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Urteilskopf

118 Ib 153


19. Urteil der II. öffentlichrechtlichen Abteilung vom 13. Juli 1992 i.S. S. gegen Regierungsrat des Kantons Solothurn (Verwaltungsgerichtsbeschwerde).

Regeste

Art. 100 lit. b Ziff. 3 OG, Art. 4 und Art. 17 Abs. 2 ANAG sowie Art. 8 EMRK; Verweigerung der Aufenthaltsbewilligung an das ausländische Kind einer Schweizerin.
1. Zulässigkeit der Verwaltungsgerichtsbeschwerde gegen die Verweigerung der Aufenthaltsbewilligung an das ausländische Kind einer Schweizerin; es findet sich sowohl auf bundesgesetzlicher Stufe (Analogie zu Art. 17 Abs. 2 ANAG) als auch in einem Staatsvertrag (Art. 8 EMRK) eine anspruchsbegründende Norm für den Nachzug des Kindes (E. 1).
2. Vor dem Entscheid über einen allfälligen Rechtsmissbrauch ist in der Regel zu prüfen, ob die Voraussetzungen zur Verwirklichung des Nachzugsrechts im konkreten Fall auch erfüllt sind (Präzisierung von BGE 115 Ib 97; E. 2a).
3. Bei getrennten oder geschiedenen Eltern setzt ein Nachzugsrecht voraus, dass das Kind zum in der Schweiz lebenden Elternteil die vorrangige familiäre Beziehung unterhält (E. 2b).
4. Verneinung eines Nachzugsrechts im vorliegenden Fall (E. 3).

Sachverhalt ab Seite 154

BGE 118 Ib 153 S. 154
Die damals jugoslawische Staatsangehörige S. heiratete im Jahre 1966 in Zagreb den jugoslawischen Staatsbürger T. Am 20. März 1973 wurde den Ehegatten der Sohn E. geboren.
Von 1984 bis 1988 hielt sich S. in Luxemburg auf. Im Januar 1988 reiste sie in die Schweiz, wo sie den Schweizer Bürger A. kennenlernte. Mit Urteil des Gemeindegerichts Zagreb vom 17. April 1989 wurde die Ehe mit T. auf Klage der Ehefrau hin geschieden. Der Vater erhielt dabei die elterliche Gewalt über den Sohn E. Am 24. Oktober 1989 heirateten S. und A. S. erwarb dadurch das Schweizer Bürgerrecht. Ihr Sohn E. blieb dagegen jugoslawischer Staatsangehöriger.
Am 8. Oktober 1990 stellte S. das Gesuch um Familiennachzug für ihren Sohn E. Mit Verfügung vom 5. Februar 1991 trat das Amt für Ausländerfragen des Kantons Solothurn darauf nicht ein.
Dagegen erhob S. am 14. Februar 1991 Beschwerde beim Polizei-Departement des Kantons Solothurn. Dieses wies die Beschwerde am 5. September 1991 ab.
Mit Beschwerde vom 20. September 1991 gelangte S. daraufhin an den Regierungsrat des Kantons Solothurn. Am 25. November 1991 wies der Regierungsrat die Beschwerde ab. Zur Begründung führte er im wesentlichen aus, S. vermöge nicht darzutun, dass die
BGE 118 Ib 153 S. 155
familiäre Beziehung zwischen ihr und ihrem Sohn gelebt werde und intakt sei; die gesamten Umstände wiesen vielmehr darauf hin, dass der Sohn in die Schweiz geholt werden solle, um hier einer Arbeit nachzugehen.
Mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde vom 27. Dezember 1991 stellt S. den Antrag, der Entscheid des Regierungsrates sei aufzuheben und es sei ihrem Sohn der dauernde Aufenthalt in der Schweiz zu bewilligen.
