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Urteilskopf

124 V 29


6. Urteil vom 3. März 1998 i.S. Schweizerische Unfallversicherungsanstalt gegen M. und Versicherungsgericht des Kantons Basel-Stadt

Regeste

Art. 24 Abs. 1 UVG; Art. 36 Abs. 1 UVV: Integritätsentschädigung bei psychogenen Unfallfolgen.
- Anspruch auf Integritätsentschädigung besteht grundsätzlich auch bei Beeinträchtigungen der psychischen Integrität.
- Art. 36 Abs. 1 UVV, wonach der Integritätsschaden als dauernd gilt, wenn er voraussichtlich während des ganzen Lebens mindestens in gleichem Umfang besteht, ist gesetzmässig.
- Psychogene Störungen nach Unfällen geben Anspruch auf Integritätsentschädigung, wenn eine eindeutige individuelle Langzeitprognose gestellt werden kann, welche für das ganze Leben eine Änderung durch Heilung oder Besserung des Schadens praktisch ausschliesst. Für den Entscheid über die Dauerhaftigkeit des Integritätsschadens und die Notwendigkeit einer entsprechenden psychiatrischen Abklärung ist die Praxis wegleitend, wie sie für die Beurteilung der Adäquanz psychischer Unfallfolgen Geltung hat.

Sachverhalt ab Seite 30

BGE 124 V 29 S. 30

A.- M., geboren 1964, war als Betriebsarbeiter bei der Firma B. erwerbstätig und bei der Schweizerischen Unfallversicherungsanstalt (SUVA) gegen Berufs- und Nichtberufsunfall versichert gewesen. Am 7. Dezember 1988 erlitt er einen Verkehrsunfall, bei dem er sich ein Trauma der Halswirbelsäule zuzog. Die Diagnose der Neurologischen Universitätspoliklinik des Kantonsspitals X lautete auf traumatisches Zervikalsyndrom ohne Hinweise auf radikuläre sensomotorische Ausfälle (Berichte vom 1. Februar und 22. März 1989). In der Folge klagte der Versicherte über persistierende Kopf-, Schulter- und Armschmerzen; zudem stellte sich eine depressive Entwicklung ein. Die SUVA ordnete neurologische und psychiatrische Abklärungen an und erbrachte die gesetzlichen Leistungen in Form von Heilbehandlung und Taggeld. Nach Einholung eines neurologischen Gutachtens von Dr. med. S., welches am 23. Dezember 1993 erstattet wurde, schloss sie den Fall auf den 31. Mai 1994 ab. Mit Verfügung vom 23. Juni 1994 sprach sie dem Versicherten ab 1. Juni 1994 eine als Komplementärrente ausgerichtete Invalidenrente aufgrund eines Invaliditätsgrades von 40 % sowie eine Integritätsentschädigung aufgrund einer Integritätseinbusse von 25% zu.
Auf Einsprache des Versicherten stellte die SUVA gestützt auf das neurologische Gutachten vom 23. Dezember 1993 fest, dass der Versicherte an einer psychischen Dekompensation leide, welche in natürlichem und adäquatem Kausalzusammenhang mit dem Unfall stehe, und hieraus eine volle Erwerbsunfähigkeit resultiere. Sie hiess die Einsprache mit Entscheid vom 28. März 1995 in dem Sinne teilweise gut, dass sie dem Versicherten ab 1. Juni 1994 eine Invalidenrente von 100% gewährte. Bezüglich der
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Integritätsentschädigung wies sie die Einsprache ab, indem sie die Integritätsentschädigung von 25% für die somatischen Unfallfolgen bestätigte und eine Entschädigung für die psychogenen Störungen mangels Dauerhaftigkeit des Integritätsschadens ablehnte.

B.- In teilweiser Gutheissung der hiegegen erhobenen Beschwerde, mit welcher M. die Zusprechung einer Integritätsentschädigung von 50% beantragte, sprach das Versicherungsgericht des Kantons Basel-Stadt dem Versicherten eine Entschädigung von 37,5% zu. Das Gericht ging davon aus, dass laut Gutachten des Dr. med. S., welcher den Gesundheitsschaden zu je 50% auf organische und psychische Komponenten zurückführte, die psychische Schädigung nicht nur erheblich, sondern auch dauernd sei. In Anlehnung an die Beurteilung des Experten und unter Hinweis auf einen Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons Aargau vom 17. Juni 1992 in Sachen S.P. erachtete das Gericht eine zusätzliche Entschädigung von 25% für die psychische Schädigung als angemessen. Wegen erheblicher psychischer Vorbelastung kürzte es die Entschädigung um die Hälfte auf 12,5%, womit sich eine Gesamtentschädigung von 37,5% ergab (Entscheid vom 23. Februar 1996).

C.- Die SUVA führt Verwaltungsgerichtsbeschwerde mit dem Rechtsbegehren, der Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons Basel-Stadt vom 23. Februar 1996 sei aufzuheben und es sei der Einspracheentscheid vom 28. März 1995 zu bestätigen, mit welchem eine Erhöhung der (für die somatischen Unfallfolgen zugesprochenen) Integritätsentschädigung von 25% abgelehnt worden war. Mit der Verwaltungsgerichtsbeschwerde legt die SUVA eine psychiatrische Beurteilung des Falles durch Dr. med. B. von der Abteilung Unfallmedizin der SUVA vom 27. März 1996 sowie eine grundsätzliche Stellungnahme dieses Arztes zum Anspruch auf Integritätsentschädigung bei psychogenen Störungen vom 11. Mai 1995 ins Recht.
M. lässt auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde schliessen und um unentgeltliche Rechtspflege nachsuchen. Das Bundesamt für Sozialversicherung (BSV) nimmt zu einzelnen Punkten Stellung, enthält sich jedoch eines Antrages.

