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Urteilskopf

125 III 312


54. Auszug aus dem Urteil der I. Zivilabteilung vom 11. Mai 1999 i.S. Beretta gegen Zürich Versicherungs-Gesellschaft (Berufung)

Regeste

Art. 42 OR. Kapitalisierter Schadenersatz für künftigen Erwerbsausfall; Kapitalisierungszinsfuss.
Entwicklung der Rechtsprechung zum Kapitalisierungszinsfuss (E. 2).
Stellungnahmen in der Lehre (E. 3).
Wirtschaftliches Umfeld (E. 4).
Massgeblichkeit des durchschnittlichen Realertrags (E. 5).
Zumutbare Anlagen (E. 6).
Festhalten am Zinsfuss von 3,5% (Bestätigung der Rechtsprechung) (E. 7).

Erwägungen ab Seite 313

BGE 125 III 312 S. 313
Aus den Erwägungen:

1. Im vorliegenden Berufungsverfahren ist einzig noch die Frage streitig, mit welchem Zinssatz der Schaden aus dem künftigen Verdienstausfall des Klägers zu kapitalisieren ist; in allen übrigen Punkten ist das Urteil des Kantonsgerichts unangefochten geblieben. Die Vorinstanz hat auf den Kapitalisierungszinsfuss von 3,5% abgestellt, den das Bundesgericht seit 1946 in konstanter Praxis anwendet. Der Kläger strebt eine Änderung der Rechtsprechung an. Er schlägt vor, den Kapitalisierungszinsfuss auf 1,5%, eventuell auf 2%, subeventuell auf 2,5% zu senken. Die Beklagte steht demgegenüber auf dem Standpunkt, der Satz von 3,5% sei nach wie vor angemessen, weshalb sich eine Praxisänderung nicht rechtfertige.

