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Urteilskopf

111 II 405


81. Auszug aus dem Urteil der II. Zivilabteilung vom 19. Dezember 1985 i.S. S. gegen R. (Berufung)

Regeste

Besuchsrecht des nicht obhutsberechtigten geschiedenen Elternteils.
Art. 156 und 273/74 ZGB. Die Ausgestaltung des Besuchsrechts darf nicht vom Willen des betroffenen Kindes allein abhängen. Anderseits ist die Einstellung des Kindes gegenüber dem nicht obhutsberechtigten Elternteil nicht gänzlich ausser acht zu lassen. Es ist in jedem einzelnen Fall abzuklären, weshalb das Kind gegenüber diesem Elternteil eine Abwehrhaltung einnimmt und ob die Ausübung des Besuchsrechts das Kindeswohl tatsächlich gefährdet.
Art. 157 ZGB. An die Abänderung des Besuchsrechts darf nicht ein besonders strenger Massstab gelegt werden. Es genügt, wenn sich die Prognose des Scheidungsrichters als falsch erwiesen hat und die Beibehaltung der bisherigen Regelung das Wohl des Kindes gefährden würde.

Erwägungen ab Seite 406

BGE 111 II 405 S. 406
Aus den Erwägungen:

1. In tatsächlicher Hinsicht hat das Obergericht festgestellt, dass die Ausübung des Besuchsrechts durch den Beklagten am heftigen Widerstand der Kinder scheitert. Namentlich für die ältere, jetzt 13jährige Tochter bedeutet das vom Beklagten beanspruchte Besuchsrecht eine sehr unangenehme Pflicht, der sie sich wenn immer möglich zu entziehen versucht. Sie hat von ihrem Vater aufgrund der ehelichen Streitigkeiten, welche in Tätlichkeiten des Beklagten gegen Frau und Kind ausarteten, ein sehr ungünstiges Bild gewonnen, das sie mit seinen heutigen Bemühungen, seine Beziehung zu ihr zu verbessern, nicht zu vereinbaren vermag. Sie betrachtet diese Bemühungen als heuchlerisch und verlogen und hält ihren Vater für primitiv und widerlich. Sie sieht den Sinn der Besuche nicht ein. Die jüngere Tochter war bei der Trennung der Eltern kaum zwei Jahre alt und hat daher während des gemeinsamen Familienlebens kein ungünstiges Vaterbild gewonnen. Indessen ist sie heute mit ihren sieben Jahren gefühlsmässig stark an die Mutter und die ältere Schwester gebunden und zu einer selbständigen Beurteilung der Situation noch nicht fähig. Daraus entstehen für sie im Verhältnis zum Vater Loyalitätskonflikte. Der Klägerin bescheinigt die Vorinstanz, dass sie ihre Töchter nicht bewusst gegen den Vater beeinflusse. Nach Ansicht der Vorinstanz hat der Beklagte sein Besuchsrecht korrekt ausgeübt und muss sich diesbezüglich nichts vorwerfen lassen.
Gestützt auf diese Feststellungen ist die Vorinstanz zum Schluss gelangt, dass von einer dauernden und erheblichen Änderung der Verhältnisse im Sinne von Art. 157 ZGB seit der Scheidung der Parteien nicht gesprochen werden könne und dass die Ausübung des Besuchsrechts durch den Beklagten zwar in das Leben seiner Töchter eine gewisse Unruhe bringe, ohne aber diese dadurch einer
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nennenswerten Gefährdung ihres geistigen, sittlichen oder körperlichen Wohles auszusetzen. Eine gänzliche Aufhebung des väterlichen Besuchsrechts sei nicht gerechtfertigt, vielmehr trage die vom Bezirksgericht vorgenommene und vom Obergericht bestätigte Einschränkung des Besuchsrechts den besondern Umständen des vorliegenden Falles genügend Rechnung.

