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Urteilskopf

124 II 58


9. Auszug aus dem Urteil der II. öffentlichrechtlichen Abteilung vom 12. Dezember 1997 i.S. Eidgenössische Steuerverwaltung gegen Besonderen Untersuchungsrichter III für den Kanton Bern (Verwaltungsgerichtsbeschwerde)

Regeste

Amtshilfe anderer Behörden (Art. 112 DBG); Auskünfte aus Akten der Strafuntersuchungsbehörde.
Verwaltungsgerichtsbeschwerde. Erschöpfung der kantonalen Rechtsmittel. Anforderungen an die kantonale richterliche Instanz gemäss Art. 98a OG (E. 1).
Die Steuerbehörde kann Einsicht in die Akten eines Strafverfahrens nehmen, sofern sie konkrete Anhaltspunkte hat, dass aus den Strafakten Tatsachen ersichtlich sind, die für die Veranlagung des Beschuldigten oder von Drittpersonen von Bedeutung sind. Verhältnis zwischen Art. 90 Abs. 1 BdBSt und 112 DBG (E. 3). Das Einsichtsrecht erstreckt sich auch auf Bankdokumente (E. 3b). Die erlangten Informationen dürfen Dritten gegenüber verwendet werden (E. 3c). Allgemeine Suchaktionen sind auch unter neuem Recht unzulässig (E. 3d). Die konkreten Umstände müssen so sein, dass sie Steuerdelikte indizieren (E. 4).

Sachverhalt ab Seite 59

BGE 124 II 58 S. 59
Im Kanton Bern ist eine Voruntersuchung gegen den Financier Werner K. Rey und weitere Verantwortliche der Omni-Gesellschaften wegen Betrugs, Urkundenfälschung, Konkursdelikten und weiterer Tatbestände eingeleitet worden. Im Rahmen dieser Voruntersuchung forderte der Besondere Untersuchungsrichter III für den Kanton Bern (im folgenden "der Besondere Untersuchungsrichter") die Berner Kantonalbank auf, im Zusammenhang mit der Publikumsöffnung und Kapitalerhöhung 1986 der Inspectorate International SA (im folgenden "Inspectorate SA"), die unter ihrer Leitung
BGE 124 II 58 S. 60
durch verschiedene Konsortialbanken durchgeführt worden waren, alle Unterlagen herauszugeben. Dieser Editionsaufforderung kam die Bank nach.
Mit Gesuch vom 27. Juni 1995 forderte die Eidgenössische Steuerverwaltung beim Besonderen Untersuchungsrichter Einsicht in die Akten der Strafuntersuchung gegen Werner K. Rey und Gesellschaften der Rey-Gruppe sowie Einsicht in allfällig vorhandene Akten von Strafuntersuchungen gegen natürliche und juristische Personen, die bei Werner K. Rey und dessen Gesellschaften Kapital investiert haben. Bereits am 7. Juni 1995 hatte der Besondere Untersuchungsrichter die Eidgenössische Steuerverwaltung ermächtigt, Einsicht in die Akten der Strafuntersuchung gegen die Omni Holding AG und Werner K. Rey zu nehmen.
Der Besondere Untersuchungsrichter hiess das Gesuch mit Verfügung vom 20. September 1995 gut, soweit es Akten von Angeschuldigten betrifft, die in der Schweiz steuerpflichtig sind, oder von juristischen Personen, die von Angeschuldigten beherrscht werden. Hingegen wies er das Gesuch ab hinsichtlich der Akten von Personen (Investoren), die im Gesuch nicht näher bezeichnet und in das Strafverfahren nicht verwickelt sind. Ebenso verweigerte er die Einsichtnahme in die von der Bank im Strafverfahren unter Aufhebung des Bankgeheimnisses herausverlangten Aufstellungen und Namenslisten von Kunden, die im Zug der Publikumsöffnung der Inspectorate SA im Jahre 1986 aus der Kapitalerhöhung Zuteilungen erhalten haben. In der Rechtsmittelbelehrung wurde angegeben, dass gegen diese Verfügung bei der Justiz-, Gemeinde- und Kirchendirektion des Kantons Bern Verwaltungsbeschwerde erhoben werden könne.
Mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde beantragt die Eidgenössische Steuerverwaltung dem Bundesgericht, die Verfügung des Besonderen Untersuchungsrichters vom 20. September 1995 sei insoweit aufzuheben, als ihr die Einsichtnahme in die Untersuchungsakten verweigert werde, die sich auf Investoren bei Werner K. Rey und dessen Gesellschaften beziehen sowie auf Kunden der Berner Kantonalbank und ihrer Konsortialbanken, die im Zuge der Publikumsöffnung der Inspectorate SA im Jahre 1986 aus der Kapitalerhöhung Zuteilungen erhielten.
Da gemäss Rechtsmittelbelehrung noch der kantonale Rechtsmittelweg offenzustehen schien, wurde das bundesgerichtliche Verfahren sistiert und der Regierungsrat des Kantons Bern eingeladen, sich zur Frage der Letztinstanzlichkeit zu äussern. Am 27. Oktober 1995
BGE 124 II 58 S. 61
teilte die Justiz-, Gemeinde- und Kirchendirektion des Kantons Bern dem Bundesgericht mit, die Eidgenössische Steuerverwaltung habe bei ihr ebenfalls eine Beschwerde eingereicht. Allerdings sei die Justiz-, Gemeinde- und Kirchendirektion nicht zuständig, über Beschwerden gegen Verfügungen von Justizinstanzen zu befinden.
Das Rechtsamt der Justiz-, Gemeinde- und Kirchendirektion eröffnete in der Folge das Meinungsaustauschverfahren mit dem Obergericht und dem Verwaltungsgericht des Kantons Bern über die Frage der Zuständigkeit. Das Verwaltungsgericht des Kantons Bern stellte am 26. Februar 1996 autoritativ fest, dass es zur Beurteilung der Beschwerde nicht zuständig sei, weil im Rahmen der Strafuntersuchung gegen Verfügungen des Untersuchungsrichters die Rechtsmittel und Rechtsbehelfe des Strafverfahrens offenstünden und die angefochtene Verfügung kantonal letztinstanzlich sei, wenn kein Rechtsmittel des Strafverfahrens gegeben sei; auch Art. 98a OG verlange nicht zwingend ein kantonales Rechtsmittel, weil es sich beim Besonderen Untersuchungsrichter bereits um eine richterliche Behörde handle.
Das Verwaltungsgericht überwies deshalb die Beschwerde an die Anklagekammer des Obergerichts des Kantons Bern. Diese nahm die Eingabe als Beschwerde im Sinne von Art. 64 des damals geltenden Gesetzes über das Strafverfahren des Kantons Bern vom 20. Mai 1928 (aStrV) entgegen. Mit Beschluss vom 31. Mai 1996 wies die Anklagekammer des Obergerichts die Beschwerde der Eidgenössischen Steuerverwaltung ab.
In der Folge wurde das bundesgerichtliche Verfahren wieder aufgenommen und der Besondere Untersuchungsrichter sowie die Berner Kantonalbank zur Vernehmlassung eingeladen. Der Besondere Untersuchungsrichter hält an der Begründung in seiner Verfügung fest. Die Berner Kantonalbank beantragt, die Beschwerde sei abzuweisen.
Das Bundesgericht heisst die Beschwerde gut.