In seiner Vernehmlassung vom 11. Februar 1992 beantragt der Regierungsrat, die Beschwerde sei abzuweisen, soweit darauf einzutreten sei. Das Bundesamt für Ausländerfragen schliesst in seiner Stellungnahme vom 21. Februar 1992 auf Abweisung der Beschwerde. Das Bundesgericht weist die Beschwerde ab

Erwägungen

aus folgenden Erwägungen:

1. a) Art. 100 lit. b Ziff. 3 OG schliesst die Verwaltungsgerichtsbeschwerde aus gegen die Erteilung oder Verweigerung von fremdenpolizeilichen Bewilligungen, auf die das Bundesrecht keinen Anspruch einräumt.
Gemäss Art. 4 des Bundesgesetzes über Aufenthalt und Niederlassung der Ausländer vom 26. März 1931 (ANAG; SR 142.20) entscheidet die zuständige Behörde, im Rahmen der gesetzlichen Vorschriften und der Verträge mit dem Ausland, nach freiem Ermessen über die Bewilligung von Aufenthalt und Niederlassung. Der Ausländer beziehungsweise seine allfällig in der Schweiz lebenden Angehörigen haben damit grundsätzlich keinen Anspruch darauf, dass ihm eine Aufenthaltsbewilligung erteilt wird. Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde ist daher ausgeschlossen, soweit nicht eine Norm des Bundesrechts oder eines Staatsvertrags dem Ausländer oder seinen Angehörigen einen Anspruch auf eine fremdenpolizeiliche Bewilligung einräumt (BGE 116 Ib 355 E. 1a).
Die Beschwerdeführerin beruft sich auf eine Analogie zur Regelung von Art. 17 Abs. 2 ANAG sowie auf Art. 8 der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten vom 4. November 1950 (EMRK; SR 0.101).
b) Bis heute findet sich keine Gesetzesbestimmung im schweizerischen Recht, die dem schweizerischen Elternteil ausdrücklich einen Anspruch darauf einräumt, seine Kinder ausländischer Staatsangehörigkeit in die Schweiz nachzuziehen.
BGE 118 Ib 153 S. 156
Hingegen regelt Art. 17 Abs. 2 ANAG einen vergleichbaren Fall. Gemäss dem Wortlaut der früheren Fassung vom 26. März 1931 (BS 1 126/7), welche sowohl bei Einreichung des ursprünglichen Gesuches der Beschwerdeführerin als auch im Zeitpunkt des angefochtenen Entscheides noch in Kraft war, hatten die Ehefrau und die noch nicht 18jährigen Kinder eines niedergelassenen Ausländers Anspruch darauf, in dessen Bewilligung einbezogen zu werden, "sofern sie mit ihm in gemeinsamem Haushalte leben werden". Das Bundesgericht hat in BGE 115 Ib 99 E. b, in dem ähnliche familiäre Verhältnisse zu beurteilen waren wie im vorliegenden Fall, entschieden, dass diese Bestimmung auch auf die niedergelassene Ausländerin und deren Kinder anwendbar ist. Seit dem Inkrafttreten der Gesetzesnovelle vom 23. März 1990 am 1. Januar 1992 gilt der neue Wortlaut von Art. 17 Abs. 2 ANAG, wonach ledige Kinder unter 18 Jahren Anspruch auf Einbezug in die Niederlassungsbewilligung haben, "wenn sie mit ihren Eltern zusammen wohnen" (AS 1991 1043).
Der Gesetzgeber scheint die Notwendigkeit eines Nachzugsrechts für ausländische Kinder von Schweizer Bürgern übersehen zu haben. Der - oben zitierte - dritte Satz von Art. 17 Abs. 2 ANAG, welcher den Nachzug der Kinder regelt, ist zwar hinsichtlich der Staatsangehörigkeit der Eltern offen formuliert; im Kontext mit den vorangehenden Sätzen desselben Absatzes sowie mit Art. 17 Abs. 1 ANAG muss aber davon ausgegangen werden, dass es sich nicht nur beim nachzuziehenden Kind, sondern auch bei den nachzugsberechtigten Eltern um Ausländer handelt.
