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Urteilskopf

116 Ia 143


25. Auszug aus dem Urteil der I. öffentlichrechtlichen Abteilung vom 17. Juli 1990 i.S. R. gegen a.o. Generalprokuratorin und Anklagekammer des Obergerichtes des Kantons Bern (staatsrechtliche Beschwerde)

Regeste

Persönliche Freiheit. Art. 5 Ziff. 1 und 3 EMRK. Untersuchungshaft; übermässige Dauer.
1. Voraussetzungen des dringenden Tatverdachts (E. 3).
2. Dauer der Untersuchungshaft. Der Haftrichter darf die Untersuchungshaft nur solange erstrecken bzw. ein Haftentlassungsgesuch abweisen, als die Haftdauer nicht in grosse Nähe der konkret zu erwartenden Freiheitsstrafe rückt (E. 5a). Anwendung dieses Grundsatzes auf den konkreten Fall; Begriff der Mittäterschaft (E. 5b, c).

Sachverhalt ab Seite 143

BGE 116 Ia 143 S. 143
Das besondere Untersuchungsrichteramt des Kantons Bern führt seit Anfang 1989 ein umfangreiches Ermittlungsverfahren gegen zahlreiche Personen wegen gewerbsmässigen Betruges. Zu den Verdächtigen gehört auch das Ehepaar K., welches am 12. August 1989 in Untersuchungshaft versetzt wurde. Die bis dahin getätigten Ermittlungen hatten den Verdacht erhärtet, dass
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Herr K. in den Jahren 1987 und 1988 als Kopf einer Gruppe von Beteiligten und unter Verwendung eines raffiniert gesponnenen Netzes fiktiver Unternehmen durch Vorspiegelung fiktiver Exportgeschäfte mit EDV-Programmdisketten und dem Versprechen auf hohe Gewinnaussichten verschiedene "Kooperationspartner" betrogen habe.
Bei der polizeilichen Anhaltung der Eheleute K. war auch deren Sohn, R., anwesend. Dieser war bis dahin offenbar nicht in die Untersuchung einbezogen, und gegen ihn lag auch kein Haftbefehl vor. Nach Rücksprache mit dem zuständigen Untersuchungsrichter wurde auch R. in Untersuchungshaft versetzt. In der ersten untersuchungsrichterlichen Einvernahme wurde er der Mittäterschaft an den betrügerischen Geschäften beschuldigt, insofern als er Direktor der in diese Geschäfte verwickelten Finanzgesellschaft X. gewesen sei.
Mit Entscheid vom 29. November 1989 wies die Anklagekammer des Obergerichts des Kantons Bern ein erstes Haftentlassungsgesuch von R. ab. Eine dagegen erhobene staatsrechtliche Beschwerde wies das Bundesgericht am 10. Januar 1990 ab, soweit es darauf eintreten konnte. Nachdem die Anklagekammer mit Beschluss vom 2. März 1990 ein zweites Entlassungsgesuch von R. abgewiesen hatte, gelangte dieser in der Folge erneut an die Untersuchungsbehörden mit dem Antrag, er sei unverzüglich aus der Haft zu entlassen. Die Anklagekammer wies auch dieses dritte Gesuch kantonal letztinstanzlich ab. Gegen diesen Entscheid erhebt R. erneut staatsrechtliche Beschwerde. Er rügt eine Verletzung der persönlichen Freiheit sowie von Art. 5 Ziff. 1 lit. c und Ziff. 3 EMRK und beantragt neben der Aufhebung des angefochtenen Entscheides die sofortige Entlassung aus der Untersuchungshaft. Das Bundesgericht heisst die Beschwerde gut aus folgenden

Erwägungen

Erwägungen:

3. Art. 111 Abs. 1 StrV/BE bestimmt unter dem Marginale "Verhaftungsgründe" zunächst als Grundsatz, dass der Angeschuldigte während der Voruntersuchung in der Regel in Freiheit bleibe. Nach Abs. 2 ist der Untersuchungsrichter jedoch befugt, "ihn zu verhaften, wenn bestimmte und dringende Verdachtsgründe für dessen Täterschaft oder Teilnahme sprechen" und ausserdem einer der in Abs. 2 lit. a-c genannten Haftgründe (Flucht-,
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Kollusions- oder Wiederholungsgefahr) gegeben sind. Der Beschwerdeführer wendet sich, wie zuvor in seiner ersten staatsrechtlichen Beschwerde, zur Hauptsache gegen die Annahme der Anklagekammer, gegen ihn bestünden bestimmte und dringende Verdachtsgründe für eine Beteiligung an den fraglichen Geschäften.
a) Das Bundesgericht hat in seinem das erste Haftentlassungsgesuch des Beschwerdeführers betreffenden Urteil vom 10. Januar 1990 erwogen, aufgrund der damals vorliegenden Anhaltspunkte habe ein dringender Verdacht der Gehilfenschaft zu gewerbsmässigem Betrug nicht nur bei der Verhaftung am 11. August 1989, sondern auch noch ca. 3 1/2 Monate später zum Zeitpunkt des damaligen Entscheides der Anklagekammer bejaht werden können. Zu diesen Anhaltspunkten zählte es insbesondere die belastende Aussage eines gewissen P., der offenbar als vorläufiger Abnehmer der Disketten fungierte. Nach dieser Aussage soll der Beschwerdeführer seine Mutter mehrmals nach Samnaun begleitet und ihr beim Umpacken von Disketten geholfen haben. Ausserdem fiel entscheidend ins Gewicht, dass der Beschwerdeführer Direktor der in das Diskettengeschäft involvierten Firmen X. und Y. war. Gestützt auf diese und weitere in Erwägung 3a des genannten Urteils näher dargelegte Umstände kam das Bundesgericht damals zum Schluss, dass die Annahme, der Beschwerdeführer habe von den Diskettengeschäften und deren Hintergrund gewusst, keineswegs willkürlich sei und sich der Verdacht der Gehilfenschaft zu gewerbsmässigem Betrug auf hinreichend konkrete Anhaltspunkte abstützen könne.
b) In ihrem mit der vorliegenden Beschwerde angefochtenen Entscheid führt die Anklagekammer - in wörtlicher Übernahme der Vernehmlassung der a.o. Generalprokuratorin - zum Tatverdacht aus, das belastende Gesamtbild habe sich weiter verdichtet. Zur Begründung verweist die a.o. Generalprokuratorin ihrerseits auf die Erwägungen der beiden Untersuchungsrichter in ihrem Beschluss vom 16. Mai 1990. Danach ergebe sich der dringende Tatverdacht ausser aus den früher geltend gemachten Umständen zusätzlich daraus, dass der Beschwerdeführer nach Aussagen einer in das Diskettengeschäft verwickelten Person, S., auch in Luxemburg beim Umpacken von Disketten dabei war. Ferner habe sich der Beschwerdeführer wenige Tage vor einer durch die deutsche Steuerbehörde an seinem Domizil in Deutschland beschlossenen Haussuchung bereits nach Italien abgemeldet gehabt; schliesslich habe er nach jüngsten Erkenntnissen in L. zwei auf seinen Namen