Erwägungen

Aus den Erwägungen:

1. a) Die Eidgenössische Steuerverwaltung stützt ihr Auskunftsersuchen auf Art. 112 des Bundesgesetzes vom 14. Dezember 1990 über die direkte Bundessteuer (DBG; SR 642.11). Die angefochtene Verfügung des Besonderen Untersuchungsrichters erging zwar im Rahmen des kantonalen Strafverfahrens, sie hat jedoch die Anwendung von öffentlichem Recht des Bundes zum Gegenstand.
BGE 124 II 58 S. 62
Es handelt sich somit um eine Verfügung im Sinne von Art. 5 des Bundesgesetzes vom 20. Dezember 1968 über das Verwaltungsverfahren (VwVG, SR 172.021), die letztinstanzlich mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde an das Bundesgericht weitergezogen werden kann (Art. 97 Abs. 1 OG, 98 lit. g, 98a OG).
b) Die Beschwerdeführerin hat auch eine kantonale Beschwerde eingereicht, die von der Anklagekammer des Obergerichts des Kantons Bern als Beschwerde im Sinne von Art. 64 aStrV entgegengenommen und behandelt worden ist. Diese Beschwerde ist indessen kein prozessuales Rechtsmittel im technischen Sinn, sondern ein Aufsichtsmittel, das gegen die Richter und Gerichtsschreiber der ersten Instanz wegen "nicht strafbarer Amtspflichtverletzung oder ungebührlicher Behandlung" ergriffen werden kann (Art. 64 aStrV). Eine Amtspflichtverletzung liegt nach der Praxis vor, wenn eine an sich ungesetzliche oder ungerechtfertigte Amtshandlung aus unsachlichen oder zum vornherein nicht stichhaltigen Gründen erfolgt, und nicht schon dann, wenn diese ungesetzlich oder ungerechtfertigt ist (WAIBLINGER, Das Strafverfahren für den Kanton Bern, Langenthal 1937 und 1942, N. 2 zu Art. 64). Es geht aus den Erwägungen des Beschlusses der Anklagekammer klar hervor, dass sie die Anordnung (Verfügung) des Besonderen Untersuchungsrichters nur unter diesem beschränkten Gesichtswinkel und nicht umfassend daraufhin, ob diese öffentliches Recht des Bundes verletzt, geprüft hat, auch wenn sie sich mit der Rechtsprechung des Bundesgerichts zu Art. 112 DBG (bzw. zum früheren Art. 90 Abs. 1 des Bundesratsbeschlusses vom 9. Dezember 1940 über die Erhebung einer direkten Bundessteuer, BdBSt) auseinandergesetzt hat. Im Lichte von Art. 98 lit. g OG war deshalb für die Beschwerdeführerin nicht erforderlich, diesen Entscheid mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde anzufechten (s. auch Urteil vom 14. März 1996, ASA 65 S. 649 E. 3).
c) Es stellt sich indes die Frage, ob gemäss Art. 98a OG gegen die Verfügung des Besonderen Untersuchungsrichters ein kantonaler Instanzenzug vorgesehen sein müsste. Aufgrund dieser Bestimmung bestellen die Kantone richterliche Behörden als letzte kantonale Instanzen, soweit gegen deren Entscheide unmittelbar die Verwaltungsgerichtsbeschwerde beim Bundesgericht zulässig ist. Das Verwaltungsgericht des Kantons Bern trat auf die im Kanton erhobene Beschwerde der Eidgenössischen Steuerverwaltung nicht ein. Es ist der Ansicht, eine zusätzliche kantonale Instanz nach Art. 98a OG sei nicht erforderlich, weil es sich beim Besonderen Untersuchungsrichter
BGE 124 II 58 S. 63
bereits um eine richterliche Behörde im Sinne dieser Vorschrift handle.
