
Massnahme ist sofort zu vollziehen, wenn Fluchtgefahr oder eine erhebliche
Gefährdung des Massnahmezwecks oder der Öffentlichkeit besteht.
In den übrigen Fällen erlässt die Vollzugsbehörde einen
Strafantrittsbefehl. Wenn besondere Umstände es rechtfertigen, kann sie
einen Aufschub bewilligen."
Die Justizdirektion weist in der angefochtenen Verfügung darauf hin, diese Bestimmung gebe den Vollzugsbehörden, d.h. der Staatsanwaltschaft des Kantons Zürich und der ihr vorgesetzten Justizdirektion nicht das Recht, auf den Vollzug einer rechtskräftig verhängten Strafe überhaupt zu verzichten. Diese Auffassung entspricht dem Wortlaut des Gesetzes. Auch nach Sinn und Zweck kann die erwähnte Bestimmung keine andere Bedeutung haben, verstiesse sie doch sonst klarerweise gegen den Grundsatz der
BGE 108 Ia 69 S. 71
Gewaltentrennung. Eingriffe in rechtskräftige Strafurteile stehen nicht den Vollzugsbehörden, sondern allenfalls den Begnadigungsinstanzen zu. Diese Gesetzesauslegung hat das Bundesgericht in einem nicht veröffentlichten Urteil vom 4. Januar 1982 in Sachen R.H. als zutreffend bezeichnet, und der Beschwerdeführer anerkennt sie selbst grundsätzlich als richtig.
b) Nicht geäussert hat sich das Bundesgericht in jenem Falle zu der Frage, ob auch ein Aufschub des Strafvollzuges auf unbestimmte Zeit unstatthaft sei, zumal dann, wenn damit zu rechnen ist, dass das Vollzugshindernis überhaupt nie oder doch nicht vor dem Eintritt der Vollstreckungsverjährung wegfallen werde, so dass der Strafaufschub, wenn auch nicht in der Form, so doch im Ergebnis zu einem Strafverzicht wird. Die Justizdirektion scheint der Auffassung zuzuneigen, ein Strafaufschub dieser Art sei ebenso unzulässig wie ein formeller Strafverzicht. In diesem absoluten Sinne darf aber § 23 StVG nicht verstanden werden, und auch aus dem erwähnten Urteil des Bundesgerichtes lässt sich dies nicht ableiten. Der Umstand, dass die Organe des Strafvollzuges nicht befugt sind, definitiv auf die Vollstreckung zu verzichten, kann nicht ausschliessen, dass sie ganz ausnahmsweise einmal in die Lage kommen können, einen Strafaufschub auch dann in Erwägung zu ziehen, wenn nicht erkennbar ist, wann die dafür sprechenden Gründe wegfallen könnten und ob dies überhaupt je einmal der Fall sein werde. Es liesse sich weder mit dem im Grundsatz auch für den Verurteilten geltenden Recht der persönlichen Freiheit, das unter anderem die körperliche Integrität schützt (BGE 107 Ia 55 E. 3a, BGE 104 Ia 39 /40 E. 5a und 486 E. 4a mit Hinweisen), noch mit dem auf dem ganzen Gebiet des Verfassungsrechtes geltenden Verhältnismässigkeitsprinzip vereinbaren, eine kürzere oder längere Freiheitsstrafe auch dann ohne weiteres zu vollstrecken, wenn dies mit Sicherheit oder mit grösster Wahrscheinlichkeit den Tod oder eine dauernde, schwere Krankheit zur Folge hätte.
c) Anderseits ist es selbstverständlich, dass von der dargelegten Möglichkeit des Strafaufschubes auf unbestimmte Zeit nur mit grösster Zurückhaltung Gebrauch gemacht werden darf. Das öffentliche Interesse am Vollzug rechtskräftig verhängter Strafen und der Gleichheitssatz schränken den Ermessensspielraum der Vollzugsbehörde erheblich ein. Der Strafvollzug bedeutet für den Betroffenen immer ein Übel, das vom einen besser, vom andern weniger gut ertragen wird. Die blosse Möglichkeit, dass Leben oder Gesundheit des Verurteilten gefährdet sein könnten, genügt
BGE 108 Ia 69 S. 72
somit offensichtlich nicht für einen Strafaufschub auf unbestimmte Zeit. Der Behauptung des Beschwerdeführers, der Strafanspruch des Staates ermächtige diesen nicht, in die körperliche Integrität des Verurteilten einzugreifen, kann somit in dieser absoluten Form nicht beigepflichtet werden. Eine Verschiebung des Vollzuges auf unbestimmte Zeit kommt vielmehr nur dann in Frage, wenn nicht nur die Möglichkeit besteht, sondern mit beträchtlicher Wahrscheinlichkeit damit zu rechnen ist, dass der Strafvollzug das Leben oder die Gesundheit des Verurteilten gefährden würde, und selbst dann noch ist eine Interessenabwägung vorzunehmen, wobei neben den medizinischen Gesichtspunkten Art und Schwere der begangenen Straftat und die Dauer der Strafe mitzuberücksichtigen sind. Je schwerer Tat und Strafe, umso schwerer fällt - im Vergleich zur Gefahr des Verlustes der körperlichen Integrität - der staatliche Strafanspruch ins Gewicht (vgl. Urteil des deutschen BVerfG vom 19. Juni 1979 betr. Verhandlungsfähigkeit in: EuGRZ 1979, S. 470).
d) Die vorstehenden Überlegungen gelten dem Grundsatz nach auch für den Fall, dass das Leben des Verurteilten durch Selbstmord gefährdet ist. Die Beweisschwierigkeiten sind in dieser Hinsicht allerdings besonders gross. Die Rechtssicherheit verlangt hier eine nochmals erhöhte Zurückhaltung. Es darf nicht dazu kommen, dass die Selbstgefährlichkeit zu einem gängigen letzten Verteidigungsmittel wird, das von rechtskräftig Verurteilten oder ihren Anwälten in Fällen eingesetzt wird, in denen ein Begnadigungsgesuch keine Erfolgsaussichten hat. Ausserdem ist ein Strafaufschub so lange nicht in Betracht zu ziehen, als die Gefahr der Selbsttötung durch geeignete Massnahmen im Vollzug erheblich reduziert werden kann (vgl. SCHÄFER in Komm. Löwe-Rosenberg, 23. Auflage, 4. Band, N. 18 zu § 455 der deutschen Strafprozessordnung).