Ernsthafte, sachliche Gründe, weshalb die ausländischen Kinder von Schweizer Bürgern schlechter gestellt sein sollten als diejenigen niedergelassener Ausländer, sind nicht nur nicht ersichtlich, sondern eine solche Folgerung erschiene im Gegenteil als unsinnig. Die Beschwerdeführerin macht daher zu Recht geltend, aus Rechtsgleichheitsgründen müsse die Regelung von Art. 17 Abs. 2 ANAG analog auch auf die ausländischen Kinder von Schweizer Bürgern angewendet werden (vgl. DANIEL THÜRER, Familientrennung durch Staatsgrenzen?, in: Festschrift für Cyril Hegnauer zum 65. Geburtstag, Bern 1986, S. 582).
Daraus geht hervor, dass ein gesetzliches Nachzugsrecht zumindest so lange besteht, als das ausländische Kind eines Schweizer Bürgers weniger als 18 Jahre alt ist. Zwar hat der Sohn der Beschwerdeführerin in der Zwischenzeit das 19. Lebensjahr überschritten. Im Zeitpunkt der Einreichung des Gesuchs um Familiennachzug - und
BGE 118 Ib 153 S. 157
darauf kommt es im vorliegenden Zusammenhang an - war er indessen erst rund 17 1/2 Jahre alt. Die Beschwerdeführerin hat daher gestützt auf eine Analogie zu Art. 17 Abs. 2 ANAG grundsätzlich einen Anspruch auf Nachzug ihres Sohnes.
c) Ferner garantiert Art. 8 Ziff. 1 EMRK den Schutz des Familienlebens. Darauf kann sich der Ausländer berufen, der nahe Verwandte mit Anwesenheitsrecht (Schweizer Bürgerrecht oder Niederlassungsbewilligung) in der Schweiz hat; wird ihm selber die Anwesenheit in der Schweiz untersagt, kann dies Art. 8 EMRK verletzen. Soweit deshalb eine familiäre Beziehung im beschriebenen Sinn tatsächlich gelebt wird und intakt ist, ist das der zuständigen Behörde durch Art. 4 ANAG grundsätzlich eingeräumte freie Ermessen eingeschränkt. In solchen Fällen ist daher die Verwaltungsgerichtsbeschwerde des um die fremdenpolizeiliche Bewilligung ersuchenden Ausländers zulässig. Das gleiche gilt, wenn dieses Rechtsmittel vom betroffenen Familienglied mit Anwesenheitsrecht in der Schweiz eingereicht wird. Nichts kommt darauf an, ob eine Erneuerung oder (wie hier) die erstmalige Erteilung der Anwesenheitsbewilligung in Frage steht (BGE 116 Ib 355 E. b; BGE 115 Ib 99 f. E. e; BGE 109 Ib 185 ff. E. 2).
Das Bundesgericht hat in BGE 115 Ib 100 unter dem Eindruck der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte entschieden, dass eine Berufung auf Art. 8 EMRK auch dann möglich ist, wenn das ausländische Kind familienrechtlich nicht unter der elterlichen Gewalt oder Obhut des betroffenen Familiengliedes mit Anwesenheitsrecht in der Schweiz steht. Voraussetzung bleibt jedoch, dass die familiäre Beziehung tatsächlich gelebt wird und intakt ist. Im Verhältnis zwischen Eltern und ihren leiblichen Kindern ist somit ein eigentliches Zusammenleben nicht unentbehrliches Element für das Bestehen eines Familienlebens im Sinne von Art. 8 EMRK; es können dafür auch Gesichtspunkte wie regelmässiger Kontakt oder die Verpflichtung zu Unterhaltszahlungen genügen (vgl. ACHIM BRÖTEL, Der Anspruch auf Achtung des Familienlebens, Baden-Baden 1991, S. 47 ff., insbesondere S. 57 f. und S. 65; MARTINA PALM-RISSE, Der völkerrechtliche Schutz von Ehe und Familie, Berlin 1990, S. 201 f. und S. 276 ff.).