Ob diese Ansicht zutrifft, erscheint fraglich. Das Gericht charakterisiert sich dadurch, dass es in einem justizförmigen Verfahren über eine Streitfrage eine Entscheidung trifft. Zum Wesen eines Gerichtes gehört, dass es die rechtserheblichen Tatsachen selbst ermittelt, die Gesetze und Rechtsgrundsätze auf den in Frage stehenden Sachverhalt anwendet und eine für die Parteien verbindliche Entscheidung trifft. Merkmale eines Gerichts sind dessen Unabhängigkeit und Unparteilichkeit. Zur gleichen Neutralität ist der mit einem Ermittlungsauftrag betraute Untersuchungsrichter nicht verpflichtet. Er gilt objektiv nicht im gleichen Masse als unabhängig und unbefangen wie ein Gericht (vgl. BGE 123 I 87 E. 4a und e betreffend Notariatskommission; zur Stellung des Untersuchungsrichters siehe auch den Fall De Cubber gegen Belgien, Urteil des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte vom 26. Oktober 1984, Serie A, Nr. 86 Ziff. 23 ff.). Der Untersuchungsrichter kann deshalb schwerlich oder jedenfalls nicht ohne weiteres als Gericht im Sinne von Art. 98a OG angesehen werden.
Die Frage, ob der Kanton Bern verpflichtet gewesen wäre, eine richterliche Instanz zur Verfügung zu stellen, braucht im vorliegenden Fall indessen nicht entschieden zu werden, weil die mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde angefochtene Verfügung des Besonderen Untersuchungsrichters am 20. September 1995 erging, mithin vor Ablauf der Frist, die den Kantonen zur Anpassung ihrer Gesetzgebung an Art. 98a OG eingeräumt ist (Schlussbestimmung Ziff. 1 zur Änderung 1991 OG; Inkrafttreten der Gesetzesnovelle: 15. Februar 1992), und intertemporalrechtlich für die Frage des zulässigen Rechtsmittels in der Regel auf das Datum des angefochtenen Entscheides abzustellen ist (s. auch Urteil vom 30. September 1997 i.S. F., betreffend Ermessensveranlagung, ASA-Publikation vorgesehen).
d) Für Entscheide nach Ablauf dieser Frist haben die Kantone dann allerdings eine kantonale richterliche Behörde als letzte kantonale Instanz vorzusehen, wenn es sich bei der um Akteneinsicht ersuchten Behörde nicht bereits um eine richterliche Behörde im Sinne von Art. 98a OG handelt. Die Ausgestaltung des Rechtsweges obliegt dem Kanton, weil das Bundesgesetz über die direkte Bundessteuer das Verfahren nicht regelt. Zu beachten ist auch das Bundesgesetz vom 14. Dezember 1990 über die Harmonisierung der direkten Steuern der Kantone und Gemeinden (StHG; SR 642.14), dessen Art. 39 Abs. 3 die Voraussetzungen zur Amtshilfe grundsätzlich
BGE 124 II 58 S. 64
gleich umschreibt wie Art. 112 DBG. Da gegen Entscheide der letzten kantonalen Instanzen in dieser Materie ebenfalls die Verwaltungsgerichtsbeschwerde an das Bundesgericht zulässig ist (Art. 73 Abs. 1 StHG), wäre es denkbar, dass der Kanton für Auskunftsersuchen betreffend die kantonalen Steuern die gleiche richterliche Instanz vorsieht wie für Auskunftsersuchen betreffend die direkte Bundessteuer. Das könnte beispielsweise die in Art. 50 Abs. 1 StHG vorgesehene Rekursinstanz sein, bei der es sich um ein verwaltungsunabhängiges Gericht handelt (CAVELTI in: Kommentar zum Schweizerischen Steuerrecht I/1, N. 7 zu Art. 50 StHG).
e) Nach dem Gesagten ergibt sich, dass die Verwaltungsgerichtsbeschwerde gegen die Verfügung des Besonderen Untersuchungsrichters zulässig ist. Zur Beschwerde legitimiert ist auch die Eidgenössische Steuerverwaltung. Ihre Beschwerdebefugnis ist im Bundesgesetz über die direkte Bundessteuer nicht mehr ausdrücklich verankert, doch ergibt sich aus der bundesrätlichen Verordnung über die Aufgaben der Departemente, Gruppen und Ämter vom 9. Mai 1979 (SR 172.010.15), dass es sich bei der Eidgenössischen Steuerverwaltung um die im Sinne von Art. 103 lit. b OG zuständige Dienstabteilung handelt (Art. 11 Ziff. 5; s. auch AGNER/JUNG/STEINMANN, Kommentar zum Gesetz über die direkte Bundessteuer, N. 4 zu Art. 146). Auf die auch den übrigen formellen Erfordernissen genügende Beschwerde ist somit einzutreten.