Erwägungen

Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

1. a) Gemäss Art. 24 Abs. 1 UVG hat der Versicherte Anspruch auf eine angemessene Integritätsentschädigung, wenn er durch den Unfall eine
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dauernde erhebliche Schädigung der körperlichen oder geistigen Integrität erleidet. Nach Art. 36 Abs. 1 UVV gilt ein Integritätsschaden als dauernd, wenn er voraussichtlich während des ganzen Lebens mindestens in gleichem Umfang besteht (Satz 1); er ist erheblich, wenn die körperliche oder geistige Integrität, unabhängig von der Erwerbsfähigkeit, augenfällig oder stark beeinträchtigt ist (Satz 2).
b) Die Integritätsentschädigung wird laut Art. 25 Abs. 1 UVG in Form einer Kapitalleistung gewährt (Satz 1); sie darf den am Unfalltag geltenden Höchstbetrag des versicherten Jahresverdienstes nicht übersteigen und wird entsprechend der Schwere des Integritätsschadens abgestuft (Satz 2).
Nach Art. 25 Abs. 2 UVG regelt der Bundesrat die Bemessung der Entschädigung. Von dieser Befugnis hat er in Art. 36 UVV Gebrauch gemacht. Gemäss Abs. 2 dieser Vorschrift gelten für die Bemessung der Integritätsentschädigung die Richtlinien des Anhangs 3. Darin hat der Bundesrat in einer als gesetzmässig erkannten, nicht abschliessenden Skala (BGE 113 V 219 Erw. 2a; RKUV 1988 Nr. U 48 S. 236 Erw. 2a mit Hinweisen) häufig vorkommende und typische Schäden prozentual gewichtet. In der Skala der leistungsbegründenden Integritätsschäden enthalten sind u.a. die "Beeinträchtigung von psychischen Teilfunktionen wie Gedächtnis und Konzentrationsfähigkeit" sowie das "psychoorganische Syndrom".
c) Für die im Anhang 3 zur UVV genannten Integritätsschäden entspricht die Entschädigung im Regelfall dem angegebenen Prozentsatz des Höchstbetrages des versicherten Verdienstes (Ziff. 1 Abs. 1). Die Entschädigung für spezielle oder nicht aufgeführte Integritätsschäden wird nach dem Grad der Schwere vom Skalenwert abgeleitet (Ziff. 1 Abs. 2). In diesem Zusammenhang hat die SUVA in Weiterentwicklung der bundesrätlichen Skala weitere Bemessungsgrundlagen in tabellarischer Form erarbeitet. Diese in den Mitteilungen der Medizinischen Abteilung der SUVA, Nr. 57 bis 59, herausgegebenen Tabellen (teilweise geändert und ergänzt in den Mitteilungen Nr. 60, 62 und 66) sind, soweit sie lediglich Richtwerte enthalten, mit denen die Gleichbehandlung aller Versicherten gewährleistet werden soll, mit dem Anhang 3 zur UVV vereinbar (BGE 116 V 157 Erw. 3a mit Hinweis).
Tabelle 8 der Richtwerte listet "Integritätsschäden bei psychischen Folgen von Hirnverletzungen" auf. Die Störungen werden aufgrund neuropsychologischer Untersuchungen als minimal, leicht, mittel und schwer
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eingestuft und entsprechend bemessen. Posttraumatische Hirnfunktionsstörungen (=psychoorganisches Syndrom, POS), welche sich in Störungen der neuropsychologischen Hirnleistungen (wie Gedächtnis, Merkfähigkeit und Konzentration) sowie Störungen der Persönlichkeit (Wesensveränderungen wie Antriebs- und Affektstörung usw.) äussern, werden entsprechend dem Schweregrad der Beeinträchtigungen von 0 bis 80% gewichtet.

2. a) Die SUVA vertritt die Auffassung, bei psychogenen Störungen, wie sie im vorliegenden Fall diagnostiziert worden seien, sei ein Anspruch auf Integritätsentschädigung generell ausgeschlossen. Sie begründet dies zusammengefasst damit, dass
- das Institut der Integritätsentschädigung für körperliche Substanzverluste konzipiert sei und für den Bereich der nicht mit absoluten objektiven Werten quantifizierbaren psychogenen Störungen nicht geeignet sei,
- psychogene Störungen nach herrschender psychiatrischer Lehre nicht lebenslang dauerten, sondern degressiv verliefen und damit die Voraussetzungen von Art. 24 Abs. 1 UVG und Art. 36 UVV nicht erfüllten,
- bei andauernden psychogenen Störungen die Persönlichkeit und andere unfallfremde Faktoren (einschliesslich des Willens zur Überwindung bzw. Nichtüberwindung der Störung) eine dominante Rolle spielten,
- die Degressivität der unfallkausalen psychogenen Störung mit einer Abnahme des adäquat-kausalen Zusammenhangs einhergehe und die soziale Unfallversicherung für psychische Erkrankungen, die nach Ablauf der Adäquanz noch persistierten, nicht hafte.
b) Die SUVA stützt sich auf eine (grundsätzliche Ausführungen enthaltende) psychiatrische Beurteilung des Falles durch Dr. med. B. von der Abteilung Unfallmedizin der SUVA (Bericht vom 27. März 1996) sowie eine Stellungnahme des gleichen Arztes vom 11. Mai 1995 zum Thema "Rechtliche und psychiatrische Voraussetzungen des IE-Anspruches für eine psychogene Störung". Darin wird die Auffassung vertreten, dass sich ein Anspruch auf Integritätsentschädigung bei psychogenen Störungen mit dem Grundsatz der abstrakt-egalitären Bemessung des Integritätsschadens, wie er der gesetzlichen Regelung zugrunde liegt, nicht vereinbaren lasse, weil es bei den individuell erlebnisreaktiven psychogenen Störungen - im Gegensatz zu den psychoorganisch bedingten Störungen - an einem messbar geschädigten körperlichen Substrat fehle. Dazu komme, dass psychogene Störungen im Sinne individueller Erlebnisreaktionen nach der allgemeinen Lebens- und der psychiatrischen Erfahrung in der Regel degressiv verliefen, zumindest
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grundsätzlich reversibel seien, weshalb sie die Voraussetzung der Dauerhaftigkeit im Sinne eines voraussichtlich während des ganzen Lebens mindestens in gleichem Umfang bestehenden Integritätsschadens nicht erfüllten.
c) Die Ausführungen im Bericht des Dr. med. B. vom 27. März 1996 haben ihre Grundlage in dem von MURER/KIND/BINDER unter dem Titel "Integritätsentschädigung für psychogene Störungen nach Unfällen?" in: SZS 38/1994 S. 178 ff. veröffentlichten Aufsatz, welcher an die von den gleichen Autoren verfasste Arbeit "Kriterien zur Beurteilung des adäquaten Kausalzusammenhanges bei erlebnisreaktiven (psychogenen) Störungen nach Unfällen" (SZS 37/1993 S. 121 ff. u. 213 ff.) anknüpft. Darin wird zusammenfassend die Meinung vertreten, dass bei psychogenen Störungen nach Unfällen grundsätzlich kein Anspruch auf Integritätsentschädigung bestehe, weil in aller Regel kein voraussichtlich während des ganzen Lebens bzw. auf unabsehbare Zeit mindestens in gleichem Umfang bestehender Integritätsschaden vorliege bzw. ein solcher mit dem Beweisgrad der überwiegenden Wahrscheinlichkeit nicht prognostiziert werden könne. In Ausnahmefällen sei bei den chronifizierenden posttraumatischen Belastungsstörungen nach schwersten Katastrophen-Ereignissen ein Anspruch auf Integritätsentschädigung gegeben. In diesen seltenen Fällen sei eine Entschädigung von ungefähr 20, 35 oder 50% geschuldet (SZS 38/1994 S. 196).

