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Urteilskopf

122 II 148


21. Auszug aus dem Urteil der II. öffentlichrechtlichen Abteilung vom 18. Juni 1996 i.S. X. gegen Fremdenpolizei des Kantons Bern und Richteramt VII von Bern (Verwaltungsgerichtsbeschwerde)

Regeste

Art. 13b Abs. 1 lit. c, Art. 13c Abs. 5 lit. a ANAG und Art. 2 der Schlussbestimmungen des Bundesgesetzes über Zwangsmassnahmen im Ausländerrecht; Untertauchensgefahr, Verhältnismässigkeit der Ausschaffungshaft bei hängigem Verfahren über die Aufenthaltsberechtigung (Art. 7 ANAG).
Wesentliche tatsächliche Vorkommnisse nach dem Inkrafttreten der Zwangsmassnahmen im Ausländerrecht dürfen bei der Prognose über die Untertauchensgefahr im Licht des früheren Verhaltens bewertet werden (E. 2).
Für die Anordnung der Ausschaffungshaft genügt nach Art. 13b Abs. 1 ANAG ein erstinstanzlicher, nicht notwendigerweise auch rechtskräftiger Weg- oder Ausweisungsentscheid. Mit dem Vollzug der Wegweisung muss aber in absehbarer Zeit zu rechnen sein, ansonsten die Haft unverhältnismässig ist. Verhältnismässigkeit vorliegend mit Blick auf den Stand des Verfahrens betreffend die Aufenthaltsberechtigung des mit einer Schweizerin verheirateten Ausländers verneint (E. 3).

Sachverhalt ab Seite 149

BGE 122 II 148 S. 149
Der aus Bosnien-Herzegowina stammende X. (geb. 27. Mai 1962) reiste seit 1991 wiederholt illegal in die Schweiz ein. Er wurde hier in der Folge verschiedentlich verurteilt, unter anderem wegen Einbruchdiebstählen und Widerhandlungen gegen das Bundesgesetz vom 26. März 1931 über Aufenthalt und Niederlassung der Ausländer (ANAG; SR 142.20). Am 9. April 1991 ordnete das Bundesamt für Ausländerfragen gegen X. eine Einreisesperre bis 9. April 1996 an. Ein von ihm am 23. November 1992 eingereichtes Asylgesuch wies das Bundesamt für Flüchtlinge am 13. Mai 1993 ab. Am 24. März 1993 verurteilte der Gerichtspräsident X von Bern X. wegen Diebstahls und Widerhandlungen gegen das ANAG zu vier Monaten Gefängnis (bedingt) und zu einer unbedingten Landesverweisung von vier Jahren. Am 11. November 1994 wurde einem weiteren Asylgesuch keine Folge gegeben. Am 3. Februar 1995 heiratete X. die Schweizer Bürgerin Y.; am 6. November 1994 hatte diese eine gemeinsame
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Tochter geboren. X. ersuchte am 9. Februar 1995 um eine Aufenthaltsbewilligung zum Verbleib bei seiner Familie. Am 5. April 1995 teilte ihm die Fremdenpolizei des Kantons Bern mit, dass sein Gesuch wegen des Verweisungsbruchs nicht an die Hand genommen werden könne. In der Folge ergingen mehrere Entscheide des Regierungsstatthalters von Bern und des Verwaltungsgerichts des Kantons Bern im Zusammenhang mit dem Vollzug der am 24. März 1993 ausgesprochenen strafrechtlichen Landesverweisung. Ab 21. Dezember 1995 befand sich X. im vorzeitigen Strafvollzug; am 12. März 1996 verurteilte ihn der Präsident des Bezirksgerichts Courtelary wegen Einbruchdiebstahls und weiterer Delikte zu sechs Monaten Gefängnis; gleichzeitig widerrief er verschiedene bedingt ausgesprochene Gefängnisstrafen. Am 7. Mai 1996 schob der Regierungsstatthalter von Bern den Vollzug der strafrechtlichen Landesverweisung probeweise auf.
Die Fremdenpolizei des Kantons Bern wies am 10. Mai 1996 das Gesuch von X. um Erteilung einer Aufenthaltsbewilligung ab: Er habe zu Klagen und gerichtlichen Verurteilungen sowie zu einer Landesverweisung Anlass gegeben und einen Ausweisungsgrund gesetzt, weshalb er auch als Ehemann einer Schweizerin keinen Anspruch auf eine Bewilligung mehr habe. Ein Eingriff in ein intaktes Familienleben liege nicht vor: die Ehefrau befinde sich in einer psychiatrischen Klinik und das Kind in einem Heim im Kanton Neuenburg. Die Fremdenpolizei ordnete an, dass er die Schweiz bis zum 30. Juni 1996 zu verlassen habe. Nach Entlassung aus dem Strafvollzug am 18. Mai 1996 wurde X. zur Sicherstellung der Wegweisung in Ausschaffungshaft genommen. Der Gerichtspräsident VII von Bern prüfte und bestätigte diese als Haftrichter am 21. Mai 1996.
Das Bundesgericht heisst die gegen dessen Entscheid eingereichte Verwaltungsgerichtsbeschwerde gut und ordnet die Haftentlassung von X. an.