2. Streitig ist im vorliegenden Fall die Frage, in welchem Umfang die Beschwerdeführerin Einsicht in die Akten des gegen Werner K. Rey und Konsorten geführten Strafverfahrens nehmen darf. Der Besondere Untersuchungsrichter hat das Akteneinsichtsersuchen bewilligt, soweit es im Strafverfahren angeschuldigte Personen betrifft oder sich auf Gesellschaften bezieht, bei denen solche Personen eine beherrschende Stellung innehaben. Er hat jedoch das Gesuch abgewiesen, soweit die Beschwerdeführerin in Akten Einblick nehmen will, welche nicht in das Strafverfahren involvierte Personen betreffen. Er begründete seinen ablehnenden Entscheid damit, dass der Beschwerdeführerin diese Personen nicht bekannt seien und es nicht Aufgabe der Strafverfolgungsbehörde sein könne, den Steuerbehörden zu einer allgemeinen Suchaktion zu verhelfen.
Das Akteneinsichtsersuchen der Beschwerdeführerin, soweit es vom Untersuchungsrichter nicht bereits bewilligt worden ist, steht nicht mit der Veranlagung eines bestimmten Steuerpflichtigen in einem Zusammenhang. Es betrifft generell Personen, die bei Werner K. Rey bzw. dessen Gesellschaften Investitionen getätigt haben oder
BGE 124 II 58 S. 65
aus der Kapitalerhöhung der Inspectorate SA Zuteilungen erhielten. Es steht ausser Frage, dass auf das Gesuch Art. 112 Abs. 1 DBG Anwendung findet, zumal es nach dem 1. Januar 1995 gestellt worden ist. Das hindert nicht, bei der Auslegung der neuen Bestimmung die bisherige Rechtsprechung zu Art. 90 Abs. 1 BdBSt zu berücksichtigen.