2. Die bundesgerichtliche Rechtsprechung zur Kapitalisierung von künftigem Erwerbsausfall reicht weit zurück. Im ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhundert berechnete das Bundesgericht den kapitalisierten Schadenersatz unter Anwendung eines Zinssatzes von 3,5% nach den Barwerttafeln, die Charles Soldan im Jahre 1895 vorgelegt hatte (La responsabilité des fabricants et autres chefs d'exploitations industrielles, Lausanne 1895, S. 87 ff., Anhänge II-IV, insbesondere Anhang III: «Table suisse de mortalité pour le sexe masculin»). Vom so ermittelten Betrag nahm es allerdings mit Rücksicht auf die Vorteile, welche die Kapitalabfindung für den Geschädigten hat, im Allgemeinen einen Abzug vor, den es im Regelfall auf 20%, zuweilen aber auch etwas höher oder niedriger ansetzte (vgl. BGE 25 II 105 E. 3 S. 112 ff.; BGE 31 II 405 E. 3 S. 410; BGE 31 II 623 E. 6 S. 630 ff.). In den Jahren 1917 und 1918 erschienen die Barwerttafeln von PAUL PICCARD (Haftpflichtpraxis und Soziale Unfallversicherung, Zürich 1917, S. 146 ff.; Barwerttafeln zur Kapitalisierung von Unfall- und anderen Renten, Bern 1918, S. 9 ff.). Sie enthielten die Zahlen für die Kapitalisierung von auf Mortalität gestellten Annuitäten mit Zinssätzen von 3,5%, 4%, 4,5% oder 5%. Unter Hinweis auf die Ausführungen PICCARDS (a.a.O., Haftpflichtpraxis, S. 124 ff.) entschied sich das Bundesgericht im Jahre 1919 für einen Kapitalisierungszinsfuss von 4,5% (BGE 45 II 215 ff.). Im Gegenzug gab es die Praxis pauschaler Abzüge für die Vorteile der Kapitalabfindung auf (BGE 46 II 50 S. 53; vgl. auch BGE 50 II 190 E. 3 S. 195). In einem Urteil aus dem Jahre 1927 schloss es allerdings angesichts der damaligen Geldmarktverhältnisse solche Abzüge auch bei mit 4,5% kapitalisierten Abfindungen nicht mehr zum Vornherein aus (BGE 53 II 50 E. 4 S. 53). In der Folge nahm es vereinzelt wiederum Kürzungen von 10% vor (BGE 54 II 294 E. 4 S. 300,
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367 E. 4a S. 371); in anderen Fällen verzichtete es weiterhin darauf (BGE 53 II 419 E. 3d S. 429; BGE 56 II 116 E. 5 S. 126). Anfangs der dreissiger Jahre senkte das Bundesgericht den Kapitalisierungszinsfuss auf 4% (PICCARD, A propos du taux de capitalisation, SJZ 29/1932/1933, S. 329 ff., insbes. 331 f.; vgl. auch BGE 60 II 38 E. 4 S. 48). Zu einer weiteren Senkung des Zinssatzes auf 3,5% oder 3% vermochte es sich 1939 noch nicht zu entschliessen (BGE 65 II 250 E. 3b S. 256 f.). Im Jahre 1946 kehrte es zum ursprünglichen Kapitalisierungszinsfuss von 3,5% zurück (BGE 72 II 132 E. 4c S. 134), an dem es seither in ständiger Rechtsprechung festhält. Deren Änderung lehnte es mehrfach ab (so in BGE 96 II 446 f., in BGE 113 II 323 E. 3a S. 332 und in BGE 117 II 609 E. 12b/bb S. 628 f.; siehe auch JdT 1958 I 450 Nr. 73). In einem amtlich nicht publizierten Urteil vom 13. Dezember 1994 (Pra 84/1995, Nr. 172 S. 548 ff.; JdT 1996 I 728) verwarf es die in der Urteilsberatung vorgeschlagene Senkung des Zinssatzes auf 2,5%, zumal sie sich angesichts des Alters der Geschädigten auf die Höhe des Gesamtschadens nicht wesentlich ausgewirkt hätte, so dass sich im zu beurteilenden Fall eine Praxisänderung nicht aufdrängte (vgl. ZBJV 131/1995, S. 39 ff.).