Erwägungen

Aus den Erwägungen:

1. Die zuständige Behörde kann einen Ausländer in Ausschaffungshaft nehmen, wenn die Voraussetzungen von Art. 13b ANAG (in der Fassung des Bundesgesetzes vom 18. März 1994 über Zwangsmassnahmen im Ausländerrecht [AS 1995 146 ff.]) erfüllt sind. Danach ist erforderlich, dass ein erstinstanzlicher, nicht notwendigerweise rechtskräftiger Weg- oder Ausweisungsentscheid vorliegt (vgl. BGE 121 II 59 E. 2 S. 61) und dessen
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Vollzug (z.B. wegen fehlender Reisepapiere) noch nicht möglich ist. Zudem muss einer der in Art. 13b Abs. 1 ANAG genannten Haftgründe bestehen. Rechtmässigkeit und Angemessenheit der Haft sind innert 96 Stunden durch eine richterliche Behörde aufgrund einer mündlichen Verhandlung zu prüfen (Art. 13c Abs. 2 ANAG; vgl. BGE 121 II 105 ff.). Dabei sind neben den Haftgründen insbesondere die familiären Verhältnisse der inhaftierten Person und die Umstände des Haftvollzugs (Art. 13c Abs. 3 in Verbindung mit Art. 13d Abs. 2 ANAG), die Einhaltung des Beschleunigungsgebots (Art. 13b Abs. 3 ANAG) sowie die tatsächliche und rechtliche Durchführbarkeit der Wegweisung (Art. 13c Abs. 3 und Abs. 5 lit. a ANAG) zu berücksichtigen.