3. Der Beschwerdeführer hält die angefochtene Verfügung der Justizdirektion des Kantons Zürich für willkürlich im Sinne von Art. 4 BV. Er weist darauf hin, dass er am 17. November 1980 auf Grund gutachtlicher Berichte zweier Fachärzte mangels Hafterstehungsfähigkeit, vor allem wegen beträchtlicher Selbstmordgefahr, aus der Sicherheitshaft entlassen worden sei. Die nämlichen gesundheitlichen Störungen bestünden auch heute noch, weshalb die Strafvollzugsbehörden des Kantons Zürich sich mit ihrem früheren Entscheid in Widerspruch setzten, wenn sie die Straferstehungsfähigkeit jetzt bejahten.
BGE 108 Ia 69 S. 73
Die Rüge ist unbegründet. Sicherheitshaft und Strafvollzug lassen sich in diesem Zusammenhang nicht miteinander vergleichen. Durch die Entlassung eines Angeschuldigten aus der Sicherheitshaft wird der staatliche Strafanspruch - anders als bei einem unbefristeten Aufschub des Strafvollzuges - an sich nicht gefährdet. Bei einer Verschiebung des Vollzuges auf unbestimmte Zeit steht ausser der Gesundheit des Verurteilten auch die Sicherheit der Rechtsordnung und die Rechtsgleichheit auf dem Spiele. Es sind daher andere Interessen gegeneinander abzuwägen als bei einer Entlassung aus der Sicherheitshaft. Der Beschwerdeführer geht von der unzutreffenden Annahme aus, die Gesundheit des Verurteilten sei absolut geschützt und ihre Erhaltung sei in jedem Falle der Durchsetzung der rechtsstaatlichen Ordnung voranzustellen, was, wie dargelegt, nicht zutrifft.

Inhalt

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Regeste: deutsch französisch italienisch

Sachverhalt

Erwägungen 2 3

Referenzen

BGE: 107 IA 55, 104 IA 39

Artikel: Art. 4 BV, § 23 StVG