3. Derjenige Ehegatte, dem die Kinder bei der Scheidung entzogen werden, hat gemäss Art. 156 Abs. 2 in Verbindung mit Art. 273 ZGB Anspruch auf angemessenen persönlichen Verkehr mit diesen. Indessen darf nach Art. 274 Abs. 2 ZGB das Wohl der Kinder durch diesen Verkehr nicht gefährdet werden. Die Revision des Kindesrechts vom 25. Juni 1976 hat nichts daran geändert, dass es bei der konkreten Ausgestaltung des Besuchsrechts zu vermeiden gilt, die Kinder zwischen ihren Eltern hin- und herzureissen, weshalb das Besuchsrecht mit einer gewissen Zurückhaltung zu gewähren ist (BGE 100 II 81 E. 4). Anderseits ist aber auch zu berücksichtigen, dass das Besuchsrecht dem nicht obhutsberechtigten Elternteil um seiner Persönlichkeit willen zusteht und ihm daher nicht ohne wichtige Gründe ganz abgesprochen werden darf. Eine Gefährdung des Kindeswohls ist daher unter diesem Gesichtspunkt nicht leichthin anzunehmen. Sie kann nicht schon deswegen bejaht werden, weil bei den betroffenen Kindern eine Abwehrhaltung gegen den nicht obhutsberechtigten Elternteil festzustellen ist. Der bundesrätliche Entwurf zur Revision des Kindesrechts vom 5. Juni 1974 hatte in Art. 273 Abs. 2 ausdrücklich vorgesehen, dass der persönliche Verkehr mit einem Kind, welches das 16. Altersjahr zurückgelegt hat, nur mit dessen Einverständnis ausgeübt werden kann (BBl 1974 II S. 120). Die eidgenössischen Räte sind dem Bundesrat in dieser Hinsicht jedoch nicht gefolgt. Es wurde im Parlament der Befürchtung Ausdruck gegeben, dass die vom Bundesrat vorgeschlagene Lösung den noch unmündigen Jugendlichen überfordern würde und für ihn eine Loyalitätskrise zur Folge hätte (vgl. Amtl.Bull. Ständerat 1975 S. 123 und 1976 S. 86; Nationalrat 1976 S. 424). Bei der Ausgestaltung des Besuchsrechts soll somit nicht der Wille des betroffenen Kindes allein ausschlaggebend sein. Anderseits kann aus der Entstehungsgeschichte des geltenden Art. 274 ZGB auch nicht geschlossen werden, die Einstellung des Kindes sei gänzlich ausser acht zu lassen.
Vielmehr wurde im Parlament eigens darauf hingewiesen, dass im Rahmen von Art. 274 Abs. 2 ZGB auch einer Abwehrhaltung des betroffenen Kindes Rechnung zu tragen sei (vgl. Amtl.Bull. Nationalrat 1976 S. 424). In
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Art. 301 Abs. 2 ZGB werden denn auch die Eltern generell verpflichtet, dem Kind die seiner Reife angemessene Freiheit der Lebensgestaltung einzuräumen. Das bedeutet, dass im Rahmen des Eltern-Kindesverhältnisses die Personenwürde des Kindes zu respektieren ist, während dieses den Eltern Gehorsam und Achtung entgegenzubringen hat.
Es ist daher in jedem einzelnen Fall abzuklären, weshalb das vom Besuchsrecht betroffene Kind gegenüber dem nicht obhutsberechtigten Elternteil eine Abwehrhaltung einnimmt und ob die Ausübung des Besuchsrechts das Wohl des Kindes tatsächlich gefährdet. Diese Frage hat zunächst der Scheidungsrichter in Anwendung von Art. 156 ZGB zu entscheiden, dann aber auch der Abänderungsrichter gemäss Art. 157 ZGB. Im Zusammenhang mit der Anwendung dieser Bestimmung hat das Bundesgericht zwar festgehalten, dass die Abänderungsklage nicht dazu dienen kann, das Scheidungsverfahren neu aufzurollen, dass vielmehr eine wesentliche Veränderung der Verhältnisse eingetreten sein muss, welche die Abänderung der im Scheidungsurteil getroffenen Ordnung im Interesse des Kindes zwingend erfordert (BGE 100 II 77). Das heisst aber nicht, dass an die Abänderung des Besuchsrechts ein besonders strenger Massstab anzulegen sei. Es genügt, wenn sich die Prognose des Scheidungsrichters über die Auswirkungen des persönlichen Verkehrs zwischen dem nicht obhutsberechtigten Elternteil und den Kindern als eindeutig falsch erwiesen hat und die Beibehaltung der bisherigen Regelung zu einer Gefährdung des Wohles der Kinder führen würde (BGE 100 II 80 f. E. 3).