3. Zu prüfen ist zunächst, wie es sich hinsichtlich der für einen generellen Ausschluss psychogener Störungen vom Anspruch auf Integritätsentschädigung geltend gemachten Überlegungen verhält.
a) Nach Art. 24 Abs. 1 UVG besteht Anspruch auf Integritätsentschädigung bei dauernden erheblichen Schädigungen der körperlichen oder geistigen Integrität. Der Begriff der geistigen Integrität (intégrité mentale, integrità mentale) ist in einem weiten Sinne aufzufassen und umfasst - wie der anspruchsbegründende Gesundheitsschaden bei der Invalidität gemäss Art. 18 UVG (vgl. hiezu MAURER, Schweizerisches Unfallversicherungsrecht, S. 350) - geistige, intellektuelle und psychische Aspekte (MAURER, a.a.O., S. 414; vgl. auch GILG/ZOLLINGER, Die Integritätsentschädigung, S. 37, wonach als Integritätsschaden grundsätzlich jede Beeinträchtigung der "physischen und psychischen Lebenselemente des Normalmenschen" gilt). Die Begriffe "geistig" und "psychisch" werden vom Gesetzgeber in der Sozialversicherung als gleichbedeutend betrachtet (vgl. etwa Art. 23 Abs. 1 und Art. 25 aMVG, wo von "psychischer Integrität" die Rede war, während Art. 48 Abs. 1 des MVG vom 19. Juni 1992 in Anlehnung an die obligatorische
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Unfallversicherung von geistiger Integrität spricht, ohne dass damit eine materielle Änderung verbunden war). Wo das Gesetz den Begriff der geistigen Gesundheit verwendet, schliesst dieser die psychische Gesundheit folglich mit ein (vgl. zu Art. 2 Abs. 1 und 2 KVG: MAURER, Krankenversicherungsrecht, S. 29). Aus dem Wortlaut von Art. 24 Abs. 1 UVG lässt sich daher nicht ableiten, dass der UVG-Versicherer lediglich organisch bedingte Beeinträchtigungen der psychischen Integrität zu entschädigen hat. Vielmehr ist davon auszugehen, dass ein Anspruch grundsätzlich bei allen psychischen Störungen gegeben sein kann, seien diese organisch, endogen oder reaktiv bedingt (vgl. i.d.S. auch MAURER, Schweizerisches Unfallversicherungsrecht, S. 414).
b) Aus den Materialien zum geltenden Unfallversicherungsrecht ergeben sich keine Anhaltspunkte dafür, dass nur organisch bedingte Beeinträchtigungen der psychischen Integrität zu entschädigen sind. Dem Protokoll der Subkommission zur Vorbereitung der UVV (Sitzung vom 27. Mai 1981) lässt sich zwar entnehmen, dass die SUVA bei der Aufzählung der versicherten Tatbestände in der Liste gemäss Anhang 3 zur UVV "äusserste Zurückhaltung" geübt hat und insbesondere die Psychoneurose und dauerndes Kopfweh nicht in die Liste aufnehmen wollte. Dies bedeutet jedoch nicht, dass alle andern, die Integrität beeinträchtigenden geistigen oder psychischen Defizite ohne organische Grundlage vom Anspruch ausgeschlossen werden sollten. Die Liste der Integritätsschäden erwähnt denn auch die mit 20% bewertete "Beeinträchtigung von psychischen Teilfunktionen wie Gedächtnis und Konzentrationsfähigkeit", ohne zu präzisieren, dass die Beeinträchtigung eine organische Grundlage aufzuweisen hat. Aus dem Umstand, dass solche Beeinträchtigungen neben dem ebenfalls genannten psychoorganischen Syndrom selbständig aufgeführt sind, ist vielmehr zu schliessen, dass eine Entschädigung auch bei ausschliesslich psychogener Ursache geschuldet ist.
c) Ebensowenig spricht das Prinzip der abstrakten und egalitären Bemessung der Integritätsschäden, wie es in der obligatorischen Unfallversicherung Geltung hat (BGE 113 V 221 Erw. 4b), für einen grundsätzlichen Ausschluss der rein psychogen bedingten Beeinträchtigungen der Integrität vom Anspruch auf Integritätsentschädigung. Wird von reinen Organ- oder Substanzverlusten (wie Verlust eines Armes oder des Gehörs) abgesehen, sind längst nicht alle körperlichen Integritätseinbussen objektiv quantifizierbar. Bei dem nach
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Anhang 3 zur UVV entschädigungspflichtigen psychoorganischen Syndrom kann Art und Umfang der Funktionsausfälle zwar neuropsychologisch festgestellt werden; der Schweregrad der mit der Hirnfunktionsstörung allenfalls verbundenen Wesensveränderung kann dagegen nur geschätzt werden (Tabelle 8 "Integritätsschäden bei psychischen Folgen von Hirnverletzungen" der von der SUVA herausgegebenen Richtlinien). Gerade dieses Beispiel zeigt, dass auch psychogene Beeinträchtigungen der Integrität einer abstrakt-egalitären Bemessung des Integritätsschadens zugänglich sind. Wie MURER/KIND/BINDER aufzeigen, sind schematische Bewertungen psychogener Störungen in Anlehnung an die Abstufungen bei den Hirnfunktionsstörungen durchaus möglich (SZS 38/1994 S. 195).