3. Unter dem Marginale "Amtshilfe anderer Behörden" bestimmt Art. 112 Abs. 1 und 3 DBG:
1 Die Behörden des Bundes, der Kantone, Bezirke, Kreise und Gemeinden erteilen den mit dem Vollzug betrauten Behörden auf Ersuchen hin alle erforderlichen Auskünfte. Sie können diese Behörden von sich aus darauf aufmerksam machen, wenn sie vermuten, dass eine Veranlagung unvollständig ist.
3 Von der Auskunfts- und Mitteilungspflicht ausgenommen sind die Organe der PTT-Betriebe und der öffentlichen Kreditinstitute für Tatsachen, die einer besonderen, gesetzlich auferlegten Geheimhaltung unterstehen.
a) Art. 112 Abs. 1 DBG übernimmt weitgehend Art. 90 Abs. 1 BdBSt (Urteil vom 14. März 1996, ASA 65 S. 650 E. 5). Nach dieser Vorschrift hatten die Verwaltungs- und Gerichtsbehörden des Bundes, der Kantone und Gemeinden, "ungeachtet einer allfälligen Geheimhaltungspflicht, der Veranlagungsbehörde auf deren Verlangen aus den amtlichen Registern sowie aus sonstigen Akten, die für die Veranlagung eines Steuerpflichtigen von Bedeutung sein können, kostenlos Auskunft zu erteilen." Gewährleistet blieb nur das Post- und Telegrafengeheimnis. Nach der Rechtsprechung zu Art. 90 Abs. 1 BdBSt konnte die Steuerverwaltung Einsicht in die Akten eines Strafverfahrens nehmen, sofern sie konkrete Anhaltspunkte für den Verdacht hatte, dass ein Steuerpflichtiger eine Steuerwiderhandlung begangen hatte (BGE 108 Ib 231). Das Einsichtsrecht beschränkte sich aber nicht auf die im Strafverfahren angeschuldigten Personen. Die Steuerbehörde durfte Tatsachen, die sie bei der Konsultation der Strafakten in Erfahrung brachte, auch gegenüber den in das Strafverfahren nicht involvierten Personen verwenden, und zwar selbst dann, wenn sie diesen gegenüber anfänglich keinen Verdacht hatte (BGE 113 Ib 193; Urteil vom 6. Oktober 1987, ASA 58 S. 359). Der Fiskus konnte sogar in die Akten eines Strafverfahrens Einsicht nehmen, wenn er einen konkreten Verdacht nur gegenüber einer am Strafverfahren nicht beteiligten Person hegte, vorausgesetzt die Strafakten standen mit dieser Person in einem Zusammenhang (BGE 108 Ib 465; Urteil vom 29. September 1978, ASA 48 S. 483, deutsche Übersetzung in StR 35/1980 S. 374).
BGE 124 II 58 S. 66
b) Das Einsichtsrecht des Fiskus machte dabei auch vor Bankdokumenten nicht halt. Art. 89 Abs. 2 BdBSt behielt zwar für das Veranlagungsverfahren das gesetzlich geschützte Berufsgeheimnis - wozu das Bankgeheimnis gehört - vor. Die Veranlagungsbehörde konnte sich deshalb nicht direkt an die Bank wenden, wenn der Steuerpflichtige sich weigerte, durch das Geheimnis geschützte Tatsachen oder Beweismittel zu offenbaren.
Der Schutz des Bankgeheimnisses versagte jedoch dann, wenn in einem nach strafprozessualen Grundsätzen durchgeführten Verfahren Bankdokumente herausverlangt oder beschlagnahmt worden waren. Art. 47 des Bundesgesetzes über die Banken und Sparkassen vom 8. November 1934 (BankG, in der Fassung vom 1. April 1996, SR 952.0), der das Bankgeheimnis strafrechtlich unter Schutz stellt, behält in Ziff. 4 die eidgenössischen und kantonalen Bestimmungen über die Zeugnispflicht und die Auskunftspflicht gegenüber einer Behörde ausdrücklich vor, weshalb das Bankgeheimnis in Strafverfahren entfällt, wenn nicht das anwendbare Prozessrecht das Gegenteil anordnet. Aus diesem Grund durften die Veranlagungsbehörden gestützt auf Art. 90 Abs. 1 BdBSt in die in einem Strafverfahren erlangten Bankdokumente Einblick nehmen, vorausgesetzt sie hatten einen konkreten Verdacht (BGE 108 Ib 231 E. 3, 465 E. 3; BGE 113 Ib 193 E. 3a; ASA 48 S. 483 E. 3b/bb).
Der wesentliche Unterschied zwischen Art. 90 Abs. 1 und Art. 89 Abs. 2 BdBSt bestand darin, dass Art. 89 Abs. 2 für die Auskunftspflicht des Steuerpflichtigen im Veranlagungsverfahren alle Berufsgeheimnisse vorbehielt, soweit sie vom Gesetz geschützt waren, Art. 90 Abs. 1 für die Auskunftspflicht von Behörden jedoch nur das Post- und Telegrafengeheimnis. Deshalb waren die Veranlagungsbehörden in den Schranken von Art. 90 Abs. 1 BdBSt befugt, in Bankdokumente Einsicht zu nehmen, sofern sie in einem Strafverfahren rechtmässig herausverlangt oder beschlagnahmt worden waren (ASA 48 S. 483 E. 3b).