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lautende und seiner vorerst ausschliesslichen Verfügungsberechtigung vorbehaltene Konten unterhalten, über welche er im Oktober und Dezember 1989 ca. eine halbe Million DM - mutmassliches Deliktsgut - verschoben habe. Aus diesen Anhaltspunkten könne einzig geschlossen werden, dass der Beschwerdeführer von Anfang an mit Wissen und Willen an den inkriminierten Machenschaften aktiv beteiligt gewesen sei.
c) Was der Beschwerdeführer gegen diese Würdigung vorbringt, ist nicht geeignet, den angefochtenen Entscheid als verfassungs- oder konventionswidrig erscheinen zu lassen. Mit seiner breit und detailliert angelegten Kritik verkennt der Beschwerdeführer Aufgabe und Möglichkeiten des Bundesgerichts bei der Überprüfung des dringenden Tatverdachts. Wie bereits im Urteil vom 10. Januar 1990 ausgeführt, kann es bei dieser Prüfung nicht Sache des Bundesgerichts sein, dem Sachrichter vorgreifend eine erschöpfende Abwägung sämtlicher belastender und entlastender Umstände oder etwa eine umfassende Bewertung der Glaubwürdigkeit der den Beschwerdeführer belastenden Personen vorzunehmen. Zu prüfen ist vielmehr, ob genügend konkrete Anhaltspunkte für eine Straftat und eine Beteiligung des Beschwerdeführers an dieser Tat vorliegen, die Untersuchungsbehörden somit das Bestehen eines dringenden Tatverdachts mit vertretbaren Gründen bejahen durften. Solche konkreten Anhaltspunkte sind nach wie vor gegeben. Während der Hinweis der Untersuchungsbehörden auf die Abmeldung des Beschwerdeführers aus Deutschland in dieser Form mangels weiterer Anhaltspunkte zwar kaum geeignet sein dürfte, zum Nachweis oder zur Bekräftigung eines dringenden Tatverdachts beizutragen, kann dies für die belastenden Aussagen von S. bejaht werden. Auch aus diesen Aussagen konnten die Untersuchungsbehörden ohne Willkür den Schluss ziehen, dass der Beschwerdeführer über den Auftrag, den S. offenbar vom Vater des Beschwerdeführers erhalten hatte (Umpacken von Disketten) zumindest im Bild war und möglicherweise auch bei dessen Ausführung dabei war bzw. geholfen hat. Aber auch bezüglich der beiden Konten des Beschwerdeführers in L. erscheint es angesichts der Umstände, insbesondere des zeitlichen Zusammenhangs und dem Aussageverhalten des Beschwerdeführers nicht als offensichtlich unhaltbar, einen Bezug zwischen den durch den Beschwerdeführer getätigten Transaktionen und dem Gegenstand der Untersuchung herzustellen. Zusammen mit den früheren, vom Bundesgericht bereits gewürdigten Verdachtsmomenten durfte aus diesen
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Anhaltspunkten der Schluss gezogen werden, dass ein hinreichend konkreter Verdacht einer Beteiligung des Beschwerdeführers bestehe.