Die Vorinstanz macht zwar geltend, das Mutter-Sohn-Verhältnis werde nicht gelebt; jedenfalls lege die Beschwerdeführerin dafür keine Beweise vor. Indessen ist in genügender Weise belegt, dass sie zu ihrem Sohn regelmässigen schriftlichen und telefonischen Kontakt hatte, ihn besuchsweise hin und wieder gesehen hat und ferner
BGE 118 Ib 153 S. 158
im Scheidungsurteil aus dem Jahre 1989 zu Unterhaltszahlungen verpflichtet worden ist. Dies genügt für eine Berufung auf Art. 8 EMRK.
Im übrigen hätte die Vorinstanz zumindest die ihr offerierten Beweise abnehmen, das heisst namentlich das von der Beschwerdeführerin beantragte Parteiverhör beziehungsweise die entsprechenden Zeugenbefragungen vornehmen müssen, wenn sie sich auf den Standpunkt stellte, die Beschwerdeführerin habe die notwendigen Beweise nicht erbracht.
e) Findet sich somit sowohl auf bundesgesetzlicher Stufe als auch in einem Staatsvertrag eine anspruchsbegründende Norm für den Nachzug des Sohnes der Beschwerdeführerin, ist auf die Verwaltungsgerichtsbeschwerde einzutreten.

2. a) Auch wenn beim Entscheid über das Eintreten auf eine Verwaltungsgerichtsbeschwerde die Möglichkeit eines Anspruches grundsätzlich bejaht wird, bleibt in materiellrechtlicher Hinsicht zu prüfen, ob im konkreten Fall die Voraussetzungen zur Verwirklichung des Anspruches auch erfüllt sind (vgl. BGE 115 Ib 99 E. 2b und f).
Diese Prüfung erübrigt sich unter Umständen dann, wenn die Berufung auf das Nachzugsrecht geradezu rechtsmissbräuchlich ist. So hat sich das Bundesgericht in BGE 115 Ib 101 /2 E. 3 - allerdings ohne dies näher zu begründen - gar nicht mit der Frage befasst, ob das Nachzugsrecht konkret auch gegeben war, sondern es hat unmittelbar festgehalten, dass es in rechtsmissbräuchlicher Weise geltend gemacht werde. Da sich die Frage des Rechtsmissbrauchs an sich erst stellt, wenn das angerufene Recht auch besteht, lag im gewählten Vorgehen eine gewisse Verkürzung; dies rechtfertigte sich aber, weil es in jenem Fall klare Hinweise für einen Rechtsmissbrauch gab. Namentlich hatte die damalige Beschwerdeführerin den Fremdenpolizeibehörden gegenüber bei der Erteilung der Niederlassungsbewilligung an sie selbst das Vorhandensein eines minderjährigen Sohnes verschwiegen. Das Bundesgericht musste daher nicht zwingend darüber befinden, ob bei der gegebenen familiären Situation ein Nachzugsrecht materiell überhaupt bestand; selbst wenn dies der Fall gewesen wäre, hätte ihm wegen des Rechtsmissbrauchs nicht Folge geleistet werden können.
Im vorliegenden Fall ist die Sachlage insofern anders, als ein Rechtsmissbrauch, auf den sich die Vorinstanzen berufen, zwar nicht ausgeschlossen, aber auch nicht eindeutig ist. Es drängt sich daher auf, sich zunächst mit der materiellrechtlichen Frage auseinanderzusetzen,
BGE 118 Ib 153 S. 159
ob die Voraussetzungen eines Nachzugs überhaupt erfüllt sind.
b) Zweck des Familiennachzuges ist es, das familiäre Zusammenleben zu ermöglichen (BGE 115 Ib 101 E. 3a). Es fragt sich, was darunter im Hinblick auf das Kind zu verstehen ist, wenn die beiden Eltern getrennt oder gar geschieden sind und der eine Elternteil in der Schweiz, der andere aber im Ausland lebt.