c) Bei der Konsultation von Bankdokumenten eines Strafverfahrens durfte der Fiskus - ohne dass ihm das Bankgeheimnis entgegengehalten werden konnte - auch Kenntnis nehmen von Tatsachen über Personen, die nicht im Strafverfahren standen. Die Begründung dafür ist darin zu sehen, dass die Steuerbehörde schon aufgrund von Art. 89 Abs. 2 BdBSt bei der Veranlagung des Steuerpflichtigen von Tatsachen Kenntnis nehmen durfte, die Drittpersonen betrafen (Urteil vom 9. Januar 1978, ASA 47 S. 490). Ein Steuerpflichtiger musste daher jederzeit damit rechnen, dass Tatsachen, die dem
BGE 124 II 58 S. 67
Fiskus bei der Veranlagung eines anderen Steuerpflichtigen zur Kenntnis gelangt waren, gegen ihn verwendet wurden. Nicht anders verhielt es sich in bezug auf Bankdokumente, die in einem Strafverfahren herausverlangt oder beschlagnahmt worden waren. Das Berufsgeheimnis kann nur vom Geheimnisherrn bzw. von demjenigen angerufen werden, der gesetzlich zur Geheimhaltung verpflichtet ist. Hat sich dieser im Strafverfahren veranlasst gesehen, es preiszugeben, so kann es von den Steuerbehörden auch Dritten gegenüber verwendet werden (ASA 48 S. 483 E. 3b/bb).
d) Die Rechtsprechung hat dem Akteneinsichtsrecht der Steuerverwaltung allerdings auch Schranken gesetzt. Die der Veranlagungsbehörde in Art. 90 Abs. 1 BdBSt verliehene Befugnis bedeutete nicht, dass der Fiskus unterschiedslos und ohne konkretes Ziel die amtlichen Akten studieren konnte; allgemeine Suchaktionen waren unzulässig. Vielmehr war erforderlich, dass die Steuerbehörde einen hinreichend konkreten Verdacht gegenüber bestimmten Steuerpflichtigen hegte. Sie durfte aber Einblick in die Listen mit Namen von Personen, beispielsweise von Gläubigern oder Lieferanten, nehmen und die so gewonnenen Erfahrungen auswerten, wenn Grund bestand, diese der Steuerwiderhandlung zu verdächtigen. Im Fall, der in BGE 108 Ib 465 zu beurteilen war, konnten die von den im Strafverfahren stehenden Personen bei ihrer Tätigkeit begangenen Delikte praktisch nur Beziehungen zu den Kunden betroffen haben, so dass deren Identifizierung notwendig und gerechtfertigt war. Deshalb handelte es sich nicht um eine unzulässige allgemeine Suchaktion, wenn die Steuerbehörde Einsicht in diese Personen betreffende Akten verlangte (BGE 108 Ib 465 E. 3b; s. auch BGE 113 Ib 193 E. 3b; ASA 48 483 E. 3b/cc).
e) Die dargestellte Rechtsprechung ist auch bei der Auslegung und Anwendung von Art. 112 DBG zu beachten. Das Bundesgericht hat sie bereits im Urteil vom 14. März 1996 in bezug auf die neue Vorschrift bestätigt, dabei aber auch gewisse Präzisierungen angebracht (ASA 65 S. 649 E. 5). So ist zu beachten, dass neu auch die AHV-Organe zur Auskunft verpflichtet sind (AGNER/JUNG/STEINMANN, a.a.O., N. 3 zu Art. 112). Ferner können die in Art. 112 DBG genannten Behörden die Steuerbehörden von sich aus darauf aufmerksam machen, wenn sie vermuten, dass eine Veranlagung unvollständig ist. Insofern strebt Art. 112 DBG eine engere Zusammenarbeit zwischen den Behörden an. Die Bestimmung verlangt auch nicht mehr wie Art. 90 Abs. 1 BdBSt, dass die Auskünfte, die von den Fiskalbehörden angefordert werden, für die "Veranlagung
BGE 124 II 58 S. 68
eines Steuerpflichtigen von Bedeutung sein können". Art. 112 Abs. 1 DBG setzt nur voraus, dass die Auskünfte für die Anwendung des Gesetzes erforderlich sind ("nécessaire à l'application de la présente loi", "necessaria per la sua applicazione"). Der deutsche Gesetzestext ist zwar umfassender formuliert ("alle erforderlichen Auskünften"), doch verdienen die romanischen Texte den Vorzug, zumal sie mit dem Gesetzesentwurf übereinstimmen (BBl 1983 III 353, Art. 117 Abs. 1) und aus den Materialien kein Grund für die abweichende deutsche Fassung ersichtlich ist (AB 1986 S 203, 1988 N 66, S 847). Offensichtlich handelt es sich um ein Versehen bei der Schlussredaktion, das jedoch keine materielle Änderung zu bewirken vermag (Art. 32 Abs. 1 des Bundesgesetzes vom 23. März 1962 über den Geschäftsverkehr der Bundesversammlung sowie über die Form, die Bekanntmachung und das Inkrafttreten ihrer Erlasse, SR 171.11). Allgemeine Suchaktionen sind daher auch unter dem neuen Recht als unzulässig zu beurteilen.