2. a) Der Haftrichter stützte seinen Entscheid auf Art. 13b Abs. 1 lit. c ANAG. Danach kann ein Ausländer in Haft genommen werden, wenn konkrete Anzeichen befürchten lassen, dass er sich der Ausschaffung entziehen und untertauchen will. Der Vollzug der Wegweisung muss erheblich gefährdet erscheinen (vgl. BGE 122 II 49 E. 2a, BGE 119 Ib 193 E. 2b S. 198). Ob dies der Fall ist, beurteilt sich gestützt auf eine Prognose, die grundsätzlich nur auf Tatsachen beruhen darf, die nach dem 1. Februar 1995 eingetreten sind (Art. 2 der Schlussbestimmungen zum Bundesgesetz über Zwangsmassnahmen im Ausländerrecht). Solche wesentlichen haftbegründenden tatsächlichen Vorkommnisse können jedoch im Lichte des früheren Verhaltens bewertet werden (unveröffentlichte Urteile vom 10. Juni 1996 i.S. H.S., E. 2, vom 12. Dezember 1995 i.S. M.K., E. 2a, vom 20. Juni 1995 i.S. M.J., E. 4b); insofern dürfen auch weiter zurückliegende Tatsachen in die Beurteilung des Haftgrunds einfliessen (unveröffentlichtes Urteil vom 11. Juli 1995 i.S. F.B., E. 2).
b) aa) Der Beschwerdeführer reiste wiederholt, trotz Einreisesperre und strafrechtlicher Landesverweisung (vgl. zu deren Wirkungen das unveröffentlichte Urteil vom 11. Dezember 1995 i.S. A.D., E. 2c), illegal in die Schweiz ein und delinquierte hier, ohne sich durch die verschiedenen Strafverfahren und Verurteilungen beeindrucken zu lassen. Den Polizei- und Gerichtsbehörden gegenüber gebrauchte er jeweils falsche Namen und Geburtsdaten; zudem machte er widersprüchliche Angaben über seine Herkunft. Er erklärte schliesslich, auf jeden Fall in der Schweiz bleiben zu wollen, nötigenfalls werde er seine Reisepapiere zerstören. Diese Vorkommnisse gehen indessen alle auf Verhaltensweisen vor dem 1. Februar 1995 zurück und vermögen deshalb die Untertauchensgefahr an sich nicht zu begründen. Das Verhalten des Beschwerdeführers nach diesem Datum durfte aber in ihrem
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Lichte gewürdigt werden: Auch nach dem Inkrafttreten der Zwangsmassnahmen delinquierte der Beschwerdeführer weiter (Diebstahl, versuchter Diebstahl, Entwendung eines Motorfahrzeugs zum Gebrauch, Fahren ohne Führerausweis, Fahren in angetrunkenem Zustand usw. begangen in der Zeit vom 30. Juni bis 11. November 1995 in Saint-Imier, Fornet-Dessous, Le Locle, Laufen und La Chaux-de-Fonds). Am 12. März 1996 wurde er erneut zu einer Gefängnisstrafe (von sechs Monaten) verurteilt. Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts ist strafrechtlich relevantes Verhalten regelmässig ein Indiz für die Gefahr eines Untertauchens, da bei einem straffälligen Ausländer eher als bei einem unbescholtenen davon auszugehen ist, er werde künftig behördliche Anordnungen missachten (vgl. BGE 122 II 49 E. 2, BGE 119 Ib 193 E. 2b S. 198). Dies gilt insbesondere, wenn der Betroffene - wie hier - bereits vor dem 1. Februar 1995 ein Verhalten an den Tag gelegt hat, das seit dem Inkrafttreten der Zwangsmassnahmen ohne weiteres auf eine Untertauchensgefahr schliessen liesse (vgl. BGE 122 II 49 E. 2a).
bb) Der Beschwerdeführer wendet ein, es bestehe bei ihm keine Untertauchensgefahr, da er sich seit dem Inkrafttreten der Zwangsmassnahmen gerade darum bemühe, zu einer Bewilligung zu kommen; er habe zweimal um eine Aufenthaltsbewilligung nachgesucht und zudem ein Asylgesuch gestellt. Der Beschwerdeführer verkennt, dass seine Gesuche jeweils nicht an die Hand genommen bzw. abgewiesen wurden. Zwar ist gegen die Verweigerung der Aufenthaltsbewilligung und die Wegweisungsverfügung der Fremdenpolizei vom 10. Mai 1996 bei der Polizei- und Militärdirektion eine Beschwerde hängig. Für die Anordnung der Ausschaffungshaft genügt jedoch - wie dargelegt - bereits ein erstinstanzlicher Wegweisungsentscheid; dieser muss nicht rechtskräftig sein (vgl. Art. 13b Abs. 1 ANAG, BGE 121 II 59 E. 2; unveröffentlichtes Urteil vom 21. Juni 1995 i.S. A.B., E. 4; Botschaft des Bundesrats vom 22. Dezember 1993 zum Bundesgesetz über Zwangsmassnahmen im Ausländerrecht, BBl 1994 I 305ff. S. 323). Ob wegen des Bewilligungsverfahrens und der hiesigen familiären Beziehungen - trotz der verschiedenen Indizien - zurzeit dennoch keine konkrete Untertauchensgefahr besteht, kann aber dahingestellt bleiben, da die Beschwerde aus einem andern Grund gutzuheissen ist.