4. Der Anspruch auf Integritätsentschädigung hängt nach Art. 24 Abs. 1 UVG u.a. von einer dauernden Schädigung (atteinte durable, menomazione durevole) der Integrität ab. Was unter diesem Erfordernis zu verstehen ist, umschreibt Art. 36 Abs. 1 Satz 1 UVV in dem Sinne, dass ein Integritätsschaden als dauernd gilt, wenn er voraussichtlich während des ganzen Lebens mindestens in gleichem Umfang besteht.
a) MURER/KIND/BINDER werfen in der Arbeit "Integritätsentschädigung für psychogene Störungen nach Unfällen?" (SZS 38/1994 S. 178 ff., insbesondere S. 194) die Frage nach der Gesetzmässigkeit dieser Bestimmung auf, soweit damit der Begriff "dauernd" in Art. 24 Abs. 1 UVG mit "voraussichtlich während des ganzen Lebens" gleichgesetzt wird; Ihrer Auffassung nach ist "dauernd" im Sinne von "auf unabsehbare Zeit" zu verstehen. In der Vernehmlassung zur Verwaltungsgerichtsbeschwerde wirft das BSV die gleiche Frage auf mit der Feststellung, wenn "dauernd" nicht notwendigerweise mit "lebenslänglich" gleichzustellen sei, bedeute dies, dass eine Prognose über den voraussichtlich "auf unabsehbare Zeit" andauernden Verlauf psychogener Störungen genüge, um das Erfordernis der Dauerhaftigkeit im Sinne von Art. 24 Abs. 1 UVG zu erfüllen (so auch MURER/KIND/BINDER, in: SZS 38/1994 S. 194).
b) Das Gesetz ist in erster Linie nach seinem Wortlaut auszulegen. Ist der Text nicht ganz klar und sind verschiedene Auslegungen möglich, so muss nach seiner wahren Tragweite gesucht werden unter Berücksichtigung aller Auslegungselemente, namentlich des Zwecks, des Sinnes und der dem Text zugrunde liegenden Wertung. Wichtig ist ebenfalls der Sinn, der einer Norm im Kontext zukommt (BGE 122 V 384 Erw. 4a mit Hinweisen).
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aa) Der Begriff "dauernd" in Art. 24 Abs. 1 UVG ist ein unbestimmter Rechtsbegriff, der verschiedene Auslegungen zulässt. "Dauernd" steht im Gegensatz zu "vorübergehend", doch sagt dies nichts darüber aus, wie lange ein Zustand bestehen muss, um als "dauernd" qualifiziert werden zu können. Vom sprachlichen Wortsinn her kann mit "dauernd" etwas Ständiges oder auch nur etwas auf längere Zeit in gleichbleibender Weise Vorhandenes bezeichnet werden (vgl. BROCKHAUS/WAHRIG, Deutsches Wörterbuch, und Duden, Das grosse Wörterbuch der deutschen Sprache, unter dem Stichwort "dauernd").
Wo der Gesetzgeber den Begriff "dauernd" verwendet, ist er unter Berücksichtigung des Normzwecks sowie von Sinn und Zweck des jeweiligen Gesetzes auszulegen. Diese bereichsspezifische Auslegung zeigt sich etwa am Beispiel von Art. 12 Abs. 1 IVG, der für den Anspruch auf medizinische Eingliederungsmassnahmen u.a. eine dauernde Verbesserung der Erwerbsfähigkeit verlangt. Dauernd in diesem Sinne ist der zu erwartende Eingliederungserfolg, wenn die konkrete Aktivitätserwartung gegenüber dem statistischen Durchschnitt nicht wesentlich herabgesetzt ist. Bei jüngeren Versicherten ist er voraussichtlich dauernd, wenn er wahrscheinlich während eines bedeutenden Teils der Aktivitätserwartung erhalten bleiben wird (BGE 104 V 83 Erw. 3b, BGE 101 V 51 Erw. 3b). Art. 29 Abs. 1 lit. a IVG dagegen verwendet für einen spezifischen Dauertatbestand den Begriff "bleibend", was nach Art. 29 IVV bedeutet, dass aller Wahrscheinlichkeit nach feststeht, der Gesundheitszustand des Versicherten werde sich künftig weder verbessern noch verschlechtern (BGE 111 V 22 ff. Erw. 3).
Wenn Art. 36 Abs. 1 UVV den Anspruch auf Integritätsentschädigung u.a. davon abhängig macht, dass der Integritätsschaden voraussichtlich während des ganzen Lebens (mindestens in gleichem Umfang) besteht, so verstösst dies weder gegen den Wortlaut noch gegen Sinn und Zweck des Gesetzes.
bb) Was die Materialien anbelangt, ist festzuhalten, dass das Anspruchserfordernis der Dauerhaftigkeit des Integritätsschadens in der Botschaft zum UVG vom 18. August 1976 (BBl 1976 III 141 ff., insbesondere 193) nicht näher umschrieben wird. In der parlamentarischen Beratung ist Art. 24 des Gesetzesentwurfs praktisch diskussionslos angenommen worden. Immerhin betonte Bundesrat Hürlimann das Erfordernis einer dauernden erheblichen Schädigung mit der Feststellung, dass Wunden, die wieder ausheilten, nicht darunter fielen; wegleitend werde die zurückhaltende
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Praxis der Zivilgerichte beim Anspruch auf Genugtuung sein (Komm. NR, Protokoll der Sitzung vom 2./3. November 1977, S. 38).
Art. 33 des Vorentwurfs vom 20. März 1980 zur UVV enthielt keine Bestimmung zur vorausgesetzten Dauerhaftigkeit des Integritätsschadens und übertrug die Umschreibung der anspruchsbegründenden Beeinträchtigungen dem Eidg. Departement des Innern. An der Sitzung der UVV-Kommission vom 13./14. August 1980 machte die SUVA den Vorschlag, erhebliche Substanz- und Organverluste sowie erhebliche Funktionseinschränkungen und dauernde erhebliche Schädigungen der geistigen Integrität zu entschädigen, wobei das Departement eine nicht abschliessende Liste der wichtigsten Integritätsschäden erstellen sollte (Protokoll S. 14). Anlässlich der Sitzung vom 29./30. April/5. Mai 1981 schlug die SUVA einen neuen Abs. 1 zur Verordnungsbestimmung vor, welcher inhaltlich weitgehend dem in der Folge beschlossenen Art. 36 Abs. 1 UVV entsprach. Die Bestimmung wurde damit begründet, dass es sich bei der Integritätsentschädigung um ein auch für die Gerichte neues Institut handle, weshalb die vorausgesetzte Dauer und Erheblichkeit des Integritätsschadens in der Verordnung näher zu umschreiben seien. Die Kommission ergänzte den Ausdruck "in gleichem Umfang" mit "mindestens" und stimmte im übrigen dem Vorschlag der SUVA zu (Protokoll S. 54-56).
Aus den Materialien ergeben sich demnach keine eindeutigen Schlüsse in bezug auf die Auslegung der in Art. 24 Abs. 1 UVG vorausgesetzten Dauerhaftigkeit des Integritätsschadens. Es bestehen indessen Anhaltspunkte dafür, dass der Gesetzgeber die Dauerhaftigkeit in einem strengen Sinne verstanden haben wollte.
cc) Im Hinblick darauf, dass die Dauerhaftigkeit des Integritätsschadens nach Wortlaut sowie Sinn und Zweck von Art. 24 Abs. 1 UVG ein für den Anspruch auf Integritätsentschädigung zentrales Erfordernis darstellt und die Materialien Anhaltspunkte dafür enthalten, dass der Gesetzgeber die Voraussetzung der Dauerhaftigkeit des Integritätsschadens in einem restriktiven Sinne verstanden haben wollte, verstösst es nicht gegen das Gesetz, wenn der Verordnungsgeber die vorausgesetzte Dauerhaftigkeit des Integritätsschadens im Sinne von Lebenslänglichkeit verstanden hat. Zwar stellt das Kriterium eines "voraussichtlich während des ganzen Lebens mindestens in gleichem Umfang" bestehenden Schadens für Beeinträchtigungen der psychischen Integrität eine wesentliche Schranke dar, weil in diesem Bereich die Dauerhaftigkeit bis ans Lebensende meist nicht mit dem
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verlangten Beweisgrad der überwiegenden Wahrscheinlichkeit prognostizierbar ist. Dies genügt jedoch nicht, um die Verordnungsbestimmung, welche den von Art. 24 Abs. 1 UVG gesetzten Rahmen nicht überschreitet, als gesetzwidrig zu erachten. In der Literatur ist, soweit ersichtlich, denn auch nie in Frage gestellt worden, dass der Ausdruck "dauernd" in Art. 24 Abs. 1 UVG im Sinne von Art. 36 Abs. 1 UVV ("voraussichtlich während des ganzen Lebens mindestens in gleichem Umfang") zu verstehen ist (vgl. MAURER, Schweizerisches Unfallversicherungsrecht, S. 414 f.; derselbe, Bundessozialversicherungsrecht, S. 380; GHÉLEW/RAMELET/RITTER, Commentaire de la loi sur l'assurance-accidents [LAA], S. 121; GILG/ZOLLINGER, a.a.O., S. 39 f.).
c) Bei diesem Ergebnis erübrigen sich Ausführungen zu der von MURER/KIND/BINDER (SZS 38/1994 S. 194) vertretenen Auffassung, wonach der Begriff "dauernd" in Art. 24 Abs. 1 UVG im Sinne von "auf unabsehbare Zeit" zu verstehen ist. Immerhin sei festgestellt, dass auch dieser Ausdruck auslegungsbedürftig ist und der Vorschlag darauf hinausläuft, einen unbestimmten Rechtsbegriff durch einen andern zu ersetzen. Ausgehend vom allgemeinen Wortsinn (vgl. hiezu BROCKHAUS/WAHRIG, a.a.O., und DUDEN, a.a.O., unter dem Stichwort "unabsehbar") kann der Begriff im vorliegenden Zusammenhang entweder bedeuten, dass nicht damit zu rechnen ist, dass der Schaden dereinst wegfallen wird, oder aber, dass eine verlässliche Prognose hinsichtlich des in näherer oder fernerer Zukunft allenfalls bestehenden Schadens nicht möglich ist. Je nach dem Wortsinn, welcher dem Ausdruck "auf unabsehbare Zeit" beigemessen wird, kann er dem Begriff "dauernd" im Sinne von Art. 24 Abs. 1 UVG gleichgestellt werden oder nicht.