4. a) Der Besondere Untersuchungsrichter hat das Gesuch der Beschwerdeführerin gutgeheissen, soweit es um Akten der in das Strafverfahren involvierten steuerpflichtigen Personen und der von ihnen beherrschten Gesellschaften geht. Er hat es jedoch abgewiesen, soweit die Beschwerdeführerin Einsicht in die Akten von nicht namentlich genannten Personen, die bei Werner K. Rey oder dessen Gesellschaften Vermögensanlagen getätigt haben (im folgenden "die Investoren"), verlangt. Ebenso gab er dem Gesuch nicht statt, soweit es Namenslisten und Aufstellungen der Banken über Personen betrifft, die im Zuge der Publikumsöffnung der Inspectorate SA im Jahre 1986 Zuteilungen erhielten. Er räumte ein, dass die Begleitumstände der damaligen Publikumsöffnung der Inspectorate SA viele Wesenszüge einer hochspekulativen Geldanlage tragen und die gleichzeitig vorgenommene Kapitalerhöhung zahlreiche Vermögen aus unversteuerten Einkommensbestandteilen gebunden haben dürfte. Im Gesuch fehlten indessen Namen der von der Gesuchstellerin der Steuerdelinquenz verdächtigten Personen. Da der von der Gesuchstellerin vorgebrachte Verdacht ein allgemeiner bleibe, sei ihr Vorgehen als unzulässige Suchaktion zu werten.
Demgegenüber beruft sich die Beschwerdeführerin auf die im Emissionsprospekt der Inspectorate SA gemachten Angaben über die steil ansteigende Gewinnentwicklung und den in Aussicht gestellten Dividendensprung von vier (1984) auf 20 Prozent (1985) sowie auf die darin geäusserte Erwartung, diesen Dividendensatz halten zu können. Erfahrungsgemäss würden gerade bei solchen
BGE 124 II 58 S. 69
Gewinnaussichten von Steuerpflichtigen Gelder angelegt, die bisher nicht deklariert worden seien.
b) Hinsichtlich der Frage, ob der Beschwerdeführerin Einblick in die Akten zu geben sei, kann es - entgegen der Auffassung des Besonderen Untersuchungsrichters - nicht darauf ankommen, ob die Beschwerdeführerin die Namen von Steuerpflichtigen, die allenfalls Steuerdelikte begangen haben, bereits nennen kann. Es genügt, dass Grund besteht, aus den Akten ersichtliche Dritte einer Steuerwiderhandlung zu verdächtigen. Dass diese Dritten der Steuerbehörde bereits namentlich bekannt sind, war schon nach der Rechtsprechung zu Art. 90 Abs. 1 BdBSt nicht erforderlich und ist auch nicht Merkmal der neuen Vorschrift in Art. 112 DBG, die in dieser Beziehung die Voraussetzungen eher noch gelockert hat (ASA 65 S. 649 E. 5c).
Trotzdem müssen konkrete Gründe für die Annahme vorliegen, dass sich Dritte Steuerwiderhandlungen haben zuschulden kommen lassen. Solche Verdachtsgründe können sich, wie die Beschwerdeführerin mit Recht bemerkt, aus einem offensichtlichen Missverhältnis zwischen der finanziellen Lage einer Unternehmung und den in Aussicht gestellten oder ausbezahlten Erträgen ergeben. Im Fall, der dem Urteil in ASA 65 S. 649 E. 5d zugrunde liegt, ergab sich der konkrete Verdacht daraus, dass die in das Strafverfahren verwickelte Unternehmensgruppe Aktivitäten entfaltet hatte, welche Steuerhinterziehungen bei Drittpersonen indizierten. In dem in ASA 58 S. 359 beurteilten Fall wurden Renditen von 20-30 Prozent versprochen, was viel zu hoch schien. Dass dabei den Verantwortlichen vorgeworfen wurde, die Risiken vertuscht und die Anleger mit falschen Angaben über die Verwendung des erhaltenen Kapitals bzw. die Gewinnaussichten getäuscht zu haben, änderte daran nichts. Massgebend für den Entscheid über die Aktenöffnung war, dass die Unternehmensorganisation, namentlich die Verflechtung mit Gesellschaften in mehreren Ländern - unter anderem Anstalten in Liechtenstein -, die Vermutung nahelegte, dass die diesen Gesellschaften überlassenen Gelder aus unversteuerten Quellen stammten (ASA 58 S. 360/61). Auch in BGE 108 Ib 465 konnten die von den im Strafverfahren stehenden Personen bei ihrer geschäftlichen Tätigkeit begangenen strafbaren Handlungen praktisch nur Beziehungen zu Kunden betroffen haben, so dass deren Identifizierung notwendig und gerechtfertigt war (E. 3b).