4. Entgegen der Meinung der Klägerin hat der gerichtliche Sachverständige, auf dessen Bericht sich die Vorinstanz stützt, nicht festgestellt, dass die Ausübung des Besuchsrechts durch den Beklagten eine Gefährdung des geistigen und seelischen Wohls der beiden Kinder zur Folge hätte. Im Gutachten des Schulpsychologischen Dienstes vom 12. Oktober 1983, in welchem sich der Experte mit der älteren Tochter befasst, wird bei dieser zwar eine Abwehrhaltung gegen den Vater festgestellt, und es werden auch die Gründe dargelegt, die zu dieser Einstellung des Kindes geführt haben. Dem Gutachten lässt sich indessen nicht entnehmen, dass das von den kantonalen Instanzen eingeschränkte väterliche Besuchsrecht zu einer eigentlichen Gefährdung des geistig-seelischen Wohlbefindens des Kindes führen werde. Zwar ist von gewissen Angstreaktionen der älteren Tochter dem Vater gegenüber die Rede, doch macht der Gutachter keine Angaben über die Bedeutung
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dieser Ängste und die Möglichkeit, diese abzubauen. Auch aus der zusätzlichen Befragung beider Kinder durch einen Kinder- und Jugendpsychologen vom 26. Juli 1984 ergibt sich nichts, was auf eine Gefährdung des Wohles der Kinder bei Ausübung des Besuchsrechts durch den Beklagten hindeuten würde. Dagegen hat die Vorinstanz ausdrücklich und für das Bundesgericht verbindlich festgestellt, dass der Beklagte sein Besuchsrecht klaglos ausübe und ehrlich bemüht sei, das Vertrauen seiner beiden Töchter wieder zu gewinnen. Unter diesen Umständen kann der Vorinstanz nicht vorgeworfen werden, sie habe Bundesrecht verletzt, weil sie das Besuchsrecht des Beklagten nicht gänzlich aufgehoben, sondern nur eingeschränkt hat.
Damit wird allerdings nicht gesagt, dass im Falle der Weigerung der Kinder, ihren Vater zu besuchen oder seinen Besuch zu empfangen, beim Vollzug des abgeänderten Scheidungsurteils allenfalls direkter Zwang zur Anwendung gelangen könnte. Die Klägerin verweist in diesem Zusammenhang auf BGE 107 II 303, wo das Bundesgericht bemerkt hatte, dass nach heute allgemein anerkannter Auffassung zur Durchsetzung des Besuchsrechts auf die Anwendung direkten Zwangs gegenüber Kindern verzichtet werden sollte. Das Bundesgericht hatte in jenem Urteil zwar nicht abschliessend zu dieser Frage Stellung zu nehmen, sondern nur über die Rüge des nicht obhutsberechtigten Elternteils wegen willkürlicher Beweiswürdigung zu befinden. Auch im vorliegenden Fall bildet die Vollstreckung des Besuchsrechts des Beklagten nicht Gegenstand des Rechtsstreits, in welchem nur über Bestand und Umfang des Besuchsrechts zu entscheiden ist. Wollte man bei zu befürchtenden Vollzugsschwierigkeiten auch den Bestand des Besuchsrechts für die betroffenen Kinder als unzumutbar bezeichnen, wie es der Meinung der Klägerin entspricht (in dieser Richtung äussert sich auch RICHARD BLUM, Der persönliche Verkehr mit dem unmündigen Kind, Diss. Zürich 1983, S. 98 ff.), so würde dies letzten Endes doch wieder dazu führen, auf den Willen des betroffenen Kindes allein abzustellen, was der Absicht des Gesetzgebers widerspricht.

Inhalt

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Regeste: deutsch französisch italienisch

Erwägungen 1 3 4

Referenzen

BGE: 100 II 81, 100 II 77, 100 II 80, 107 II 303

Artikel: Art. 157 ZGB, Art. 274 Abs. 2 ZGB, Art. 273 ZGB, Art. 274 ZGB mehr...