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Urteilskopf

115 IV 156


35. Auszug aus dem Urteil der Anklagekammer vom 13. Juni 1989 i.S. G. H. gegen Eidg. Steuerverwaltung

Regeste

Art. 99 Abs. 1 VStrR; Entschädigung.
Zu den entschädigungspflichtigen anderen Nachteilen im Sinne dieser Bestimmung gehören auch die notwendigen Verteidigungskosten.

Sachverhalt ab Seite 156

BGE 115 IV 156 S. 156

A.- Die Eidgenössische Steuerverwaltung, Hauptabteilung Warenumsatzsteuer, eröffnete mit Schlussprotokoll vom 12. August 1988 gegen G. H. ein Strafverfahren wegen Verdachts der Steuerhinterziehung im Sinne von Art. 36 Abs. 1 WUStB (SR 641.20).
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Eine auf Antrag von G. H. erfolgte Ergänzung der Untersuchung ergab unter anderem, dass dem Steuerinspektor "bei der Erfassung der Einnahmen für das Jahr 1985 ein massgeblicher Fehler unterlaufen war"; da zudem weitere Korrekturen vorgenommen werden konnten, stellte die Eidg. Steuerverwaltung das Strafverfahren am 10. April 1989 ein; Kosten wurden G. H. nicht auferlegt, hingegen wurde ihm eine beantragte Entschädigung für die Kosten des beigezogenen Anwalts verweigert.

B.- Mit Beschwerde vom 10. Mai 1989 an die Anklagekammer des Bundesgerichts beantragt G. H., es sei ihm gemäss Art. 99 VStrR für das Verfahren vor der Eidg. Steuerverwaltung eine "kostendeckende Entschädigung" für die Verteidigungskosten zuzusprechen.
Die Eidg. Steuerverwaltung beantragt, die Beschwerde abzuweisen.

Erwägungen

Aus den Erwägungen:

1. a) Nach Art. 99 Abs. 1 VStrR ist dem Beschuldigten, gegen den das Verfahren eingestellt wird, auf Begehren eine Entschädigung für die Untersuchungshaft und andere Nachteile, die er erlitten hat, auszurichten; sie kann ganz oder teilweise verweigert werden, wenn er die Untersuchung schuldhaft verursacht oder das Verfahren mutwillig verlängert hat.
b) Dem Beschwerdeführer wird nicht vorgeworfen, einen dieser Verweigerungsgründe gesetzt zu haben. Die Beschwerdegegnerin ist indessen der Ansicht, es liege kein entschädigungspflichtiger anderer Nachteil vor; sie räumt zwar ein, die dem Beschwerdeführer erwachsenen Anwaltskosten könnten einen erheblichen Nachteil im Sinne von Art. 99 Abs. 1 VStrR darstellen, lehnt diese aber als nicht entschädigungspflichtig ab, weil der Beizug eines Verteidigers hier unnötig gewesen wäre.