4. Was die in Art. 111 Abs. 2 lit. a-c StrV/BE geregelten Haftgründe betrifft, führt die Anklagekammer aus, das Vorliegen von Kollusionsgefahr sei evident. Wie es sich damit und allfälligen anderen Haftgründen verhält, kann aus den nachstehenden Gründen offenbleiben.

5. Abweichend von ihrem dem ersten bundesgerichtlichen Urteil zugrundeliegenden Entscheid hält die Anklagekammer heute dafür, dass der Beschwerdeführer nicht nur der Gehilfenschaft, sondern der Mittäterschaft am gewerbsmässigen Betrug dringend verdächtigt sei. Offenbar gestützt auf diese neue Bewertung der Rolle des Beschwerdeführers kommt die Anklagekammer zum Schluss, die bisherige Dauer der Untersuchungshaft sei keineswegs unverhältnismässig. Der Beschwerdeführer wendet dagegen ein, die bis heute ausgestandene Haft stehe in keinem Verhältnis mehr zu einer auch im ungünstigsten Falle anzunehmenden Strafe.
a) Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtes und der Strassburger Organe kann eine Haft die zulässige Dauer überschreiten, wenn die Untersuchung nicht genügend vorangetrieben wird. Auch unabhängig vom Vorwurf einer Verletzung des Beschleunigungsgebotes darf der Haftrichter die Untersuchungshaft nur solange erstrecken, als ihre Dauer nicht in grosse Nähe der konkret zu erwartenden Strafe rückt. Dieser Grenze ist auch deshalb grosse Beachtung zu schenken, weil das erkennende Gericht dazu neigen könnte, die Dauer der erstandenen Haft bei der Strafzumessung mitzuberücksichtigen. Insofern besteht somit eine Art absoluter Höchstdauer der Untersuchungshaft (BGE 107 Ia 258 E. 2b mit Hinweisen auch auf die Rechtsprechung der Strassburger Organe).
b) Der Beschwerdeführer befand sich im Zeitpunkt des Entscheides der Anklagekammer seit ca. zehn Monaten in Untersuchungshaft. Ob diese Dauer bereits in grosse Nähe der zu erwartenden Strafe gerückt wäre, wenn man vom Verdacht der Mittäterschaft des Beschwerdeführers ausgehen wollte, kann dahingestellt bleiben. Als Mittäter gilt nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung, wer an der Entschliessung, Planung oder Ausführung eines Deliktes vorsätzlich und in so massgeblicher Weise mit anderen Tätern zusammenwirkt, dass er als Hauptbeteiligter dasteht (BGE 108 IV 92 E. 2a mit Hinweisen). Nach dem Ermittlungsstand, wie
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er sich aufgrund der dem Bundesgericht vorliegenden Akten darstellt, liegen für den Verdacht einer derart intensiven Beteiligung des Beschwerdeführers keine ausreichend konkreten Hinweise vor. Bereits in seinem Urteil vom 10. Januar 1990 hat das Bundesgericht festgehalten, es bestünden keine Anhaltspunkte dafür, dass der Beschwerdeführer als Direktor der Firma X. oder der Firma Y. im Zusammenhang mit der Abwicklung der Geschäfte tatsächlich tätig geworden oder dass er von einem der zahlreichen Mitangeschuldigten einer aktiven und massgeblichen Beteiligungshandlung beschuldigt worden wäre. Von daher erschiene, so das Bundesgericht damals, die Annahme einer Mittäterschaft am gewerbsmässigen Betrug als sehr zweifelhaft. Diese Zweifel können auch durch die von den Untersuchungsbehörden zusätzlich angeführten Verdachtsmomente nicht ausgeräumt werden. Weder die Anwesenheit des Beschwerdeführers und dessen allfällige Mithilfe beim Umpacken der Disketten in Luxemburg noch die getätigten Transaktionen im Zusammenhang mit den Konten in L. vermögen den dringenden Verdacht zu begründen, dass er bei der Abwicklung der Geschäfte den Hauptangeschuldigten nicht nur geholfen, sondern in gemeinsamer Verantwortung mit ihnen agiert hat. Dies scheinen die Untersuchungsbehörden im übrigen selbst einzuräumen, wenn sie den Beschwerdeführer als "lernbeflissenen Trabanten seines Vaters" darstellen, dem er "sklavische Gefolgschaft" leiste, und welcher ihn "punktuell für einzelne Operationen" einsetze.
c) Aufgrund der dem Bundesgericht vorliegenden Akten kann demnach zumindest zum jetzigen Zeitpunkt ein hinreichend konkreter Tatverdacht nur für Gehilfenschaft zu gewerbsmässigem Betrug, nicht jedoch für Mittäterschaft bei diesem Delikt bejaht werden. Unter diesen Umständen ist die Haftdauer aber als unverhältnismässig anzusehen und der Beschwerdeführer unverzüglich aus der Haft zu entlassen. Der Freiheitsentzug dauerte z.Zt. des Entscheides der Anklagekammer seit fast zehn und heute seit über elf Monaten an. Auch bei aller gebotenen Zurückhaltung drängt sich der Schluss auf, dass diese Haftdauer jedenfalls in grosse Nähe der zu erwartenden Freiheitsstrafe gerückt ist und jede weitere Fortsetzung der Haft als verfassungs- und konventionswidrig anzusehen ist. Dies ergibt sich nicht nur aus der nur untergeordneten Rolle, die der Beschwerdeführer bei der Abwicklung der fraglichen Geschäfte gespielt zu haben scheint; für die Strafzumessung dürften darüber hinaus insbesondere das Alter des Beschwerdeführers
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sowie eine gewisse, von den Untersuchungsbehörden sogar als sehr intensiv dargestellte Abhängigkeit von seinem Vater von Bedeutung sein; überdies scheint der Beschwerdeführer nicht vorbestraft zu sein.

Inhalt

Ganzes Dokument:
Regeste: deutsch französisch italienisch

Erwägungen 3 4 5

Referenzen

BGE: 107 IA 258, 108 IV 92

Artikel: Art. 5 Ziff. 1 und 3 EMRK, Art. 5 Ziff. 1 lit. c und Ziff. 3 EMRK

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