5. Fraglich und zu prüfen ist des weitern, ob der von der SUVA übernommenen Auffassung von MURER/KIND/BINDER gefolgt werden kann, wonach eine Integritätsentschädigung bei psychogenen Störungen nur zugesprochen werden kann, wenn das Unfallereignis als aussergewöhnlich schwer zu qualifizieren ist und eine chronifizierende posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) diagnostiziert wurde.
a) Der Auffassung von MURER/KIND/BINDER liegt das Postulat der Degressivität psychogener Unfallfolgen zugrunde, wie es u.a. von Kind in "Rechtsfragen der medizinischen Begutachtung in der Sozialversicherung", St. Gallen 1997, S. 49 ff., insbesondere S. 62 ff., anhand der Internationalen Klassifikation psychischer Störungen (ICD-10 [International Classification of Diseases, 10. Aufl.], Kapitel V) erläutert wird.
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Danach sind akute psychische Störungen nach einem Trauma als akute Belastungsreaktion zu erfassen, sofern ein unmittelbarer und klarer zeitlicher Zusammenhang zwischen der traumatischen Situation und dem Beginn der Symptome besteht. Die meist wechselnde Symptomatik (Angst, Depression, Ärger, Verzweiflung u.a.) klingt in der Regel rasch ab. Ist dies ausnahmsweise nicht der Fall, liegt eine Anpassungsstörung vor, bei der die individuelle Disposition eine wesentliche Rolle spielt. Klingen die Symptome längerfristig (ein bis zwei Jahre) nicht ab oder treten gar neue psychogene Symptome auf, kommt es zu einer psychogenen Fixierung bzw. seelischen Entwicklung, bei der zunehmend Persönlichkeitsfaktoren ausschlaggebend sind und nicht mehr das traumatische Ereignis.
Nach KIND bildet der degressive Verlauf psychogener Störungen nach Unfällen, wie sie das zivile Leben mit sich bringt, die Regel, sofern nicht unfallfremde Motive Anlass zu einer Chronifizierung geben. Schwerste psychische Traumatisierungen (durch Kriegsereignisse, Naturkatastrophen, schwerste Verkehrsunfälle, Terroranschläge, Vergewaltigungen u.a.) könnten jedoch dauerhafte psychische Veränderungen bewirken. Diese von der ICD-10 als Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) bezeichneten Störungen setzten ein Unfallereignis von aussergewöhnlicher Schwere voraus, welches meist über das hinausgehe, was das Eidg. Versicherungsgericht üblicherweise als schweren Unfall bezeichne.
b) Ob eine Beeinträchtigung der psychischen Integrität dauernden Charakter hat, ist in erster Linie eine Tatfrage, worüber die Verwaltung bzw. im Streitfall der Richter im Rahmen der ihm obliegenden Beweiswürdigung nach dem im Sozialversicherungsrecht üblichen Beweisgrad der überwiegenden Wahrscheinlichkeit zu befinden hat. Wie für die Feststellung natürlicher Kausalzusammenhänge im Bereich der Medizin sind Verwaltung bzw. Richter auch für die Beurteilung der voraussichtlichen Dauerhaftigkeit von Integritätsschäden bisweilen auf die Angaben ärztlicher Experten angewiesen (vgl. BGE 118 V 290 Erw. 1b). Fraglich ist, inwieweit bei der Prognose im Einzelfall generelle, nach herrschender Lehre allgemeingültige Erkenntnisse der Psychiatrie, wie sie in den psychiatrisch-diagnostischen Klassifikationssystemen ihren Niederschlag gefunden haben, als massgebend zu betrachten sind.
aa) Im Jahre 1995 hat die Schweizerische Gesellschaft für Psychiatrie Kapitel V (F) der von der Weltgesundheitsorganisation unter dem Titel "ICD-10" (International Classification of Diseases, 10. Aufl.)
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herausgegebenen internationalen Klassifikation der Krankheiten für die Diagnose psychischer Störungen zur Anwendung empfohlen (vgl. KIND, a.a.O., S. 62). Nach der zweiten Auflage der unter dem Titel "Internationale Klassifikation psychischer Störungen, ICD-10 Kapitel V (F), Klinisch-diagnostische Richtlinien" erschienenen deutschen Fassung dieses Werks werden psychogene Störungen nach Unfällen im Rahmen der diagnostischen Kategorie F4 "Neurotische, Belastungs- und somatoforme Störungen" der Unterkategorie F43 "Reaktionen auf schwere Belastungen und Anpassungsstörungen" zugeordnet (wobei der Begriff "psychogen" als Bezeichnung diagnostischer Kategorien nicht mehr verwendet wird; vgl. ICD-10, Einleitung S. 23). Zur Unterkategorie F43 gehören die akute Belastungsreaktion (F43.0), die posttraumatische Belastungsstörung (F43.1), die Anpassungsstörungen (F43.2) sowie sonstige oder nicht näher bezeichnete Reaktionen auf schwere Belastungen (F43.8 u. 9).