2. Mit der Schaffung eines Verwaltungsstrafrechts sollte der Verwaltung ein vollwertiges Untersuchungsinstrument in die Hand gegeben werden, weil ihre Untersuchung, falls die Strafsache zur gerichtlichen Beurteilung gelangt, die gleiche Funktion habe wie die Voruntersuchung im gewöhnlichen Strafverfahren; die Machtfülle der Verwaltung, welche im Verwaltungsstrafverfahren zugleich Untersuchungsbehörde, Anklagebehörde und Richter sei (Amtl.Bull. NR 1973 II 1492), bedinge auf der anderen Seite besonders für das Untersuchungsstadium rechtsstaatliche Kautelen,
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wie den Ausbau der Parteirechte, umfassenden richterlichen Rechtsschutz, Entschädigung für erlittene Nachteile (BBl 1971 I 1002); in bezug auf den Ausbau der Parteirechte sollte unter anderem die Mitwirkung eines Verteidigers bereits im Untersuchungsverfahren gefördert werden (Amtl.Bull. NR 1973 I 459), wie dies schon Art. 6 Ziff. 3 lit. c EMRK verlangt (W. R. PFUND, Das Gestrüpp unseres Steuerstrafrechts, ASA 48, 19, mit Hinweisen), auf welche das Verwaltungsstrafrecht ausgerichtet ist (BBl 1971 I 1001). Diese Grundsätze sind bei der Auslegung von Art. 99 Abs. 1 VStrR zu beachten.
Die Zusprechung einer Parteientschädigung im Strafverfahren - und damit auch im Verwaltungsstrafverfahren, dessen Strafen "eigentliche Strafen im Rechtssinne" (Amtl.Bull. SR 1971 S. 836) darstellen - ist eine kostenrechtliche Konsequenz der Unschuldsvermutung (Art. 6 Abs. 2 EMRK), die auf dem Grundsatz beruht, dass der Freigesprochene und ihm gleichzustellende nicht verurteilte Angeschuldigte unbeschadet eines fortbestehenden Verdachts (vgl. zu letzterem BGE 98 Ia 19) und der Frage, ob ihr Verhalten aus sonstigen Gründen zu missbilligen ist, nicht nur keine Verfahrenskosten tragen, sondern auch Ersatz der notwendigen Auslagen erhalten sollen.
a) Zu Art. 99 Abs. 1 VStrR stellt die Botschaft des Bundesrates fest, es gehe bei den entschädigungspflichtigen anderen Nachteilen "ausschliesslich um eine Entschädigung für Nachteile, die durch Untersuchungshandlungen der Verwaltung verursacht wurden; die Parteientschädigung im gerichtlichen Verfahren gemäss eidgenössischem oder kantonalem Recht (...) bleibt davon unberührt" (BBl 1971 I 1015). Nicht ausgeschlossen ist demnach die Parteientschädigung im (nichtgerichtlichen) Verfahren vor der Verwaltung; es ist daher zu prüfen, ob zu den anderen Nachteilen auch die Kosten des Verteidigers - welchen der Beschuldigte gemäss Art. 32 Abs. 1 VStrR "in jeder Lage des Verfahrens" bestellen kann - gehören.
b) In bezug auf Art. 122 Abs. 1 BStP, welcher die gleiche Formulierung wie Art. 99 VStrR verwendet, hat die Anklagekammer des Bundesgerichts entschieden, dass als Nachteile im Sinne dieser Bestimmung auch die dem Beschuldigten erwachsenen Auslagen wie Reisekosten, Porti und Telefonspesen anzuerkennen sind; im gleichen Urteil findet sich eine Andeutung auf die Möglichkeit der Erstattung von Verdienstausfall im Rahmen von Art. 122 Abs. 1 BStP (BGE 64 I 80). In der Lehre wird die
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Auffassung vertreten, dass bei der Entschädigung auch die Verteidigungskosten mitzuberücksichtigen sind (vgl. etwa R. HAUSER, Kurzlehrbuch des schweizerischen Strafprozessrechts, 2. Auflage, Basel 1984, S. 323). In diesem Sinne bestimmt denn auch Art. 11 der Verordnung vom 25. November 1974 über Kosten und Entschädigungen im Verwaltungsstrafverfahren (nachfolgend: Verordnung; SR 313.32), dass der Beschuldigte, welcher eine Entschädigung nach Art. 99 VStrR verlange, der zuständigen Behörde eine detaillierte Aufstellung einzureichen habe, die die kosten des Verteidigers oder Beistandes (Abs. 2 lit. a), die Barauslagen und anderen Spesen über Fr. 50.-- (Abs. 2 lit. b) sowie den Verdienstausfall (Abs. 2 lit. c) enthalten solle; unnötige oder übersetzte Kosten seien nicht zu ersetzen (Abs. 3).