3. Die Ausschaffungshaft darf nur angeordnet oder aufrechterhalten werden, wenn der Vollzug der Wegweisung nicht aus rechtlichen oder tatsächlichen Gründen undurchführbar ist (Art. 13c Abs. 5 lit. a ANAG); andernfalls lässt
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sie sich nicht mehr mit einem hängigen Ausweisungsverfahren rechtfertigen und verstösst sie gegen Art. 5 Ziff. 1 lit. f EMRK. Die Haft ist im Sinne dieser Bestimmung unzulässig, wenn für die Undurchführbarkeit des Vollzugs der Wegweisung triftige Gründe vorliegen oder praktisch feststeht, dass er sich innert der gesetzlich vorgesehenen Haftdauer nicht realisieren lässt (unveröffentlichtes Urteil vom 11. Dezember 1995 i.S. A.D., E. 3; BBl 1994 I 316). Dies ist hier der Fall: Die Verfügung der Fremdenpolizei über das Anwesenheitsrecht des Beschwerdeführers ist äusserst knapp und summarisch begründet und enthält keine Zusammenstellung des beurteilten Sachverhalts. Auf die behauptete familiäre Beziehung geht die Fremdenpolizei nicht ein, obwohl der Regierungsstatthalter von Bern in seinem Entscheid vom 7. Mai 1996 festgestellt hat, dass der Beschwerdeführer "mit der Vaterschaft zu seiner Tochter [...] eine im Sinne von Art. 8 EMRK geschützte Beziehung vorweisen" könne. Die Entscheide betreffend den Aufschub des Vollzugs der strafrechtlichen Landesverweisung enthalten, auch wenn sie für die Fremdenpolizei an sich nicht verbindlich sind, relevante Ausführungen zu dieser Bestimmung. Die zur Beurteilung nötigen fremdenpolizeilichen Sachverhaltsabklärungen dürften demnach vermutlich eine gewisse Zeit beanspruchen. Die Beschwerde an die Polizei- und Militärdirektion hat wie die kantonale Verwaltungsgerichtsbeschwerde grundsätzlich von Gesetzes wegen aufschiebende Wirkung (vgl. Art. 68 und 82 des Berner Gesetzes vom 23. Mai 1989 über die Verwaltungsrechtspflege). Weder die Fremdenpolizei noch die Beschwerdeinstanz haben diese hier entzogen; die Polizei- und Militärdirektion hat vielmehr am 11. Juni 1996 ausdrücklich festgestellt, dass der Beschwerde mangels gegenteiliger Anordnung von Gesetzes wegen aufschiebende Wirkung zukomme, weshalb es sich erübrige, eine vorläufige Massnahme anzuordnen. Der Vollzug der Ausschaffung wird sich unter diesen Umständen voraussichtlich nicht innerhalb der gesetzlichen Haftdauer, die in der Regel nicht mehr als drei Monate dauern und nur bei besonderen Hindernissen (auf höchstens neun Monate) verlängert werden soll (vgl. Art. 13b Abs. 2 ANAG), realisieren lassen. Ist aufgrund des Standes des Bewilligungsverfahrens zurzeit nicht damit zu rechnen, dass die erstinstanzlich verfügte Wegweisung innert nützlicher Frist tatsächlich vollzogen werden kann, erweist sich die Ausschaffungshaft im Moment aber als unverhältnismässig.

4. a) Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde ist deshalb gutzuheissen und der Beschwerdeführer unverzüglich aus der Haft zu entlassen. Den kantonalen
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Behörden ist es nicht verwehrt, weiter die nötigen Vorkehren für dessen Ausschaffung zu treffen. Sie können ihn auch verpflichten, sich für zusätzliche Abklärungen zur Verfügung zu halten, und ihm beispielsweise einen festen Aufenthaltsort zuweisen (vgl. auch Art. 13e ANAG). Sie dürfen den Beschwerdeführer wieder in Ausschaffungshaft nehmen, wenn eine konkrete Untertauchensgefahr besteht und die übrigen Haftvoraussetzungen gegeben sind; der Stand des Bewilligungsverfahrens wird dabei zu berücksichtigen sein.

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Sachverhalt

Erwägungen 1 2 3 4

Referenzen

BGE: 122 II 49, 121 II 59, 119 IB 193, 121 II 105

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