Laut ICD-10 ist die akute Belastungsreaktion (F43.0) eine "vorübergehende Störung von beträchtlichem Schweregrad, die sich bei einem psychisch nicht manifest gestörten Menschen als Reaktion auf eine aussergewöhnliche körperliche oder seelische Belastung entwickelt und im allgemeinen innerhalb von Stunden oder Tagen abklingt". Sie kann in eine posttraumatische Belastungsstörung (F43.1) übergehen, die umschrieben wird als "verzögerte oder protrahierte Reaktion auf ein belastendes Ereignis oder eine Situation aussergewöhnlicher Bedrohung oder katastrophenähnlichen Ausmasses (kurz oder lang anhaltend), die bei fast jedem eine tiefe Verzweiflung hervorrufen würde". Zu den Ereignissen gehören u.a. schwere Unfälle. Die Störung folgt dem Trauma mit einer Latenz, die Wochen bis Monate dauern kann (doch selten mehr als sechs Monate nach dem Trauma). Der Verlauf ist wechselhaft, in der Mehrzahl der Fälle kann jedoch eine Heilung erwartet werden. Bei wenigen Patienten nimmt die Störung über viele Jahre einen chronischen Verlauf und geht dann in eine dauernde Persönlichkeitsstörung über (F62.0 "andauernde Persönlichkeitsänderung nach Extrembelastung"). Anpassungsstörungen (F43.2) sind "Zustände von subjektivem Leiden und emotionaler Beeinträchtigung, die soziale Funktionen und Leistungen behindern und während des Anpassungsprozesses nach einer entscheidenden Lebensveränderung, nach einem belastenden Lebensereignis oder auch nach schwerer körperlicher Krankheit auftreten". Die individuelle Disposition oder Vulnerabilität spielt beim möglichen Auftreten und bei der
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Form der Anpassungsstörung eine grössere Rolle als bei den andern Krankheitsbildern von F43. Es ist aber dennoch davon auszugehen, dass das Krankheitsbild ohne die Belastung nicht entstanden wäre. Die Störung beginnt im allgemeinen innerhalb eines Monats nach dem belastenden Ereignis oder der Lebensveränderung. Die Symptome halten meist nicht länger als sechs Monate an, ausser bei einer längeren depressiven Reaktion (F.43.21).
bb) Das Eidg. Versicherungsgericht hatte sich bereits wiederholt mit der Bedeutung der ICD-10 für die Beurteilung sozialversicherungsrechtlicher Fragen zu befassen. In dem in RKUV 1997 Nr. K 984 S. 119 teilweise publizierten Urteil X vom 24. Januar 1997 hat das Gericht seine Praxis hinsichtlich der Vorbehaltsfähigkeit von Depressionen in der Krankenversicherung aufgrund neuerer psychiatrischer Erkenntnisse, wie sie in der ICD-10 Ausdruck finden, geändert. In einem nicht veröffentlichten Urteil B. vom 2. Mai 1997, wo es u.a. um die Adäquanz psychischer Unfallfolgen ging, hat das Gericht zu dem von der SUVA erhobenen Einwand, wonach sich der vom kantonalen Richter bestellte Experte nicht an die Richtlinien der ICD-10 gehalten habe, festgestellt, dass dies an der Schlüssigkeit der gutachtlichen Beurteilung nichts zu ändern vermöge. Selbst wenn diese Leitlinien, wie deren Anerkennung durch die Schweizerische Gesellschaft für Psychiatrie und die Schweizerische Gesellschaft der psychiatrischen Chefärzte nahelege, in der Schweiz allgemein gebräuchlich seien, bestünden doch international auch andere psychiatrisch-diagnostische Klassifikationssysteme wie etwa das DSM-III-R (Diagnostisches und Statistisches Manual Psychischer Störungen), welches beispielsweise MURER/KIND/BINDER (SZS 37/1993 S. 219) verwendet hätten. Zwar förderten einheitliche Kriterien die gegenseitige Verständigung, doch bestehe - entgegen der SUVA - keine Gefahr, sich ausserhalb der Schulpsychiatrie zu begeben, solange andere anerkannte Richtlinien angewendet würden. In einem psychiatrischen Gerichtsgutachten gehe es darum, juristischen Fachpersonen ein psychisches Leiden oder eine psychische Störung und ihre Auswirkungen schlüssig darzulegen, wozu eine bestimmte Diagnose zwar ein notwendiges, aber nicht ein hinreichendes Mittel sei. Vielmehr seien regelmässig weitere erklärende Ausführungen notwendig. Werde somit eine Diagnose nicht nach der ICD-10, sondern nach einem anderen anerkannten Klassifikationssystem verfasst, sei dagegen aus juristischer Sicht nichts einzuwenden, solange die einzelnen Diagnosen aus den gesamten Erläuterungen inhaltlich verständlich würden und die Darlegung
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der medizinischen Zusammenhänge für die zu beurteilende Frage schlüssig sei.
cc) Nach diesen Erwägungen hat das Eidg. Versicherungsgericht nicht darüber zu befinden, ob psychogene Störungen nach Unfällen ausschliesslich nach den klinisch-diagnostischen Leitlinien der ICD-10 zu beurteilen sind; ebensowenig ist darüber zu entscheiden, ob nur die in der Unterkategorie F43.1 erwähnten posttraumatischen Belastungsstörungen (PTBS) dauernden Charakter aufweisen und damit entschädigungsbegründend sind, wie MURER/KIND/BINDER annehmen. Zu einem entsprechenden Entscheid besteht um so weniger Anlass, als die psychiatrische Literatur bezüglich der Entstehungsbedingungen, des Verlaufs und des Einflusses vorbestehender Persönlichkeitsfaktoren bei posttraumatischen Belastungsstörungen kontrovers ist (vgl. KIND, a.a.O., S. 64). Auch ist die psychiatrische Fachmeinung, wonach psychogene Störungen dem Grundsatz nach immer reversibel sind, nicht unbestritten geblieben. In einem in SZS 41/1997 S. 283 ff. erschienenen Aufsatz "Zum Phänomen der Latenz in der Psychotraumatologie, unter spezieller Berücksichtigung des Unfalltraumas" folgern HAEFLIGER/SCHNYDER, dass bei Vorliegen einer Latenz psychischer Symptome nach einem Unfallereignis verallgemeinernde Aussagen zu Schwere und dem Charakter des Traumas sowie der natürlichen Kausalität psychischer Symptome nicht gemacht werden könnten. Für die psychiatrische Begutachtung von Unfallpatienten mit persistierenden psychischen Symptomen nach einem Unfallereignis sei vielmehr zu verlangen, dass alle beobachteten Phänomene individuell zu untersuchen und entsprechend zu beurteilen seien (S. 293 f.; vgl. auch die Replik von Kind in SZS 41/1997 S. 296 ff. und die Duplik von HAEFLIGER/SCHNYDER in SZS 41/1997 S. 301 ff.).