Eine rein grammatikalische Auslegung des alten Textes von Art. 17 Abs. 2 ANAG lässt zwar den Schluss auf einen bedingungslosen Anspruch auf Einbezug des Kindes in die Niederlassungsbewilligung des Elternteiles in der Schweiz zu, sofern ein gemeinsamer Haushalt mit dem Kind vorgesehen ist (PETER KOTTUSCH, Zur rechtlichen Regelung des Familiennachzugs von Ausländern, in: ZBl 90/1989, S. 346). Der neue Wortlaut von Art. 17 Abs. 2 ANAG verdeutlicht aber die - schon früher geltende (vgl. KOTTUSCH, a.a.O., S. 346 f.) - Ausrichtung des Gesetzes auf die rechtliche Absicherung des Zusammenlebens der Gesamtfamilie; das Gesetz verlangt nun ausdrücklich, dass die Kinder mit ihren Eltern (Plural) zusammen wohnen werden. Nach der Systematik - vgl. die beiden ersten Sätze der Bestimmung - geht Art. 17 Abs. 2 ANAG vom Zusammenleben von Vater und Mutter aus, wobei dies natürlich unter dem Vorbehalt steht, dass beide Eltern überhaupt noch leben. Die Nachzugsregelung ist daher zugeschnitten auf den Fall, dass die eheliche Beziehung der gemeinsamen Eltern intakt ist (vgl. BBl 1987 III 322).
Sind die Eltern jedoch voneinander getrennt oder gar geschieden, und hält sich der eine Elternteil in der Schweiz, der andere aber im Ausland auf, kann es gar nicht um eine Zusammenführung der Gesamtfamilie gehen. In solchen Fällen entspricht es dem Gesetzeszweck nicht, einen bedingungslosen Anspruch auf Nachzug der Kinder anzunehmen. Ein Nachzugsrecht setzt vielmehr voraus, dass das Kind zum in der Schweiz lebenden Elternteil die vorrangige familiäre Beziehung unterhält.
Dabei kommt es nicht nur auf die bisherigen Verhältnisse an, sondern es können auch nachträglich eingetretene oder gar künftige Umstände wesentlich werden. Namentlich kann nicht entscheidend sein, in welchem Land das Kind bisher seinen Lebensmittelpunkt hatte, bliebe doch sonst ein Nachzugsrecht praktisch immer wirkungslos. Zu berücksichtigen ist aber, bei welchem Elternteil das Kind bisher gelebt hat, beziehungsweise wem in der Scheidung das Sorgerecht zugesprochen worden ist; sollte sich das Kindesinteresse in der Zwischenzeit geändert haben, so wäre für eine Anpassung
BGE 118 Ib 153 S. 160
der familiären Verhältnisse in der Regel zunächst der privatrechtliche Weg zu beschreiten. Vorbehalten bleiben Fälle, in denen klare Anhaltspunkte für neue familiäre Abhängigkeiten - zum Beispiel beim Tod des sorgeberechtigten Elternteils oder bei neu sich abzeichnenden Pflegebedürfnissen - oder für eine wesentliche Verlagerung der Beziehungsintensitäten bestehen.