c) Aus dieser Regelung ergibt sich, dass dem Beschuldigten, gegen welchen das Verfahren eingestellt wird, gemäss Art. 99 Abs. 1 VStrR auf entsprechendes Begehren hin auch die notwendigen Verteidigungskosten zu erstatten sind (vgl. auch BGE 108 IV 203). Bezüglich der Notwendigkeit der Parteikosten darf dabei indessen kein allzu strenger Massstab angelegt werden, denn Verteidigungskosten müssen im Sinne dieser Bestimmung grundsätzlich dann als notwendige Auslagen anerkannt werden, wenn die Verteidigung im Zeitpunkt, als der Verteidiger in Anspruch genommen wurde, zulässig war - was gemäss Art. 32 VStrR in jeder Lage des Verfahrens der Fall ist -, und die Kosten unmittelbar durch das Verfahren bedingt und aus Vorkehren entstanden sind, welche sich bei sorgfältiger Interessenwahrung als geboten erweisen oder doch in guten Treuen verantworten lassen (vgl. dazu auch BGE 111 Ib 101 E. 3 betreffend Art. 115 Abs. 1 EntG). Somit besteht das Recht auf Beizug eines Verteidigers und insbesondere die entsprechende Entschädigungspflicht entgegen der Auffassung der Beschwerdegegnerin bereits während der Untersuchung, also auch schon vor Aufnahme eines Schlussprotokolls; diese Auslegung entspricht dem im Verwaltungsstrafrecht angestrebten "weitgehenden Recht auf Verteidigung" (Amtl.Bull. NR 1973 II 1492).
Daran vermag der Hinweis der Beschwerdegegnerin, der Beschwerdeführer hätte als Fachmann auf buchhalterischem und steuerlichem Gebiet seine Sache - zumindest im Anfangsstadium - selber führen können, nichts zu ändern. Immerhin unterlief sogar dem Steuerinspektor ebenfalls Fachmann ein Versehen, welches offenbar Hauptanlass für das gegen den Beschwerdeführer eingeleitete Strafverfahren bildete. Auch wenn der
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Beschwerdeführer selber in der Lage gewesen sein sollte, dieses Versehen festzustellen, wäre dieser Umstand allein nicht Grund genug, ihm das grundsätzlich bestehende Recht auf Beizug eines Verteidigers in einem Strafverfahren, welches ihn in seiner geschäftlichen Stellung als Treuhänder empfindlich treffen könnte, abzusprechen.
d) Nach Art. 11 Abs. 3 der Verordnung dürfen bei der Festsetzung der Entschädigung lediglich unnötige oder übersetzte Kosten nicht berücksichtigt werden, woraus sich ergibt, dass für die Anwaltskosten eine angemessene Parteientschädigung auszurichten ist (vgl. J. P. MÜLLER in ZBJV 116 (1980) S. 23 f.), welche den tatsächlichen und rechtlichen Schwierigkeiten des konkreten Falles entspricht; nicht zu entschädigen sind insbesondere überflüssige - abzustellen ist dabei in jedem Fall auf die Verhältnisse, wie sie sich im Zeitpunkt des Verteidigerbeizuges bzw. der konkreten Rechtsvorkehr darboten -, rechtsmissbräuchliche oder übermässige, d.h. unverhältnismässig hohe Aufwendungen; die jeweiligen kantonalen Anwaltstarife - welche indessen nicht direkt anwendbar sind - können dabei für die Bemessung des verhältnismässigen Aufwandes als Anhaltspunkt dienen.
e) Aus diesen Gründen ist die Beschwerde gutzuheissen; die Eidg. Steuerverwaltung wird unter Berücksichtigung der vorstehenden Grundsätze darüber zu befinden haben, ob die Anwaltskosten im vorliegenden Fall voll oder nur teilweise zu entschädigen sind. Dabei wird zu berücksichtigen sein, dass die Eröffnung des Strafverfahrens unter anderem einem Fehler des Steuerinspektors zuzuschreiben ist,

Inhalt

Ganzes Dokument
Regeste: deutsch französisch italienisch

Sachverhalt

Erwägungen 1 2

Referenzen

BGE: 98 IA 19, 108 IV 203, 111 IB 101

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