In der grundsätzlichen Stellungnahme "Rechtliche und psychiatrische Voraussetzungen des IE-Anspruches für eine psychogene Störung" vom 11. Mai 1995 räumt auch Binder ein, dass sich die Abgrenzungsprobleme beim Anspruch auf Integritätsentschädigung bei diesen Störungen aus medizinisch-psychiatrischer Sicht nicht lösen lassen. Es besteht daher auch kein Anlass zur Einholung eines Grundsatzgutachtens, von dem kaum neue allgemeingültige Erkenntnisse über den Verlauf psychogener Störungen nach Unfällen, insbesondere unter dem hier interessierenden Blickwinkel der Dauerhaftigkeit der Beeinträchtigung, zu erwarten wären. Die Beurteilung der Dauerhaftigkeit als Rechtsbegriff bleibt, auch unter Berücksichtigung des in Erw. 5b hievor Gesagten, letztlich eine Rechtsfrage, deren
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Beantwortung im Einzelfall zu erfolgen hat. Dabei ist in medizinischer Hinsicht davon auszugehen, dass gemäss herrschender psychiatrischer Lehre psychogene Störungen in der Regel nicht lebenslang dauern, sondern degressiv verlaufen und daher die für den Anspruch auf Integritätsentschädigung vorausgesetzte Dauerhaftigkeit des Integritätsschadens nicht erfüllen. Ein Anspruch kann dann gegeben sein, wenn medizinisch-psychiatrisch eine eindeutige individuelle Langzeitprognose gestellt werden kann, welche für das ganze Leben eine Änderung durch Heilung oder Besserung des Schadens praktisch ausschliesst.
c) aa) Aus medizinisch-psychiatrischer Sicht besteht nach Murer/Kind/Binder kein zwingender Zusammenhang zwischen der Schwere des Unfallereignisses und den psychogenen Störungen, weil die psychogenen Unfallfolgen auf dem psychischen Stress beruhen, der durch das Unfallerlebnis bewirkt wird und die individuellen Reaktionen sehr unterschiedlich sind. Im allgemeinen werde aber ein schwerer Unfall mit gravierenden Folgen eher zu einem erheblichen psychischen Stress und damit zu psychogenen Unfallfolgen führen als ein leichter oder ein Bagatellunfall. Die Erfahrung zeige, dass schwere Unfallereignisse vom Ausmass eigentlicher Katastrophen bei vielen Menschen kürzere oder längere psychische Reaktionen auslösten, auch wenn der Betroffene keine schweren körperlichen Verletzungen erlitten habe (MURER/KIND/BINDER, Kriterien zur Beurteilung des adäquaten Kausalzusammenhanges, in: SZS 37/1993 S. 131 f.).
Im Einklang mit dieser letzten psychiatrischen Feststellung knüpft die Rechtsprechung bei der Beurteilung der Adäquanz psychischer Unfallfolgen nicht an das Unfallerlebnis, sondern an das Unfallereignis selbst an. Denn die Frage, ob sich das Unfallereignis und eine psychisch bedingte Erwerbsunfähigkeit im Sinne eines adäquaten Verhältnisses von Ursache und Wirkung entsprechen, ist u.a. im Hinblick auf die Gebote der Rechtssicherheit und der rechtsgleichen Behandlung der Versicherten aufgrund einer objektivierten Betrachtungsweise zu prüfen (BGE 115 V 138 f. Erw. 6 mit Hinweisen).
bb) Im Lichte dieser Rechtsprechung und unter Berücksichtigung des Umstandes, dass nach herrschender psychiatrischer Lehrmeinung nur Unfallereignisse von aussergewöhnlicher Schwere zu dauerhaften Beeinträchtigungen der Integrität führen, erweist es sich als sachgerecht, bei der Beurteilung der Dauerhaftigkeit psychogener Unfallfolgen ebenfalls an das Unfallereignis anzuknüpfen und von der Praxis auszugehen, wie sie
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für die Beurteilung der Adäquanz psychischer Unfallfolgen Geltung hat (BGE 115 V 133). Danach wird die Adäquanz bei banalen bzw. leichten Unfällen in der Regel ohne weiteres verneint und bei schweren Unfällen in der Regel bejaht; im mittleren Bereich bedarf es besonderer, objektiv erfassbarer Umstände, damit die Adäquanz bejaht werden kann (BGE 115 V 138 ff. Erw. 6). In Anlehnung an diese Praxis und die psychiatrischen Lehrmeinungen ist der Anspruch auf Integritätsentschädigung bei banalen bzw. leichten Unfällen regelmässig zu verneinen, selbst wenn die Adäquanz der Unfallfolgen ausnahmsweise bejaht wird. Auch bei Unfällen im mittleren Bereich lässt sich die Dauerhaftigkeit des Integritätsschadens in der Regel verneinen, ohne dass in jedem Einzelfall eine nähere Abklärung von Art und Dauerhaftigkeit des psychischen Schadens vorzunehmen wäre. Etwas anderes gilt nur ausnahmsweise, namentlich im Grenzbereich zu den schweren Unfällen, wenn aufgrund der Akten erhebliche Anhaltspunkte für eine besonders schwerwiegende Beeinträchtigung der psychischen Integrität bestehen, die einer Besserung nicht mehr zugänglich zu sein scheint. Solche Indizien können in den weiteren unfallbezogenen Kriterien erblickt werden, wie sie bei der Adäquanzbeurteilung zu berücksichtigen sind (BGE 115 V 140 f. Erw. 6c), sofern sie besonders ausgeprägt und gehäuft gegeben sind und die Annahme nahelegen, sie könnten als Stressoren eine lebenslang chronifizierende Auswirkung begünstigt haben. Bei schweren Unfällen schliesslich ist die Dauerhaftigkeit des Integritätsschadens stets zu prüfen und nötigenfalls durch ein psychiatrisches Gutachten abzuklären, sofern sie nicht bereits aufgrund der Akten als eindeutig erscheint.