c) Diese Auslegung von Art. 17 Abs. 2 ANAG steht nicht im Widerspruch zu Art. 8 EMRK. Der Familienschutz, wie er darin gewährleistet wird, kann zwar unter Umständen einer Entfernungsmassnahme wie einer Ausweisung - und damit einer zwangsweisen Trennung von Angehörigen - entgegenstehen, wenn dadurch die Fortführung des Familienlebens verunmöglicht oder stark beeinträchtigt wird (vgl. Urteile des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte vom 26. März 1992 in Sachen Beldjoudi, zur Veröffentlichung bestimmt in Publications de la Cour Européenne des Droits de l'Homme, Série A Vol. 234-A, und vom 18. Februar 1991 in Sachen Moustaquim, Publications de la Cour Européenne des Droits de l'Homme, Série A Vol. 193, auch publiziert in: RUDH 1991, S. 90 ff., je mit weiteren Verweisen auf die Rechtsprechung). Die Bestimmung vermittelt jedoch nicht ein absolutes Recht auf Einreise und Aufenthaltsbewilligung von Familienmitgliedern, wenn ein Ausländer selbst die Entscheidung getroffen hat, von seiner Familie getrennt in einem anderen Land zu leben (FROWEIN/PEUKERT, EMRK-Kommentar, Kehl/Strassburg/Arlington 1985, Rz. 25 zu Art. 8; vgl. auch PALM-RISSE, a.a.O., S. 282 ff.).
Auch wenn Art. 8 EMRK unter anderem die familiäre Beziehung geschiedener Eltern zu ihren Kindern schützt, räumt die Bestimmung grundsätzlich nicht demjenigen Elternteil ein Recht auf Nachzug eines Kindes ein, der freiwillig ins Ausland verreist ist, ein weniger enges Verhältnis zum Kinde hat als der andere Elternteil und seine Beziehungen zum Kinde weiterhin pflegen kann. Ein gegenteiliges Verständnis der Menschenrechtskonvention hätte zur Folge, dass mit der Berufung auf Art. 8 EMRK eine gerichtliche Kindeszuteilung in einem Scheidungsurteil, das an sich den Kindesinteressen im Rahmen der gesamten familiären Verhältnisse umfassend Rechnung trägt, umgangen werden könnte; ausserdem müsste dem nachgezogenen Kind unter Umständen wieder ein Recht auf Nachzug des andern Elternteils, zu dem es ja die vorrangige Beziehung unterhält, eingeräumt werden, ohne dass eine Vereinigung der Gesamtfamilie angestrebt würde. Solche Auswirkungen bezweckt die Familienschutzregelung der Menschenrechtskonvention nicht.
BGE 118 Ib 153 S. 161
d) Selbst wenn die Verweigerung einer Aufenthaltsbewilligung an ein Familienmitglied an sich einen Eingriff in das Recht auf Familienleben gemäss Art. 8 Ziff. 1 EMRK darstellte, verstiesse sie im übrigen in einem Fall wie dem vorliegenden nicht gegen die Menschenrechtskonvention. Nach Art. 8 Ziff. 2 EMRK ist ein Eingriff in das von Ziff. 1 geschützte Rechtsgut unter gewissen Voraussetzungen statthaft; namentlich sind Massnahmen zulässig, die sich als für das wirtschaftliche Wohl und die öffentliche Ordnung eines Landes notwendig erweisen. Im vorliegenden Zusammenhang ist eine Zulassungsbeschränkung zu beurteilen, die insbesondere den Schutz des inländischen Arbeitsmarktes sowie des Landes vor Überfremdung bezweckt. Stehen der Erteilung einer Aufenthaltsbewilligung somit gewichtige öffentliche Interessen gegenüber, lässt sich die Verweigerung einer Bewilligung jedenfalls dann nicht beanstanden, wenn die Familientrennung von den Betroffenen selbst freiwillig herbeigeführt worden ist und die Fortführung und Pflege der familiären Beziehungen nicht behördlich verhindert wird (vgl. BGE 116 Ib 357 E. 3a und c sowie FROWEIN/PEUKERT, a.a.O., Rz. 11-13 und 23-25, und PALM-RISSE, a.a.O., S. 350 ff.).