c) Im vorliegenden Fall beruft sich die Beschwerdeführerin auf die im Emissionsprospekt der Inspectorate SA für die Kapitalerhöhung
BGE 124 II 58 S. 70
im Jahre 1986 gemachten Angaben über die Gewinnentwicklung und den in Aussicht gestellten Dividendensprung von vier auf 20 Prozent. Sie weist zu Recht darauf hin, dass Werner K. Rey im Zusammenhang mit der erfolgten Publikumseröffnung der Inspectorate SA Machenschaften an den Tag gelegt hat, die heute Anlass zu Untersuchungen durch die Justizbehörden geben. In bezug auf aussenstehende Dritte erachtete es auch der Besondere Untersuchungsrichter als Erfahrungstatsache, dass die Begleitumstände der damaligen Publikumsöffnung der Inspectorate SA viele Wesenszüge einer hochspekulativen Geldanlage trugen und die gleichzeitig vorgenommene Kapitalerhöhung zahlreiche Vermögen aus unversteuerten Einkommensbestandteilen gebunden haben dürfte. Auch hält er dafür, dass solche Sachverhalte Steuerstraftatbestände indizieren. Diese Ansicht ist begründet. Erfahrungsgemäss ziehen bestimmte Gesellschaften mehr als andere Mittel aus unversteuerten Quellen an. Die Inspectorate SA erhöhte anscheinend innerhalb von kurzer Zeit mehrere Male ihr Kapital bzw. gab Partizipationsscheine heraus. Die in Aussicht gestellten Gewinne von bis zu 20 Prozent und die sechsfach überzeichnete Kapitalerhöhung des Jahres 1986 lassen auf die spekulative Natur dieser Unternehmung schliessen. Auch in dem ASA 58 S. 359 zugrundeliegenden Fall wurden Renditen in dieser Grössenordnung versprochen. Dass dort die Anleger mit falschen Angaben über die Verwendung des erhaltenen Kapitals bzw. die Gewinnaussichten getäuscht wurden, während im Fall der Inspectorate SA Banken als Vermittler auftraten, vermag keinen rechtserheblichen Unterschied zu begründen. Wie die weitere Entwicklung zeigte, wurden sicherlich auch im Falle der Firmengruppe Rey die Banken mit falschen oder unvollständigen Angaben irregeführt. Der Umstand, das Banken beteiligt waren, schliesst somit den nahen und konkreten Verdacht nicht aus, dass die Inspectorate SA von Steuerdefraudanten zu Anlagezwecken missbraucht worden sein könnte.
Aufgrund der sechsfach überzeichneten Kapitalerhöhung verlangte der Besondere Untersuchungsrichter bei der Berner Kantonalbank die Zuteilungslisten, also die Vormerkungen derjenigen Personen, die auf dem Primärmarkt neue Aktien gezeichnet hatten. Er wollte feststellen, ob einzelne Personen übermässige Zuteilungen erhalten haben und allenfalls als Beteiligte in die Strafuntersuchung einbezogen werden müssen. Die Analyse durch den Revisor hat zwar keine derartigen Anhaltspunkte ergeben. Doch wurde dabei die Frage, ob Investoren unversteuerte Mittel angelegt haben könnten,
BGE 124 II 58 S. 71
weder vom Besonderen Untersuchungsrichter noch vom Revisor untersucht. Es muss deshalb der Eidgenössischen Steuerverwaltung zugestanden werden, dass sie die Untersuchung in dieser Hinsicht ergänzt und ihr zu diesem Zweck die Akten herausgegeben werden.

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Sachverhalt

Erwägungen 1 2 3 4

Referenzen

BGE: 108 IB 465, 113 IB 193, 108 IB 231, 123 I 87

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