6. Bezogen auf den vorliegenden Fall ergibt sich hieraus folgendes:
a) Der Beschwerdegegner wurde am 7. Dezember 1988 Opfer einer Motorfahrzeug-Kollision, bei der er sich ein Distorsions- und Abknicktrauma der Halswirbelsäule zuzog. Es resultierten die klassischen Symptome nach einem Schleudertrauma der Halswirbelsäule, wobei ein traumatisches Zervikalsyndrom ohne Hinweise auf radikuläre sensomotorische Ausfälle im Bereich der oberen Extremitäten und ohne Frakturen diagnostiziert wurde (Berichte der Neurologischen Universitätsklinik X vom 1. Februar 1989 und 1. Februar 1990). Der Beschwerdegegner nahm die Arbeit 40 Tage nach dem Unfall zu 50% und später zu 100% wieder auf und war bis zur Kündigung anfangs 1991 rund zwei Jahre voll arbeitsfähig. Untersuchungen in der
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Psychiatrischen Poliklinik Y vom 11. und 28. Februar 1991 zeigten eine depressive Entwicklung (Bericht vom 6. März 1991). In einem Gutachten vom 23. Dezember 1993 diagnostizierte der Neurologe Dr. med. S. nebst den klassischen Schleudertrauma-Beschwerden eine schwere depressive Entwicklung, welche zweifelsfrei durch den Unfall ausgelöst worden sei. Frühere unfallfremde Psychotraumata seien in wesentlichem Masse für die Schwere der sekundären psychischen Dekompensation verantwortlich. Der Versicherte sei zweifellos behandlungsbedürftig, sowohl hinsichtlich des Schmerzsyndroms als auch im Hinblick auf die depressive Entwicklung. Die Prognose sei ungünstig, doch sei nicht ausgeschlossen, dass bei günstigem Verlauf der eingeleiteten Psychotherapie und der vorgeschlagenen antimigränösen Basisbehandlung mittelfristig doch noch eine Wiedereingliederung in den Arbeitsprozess möglich sei.
b) Die SUVA hat das Ereignis vom 7. Dezember 1988 zu Recht den mittelschweren Unfällen zugeordnet und unter Berücksichtigung der nach der Rechtsprechung massgebenden Zusatzkriterien die Adäquanz für die psychogene Störung bejaht und eine Invalidenrente aufgrund einer Erwerbsunfähigkeit von 100% zugesprochen, nebst einer Integritätsentschädigung von 25% für somatische Schäden. Weil der Beschwerdegegner keinen schweren Unfall im Rechtssinn erlitten hat, ist nach dem Gesagten vom Regelfall auszugehen, wonach die Dauerhaftigkeit des psychischen Integritätsschadens ohne Weiterungen zu verneinen ist. Ein Ausnahmefall liegt nicht vor, indem weder ein Ereignis im Grenzbereich zu den schweren Unfällen gegeben ist noch erhebliche Anhaltspunkte für eine besonders schwerwiegende, einer Besserung nicht zugängliche Beeinträchtigung der psychischen Integrität bestehen. Wenn die Vorinstanz aufgrund der Ausführungen von Dr. med. S., wonach die Prognose ungünstig ist, zum Schluss gelangt, dass eine dauernde Beeinträchtigung der psychischen Integrität vorliegt, so vermag dies nicht zu überzeugen. Wie das BSV zu Recht bemerkt, lässt die Feststellung, wonach bei günstigem Verlauf der Therapie mittelfristig doch noch eine Wiedereingliederung möglich sei, vielmehr darauf schliessen, dass eine Besserung oder Heilung der psychischen Störung durchaus möglich ist. Der ärztlichen Feststellung zur Prognose kann für die Beurteilung der Dauerhaftigkeit des Integritätsschadens um so weniger Bedeutung beigemessen werden, als sie offensichtlich unter Berücksichtigung des gesamten Gesundheitsschadens, d.h. auch der organischen Beeinträchtigungen erfolgte.
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c) Unter den gegebenen Umständen besteht kein Anlass zur Anordnung einer ergänzenden psychiatrischen Abklärung zur Frage nach der Dauerhaftigkeit der psychogenen Störung. Entgegen dem Antrag des Beschwerdegegners erübrigen sich ergänzende Abklärungen auch hinsichtlich einer allfälligen organischen Ursache der bestehenden psychischen Störung, nachdem eine solche Ursache von keinem der mit dem Fall befassten Ärzte in Betracht gezogen wurde. In Aufhebung des vorinstanzlichen Entscheids ist die Verwaltungsgerichtsbeschwerde der SUVA daher vollumfänglich gutzuheissen.

7. (Gewährung der unentgeltlichen Verbeiständung)

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Sachverhalt

Erwägungen 1 2 3 4 5 6 7

Referenzen

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Artikel: Art. 24 Abs. 1 UVG, Art. 36 Abs. 1 UVV, Art. 36 UVV, Art. 25 Abs. 1 UVG mehr...