Die Sachlage im vorliegenden Fall unterscheidet sich denn auch in wesentlichem Masse von derjenigen, welche der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte im Fall Berrehab (Urteil vom 21. Juni 1988, Publications de la Cour Européenne des Droits de l'Homme, Série A Vol. 138) zu beurteilen hatte. In jenem Fall lebte das Kind zusammen mit der Mutter in dem Land, in welchem sich auch der ausländische Vater mit seiner Familie zusammen aufgehalten hatte und in dem er unter Berufung auf die Beziehung zu seinem Kinde weiterhin bleiben wollte. Dabei ging es weder um den Nachzug eines Familiengliedes, noch stand in Frage, das Kind aus der engeren familiären Beziehung zum einen Elternteil (damals zur Mutter) zu lösen; vielmehr ging es einzig darum, dem andern Elternteil (damals dem Vater) dadurch, dass er nicht aus dem Land ausreisen musste, zu ermöglichen, seine eigene, weniger enge Beziehung zum Kind weiterhin auch leben zu können. Diese Beziehung erschien als gefährdet, wenn der Vater - namentlich in sein Heimatland - hätte ausreisen müssen. Der Fall ist mit dem hier zu beurteilenden in mehrfacher Hinsicht nicht vergleichbar.

3. a) Im vorliegenden Fall hielt sich der Sohn E. seit seiner Geburt in Zagreb/Kroatien auf. Er erhielt dort auch seine schulische Ausbildung. Gegenwärtig besucht er noch eine Wirtschaftsschule. Seit 1984, als die Beschwerdeführerin einem Arbeitserwerb im Ausland
BGE 118 Ib 153 S. 162
nachging, lebte er allein bei seinem Vater. Durch die Scheidung im Jahre 1989 erhielt der Vater das ausschliessliche Sorgerecht, währenddem die Beschwerdeführerin zur Zahlung von Unterhaltsbeiträgen verpflichtet wurde.
In der Zwischenzeit scheint der Vater erkrankt zu sein, und es bestehen gewisse Zweifel, ob er seiner Sorgepflicht vollumfänglich nachkommen kann. In einer von einem lokalen Anwalt beglaubigten Erklärung vom 28. Dezember 1990 erteilte er seine Zustimmung dazu, dass sein Sohn bei der Mutter in der Schweiz leben kann, wobei ausdrücklich auf seine weiter geltende Verantwortung hingewiesen wird. Ob damit die Kinderzuteilung des Scheidungsurteils geändert werden kann, ist zweifelhaft, kann aber offenbleiben. E. war bei Gesuchseinreichung sowohl in persönlicher als auch in materieller Hinsicht jedenfalls nicht mehr vollumfänglich von der Betreuung durch die Eltern - weder durch den Vater noch durch die Mutter - abhängig. Auch stand er kurz vor Erreichung der zivilrechtlichen Mündigkeit.
b) Der Sohn der Beschwerdeführerin lebte somit seit annähernd acht Jahren allein beim Vater in Kroatien; diesem war bei der Scheidung auch das elterliche Sorgerecht verbunden mit der entsprechenden Pflicht übertragen worden. Die Beziehung des Sohnes zum Vater ist daher klarerweise enger als diejenige zur Mutter. Weder ergibt sich, dass seine weitere persönliche Entwicklung vom Zusammenleben mit der Mutter abhängt, noch sind überzeugende Gründe dafür ersichtlich, dass sich die Beziehungsintensitäten in absehbarer Zeit massgeblich verändern werden.
Die Fortführung des gegenseitigen Kontakts und die Pflege der Beziehung zwischen Mutter und Kind bleibt auch dann möglich, wenn der Sohn weiterhin in Kroatien lebt. Für Besuche in der Schweiz steht gleichermassen wie bis anhin der bewilligungsfreie Aufenthalt zur Verfügung. Die Beschwerdeführerin macht auch gar nicht geltend, dass diesbezüglich unüberwindbare Hindernisse bestünden.
c) Die Voraussetzungen für einen Nachzug des Sohnes der Beschwerdeführerin in analoger Anwendung von Art. 17 Abs. 2 ANAG sind somit nicht erfüllt. Die Verweigerung einer Anwesenheitsbewilligung verstösst auch nicht gegen Art. 8 EMRK.

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