3. Ein Teil der Lehre beanstandet den Kapitalisierungszinsfuss von 3,5% seit längerer Zeit als zu hoch (PETER STEIN, Die zutreffende Rententafel, SJZ 67/1971, S. 50 f.; derselbe, Die massgebende Rententafel, Juristische Schriften des TCS Nr. 8, Genf 1989, S. 26 ff.; PIERRE GIOVANNONI, Les nouvelles tables de capitalisation de STAUFFER/SCHAETZLE, Revue jurassienne de jurisprudence 1/1991, S. 7 f.; vgl. auch OFTINGER, Schweizerisches Haftpflichtrecht, Bd. I, 4. Aufl. 1975, S. 223 ff.). Andere Autoren begrüssen demgegenüber die konstante bundesgerichtliche Praxis und treten namentlich mit Rücksicht auf die Rechtssicherheit für ein Festhalten am Kapitalisierungszinsfuss von 3,5% ein (PAUL SZÖLLÖSY, Der Richter und die Teuerung: Die ausservertragliche Schadenersatzpraxis, ZBJV 112/1976, S. 33 ff., insbes. 35 f.; STAUFFER/SCHAETZLE, Barwerttafeln, 4. Aufl. 1989, S. 327 f. Rz. 1132 ff.; OFTINGER/STARK, Schweizerisches Haftpflichtrecht, Bd. I, 5. Aufl. 1995, S. 298 Rz. 150).
Seit Bekanntwerden der Urteilsberatung vom 13. Dezember 1994 (ZBJV 131/1995, S. 39 ff.; dazu auch MARC SCHAETZLE, Neuer Kapitalisierungszinsfuss im Haftpflichtrecht?, ZBJV 131/1995, S. 520 ff.) sind zahlreiche weitere Stellungnahmen veröffentlicht worden. Die Meinungen bleiben weiterhin geteilt. Ein allgemeiner Konsens über den «richtigen» Kapitalisierungszinsfuss vermochte sich nicht herauszubilden. Während verschiedene Autoren sich gegen eine Änderung
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des Zinssatzes von 3,5% stellen (ALFRED KELLER, Haftpflicht im Privatrecht, Bd. II, 2. Aufl. 1998, S. 45 f.; BREHM, Berner Kommentar, 2. Aufl. 1998, N. 61 vor Art. 45 OR; FELIX HUNZIKER, Zur erneuten Diskussion um den Kapitalisierungszinsfuss im Haftpflichtrecht, ZBJV 131/1995, S. 872 ff.; LUKAS WYSS, Gedanken zum Kapitalisierungszinsfuss bei Invaliditäts- und Versorgerschäden, AJP 1997, S. 848 ff.), schlagen Stephan Weber und Marc Schaetzle auf der Grundlage eines wirtschaftswissenschaftlichen Gutachtens von CHRISTOPH AUCKENTHALER und Andreas Zimmermann (veröffentlicht in AJP 1997, S. 1129 ff.) ein umfassendes neues Berechnungsmodell vor, in dessen Rahmen sie die Senkung des Kapitalisierungszinsfusses auf 2,5% postulieren (WEBER/SCHAETZLE, Von Einkommensstatistiken zum Kapitalisierungszinsfuss oder warum jüngere Geschädigte zu wenig Schadenersatz erhalten und ältere zu viel, AJP 1997, S. 1115 ff.; SCHAETZLE/WEBER, Barwerttafeln, Neue Rechnungsgrundlagen für den Personenschaden, in: Tercier (Hrsg.), Kapitalisierung - Neue Wege, Freiburg 1998, S. 81 ff. und 93 ff.). Dieser Vorschlag hat wiederum verschiedene kritische Reaktionen ausgelöst (LUKAS WYSS, Und nochmals Bemerkungen zur Berechnung von Invaliditäts- und Versorgerschäden, AJP 1998, S. 188 ff.; GUY CHAPPUIS, Les tables de capitalisation, Le calcul des dommages corporels en évolution, in: Kapitalisierung - Neue Wege, vgt., S. 164 f.; BREHM, a.a.O., N. 62 vor Art. 45).

4. Die Kapitalisierung von künftigem Erwerbsausfall beruht zwangsläufig auf Hypothesen über Entwicklungen, die in der Zukunft liegen. Zu diesen Entwicklungen gehören die künftige Teuerung und die künftigen Kapitalerträge. Für die Frage des angemessenen Kapitalisierungszinsfusses sind demnach nicht nur rechtliche, sondern auch wirtschaftliche Gesichtspunkte von Bedeutung. Um sich näheren Aufschluss über das wirtschaftliche Umfeld, insbesondere über Erfahrungswerte zur vergangenen und begründbare Prognosen zur künftig zu erwartenden Teuerungs- und Kapitalertragsentwicklung zu verschaffen, hat die I. Zivilabteilung eine Reihe von Experten befragt. Im Rahmen dieser Befragung haben sich die folgenden Personen und Institutionen geäussert: die Herren Professoren Heinz Müller und Alex Keel (Universität St. Gallen), Baptiste Rusconi (Universität Lausanne) und Gaston Gaudard (Universität Freiburg), das Bundesamt für Sozialversicherung, das Bundesamt für Privatversicherungswesen, die Schweizerische Nationalbank und der Schweizerische Versicherungsverband. Den verschiedenen Stellungnahmen und Äusserungen lässt sich Folgendes entnehmen:
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a) In Bezug auf die Teuerung rechnen die Experten allgemein damit, dass die in den letzten Jahren eingetretene Beruhigung weiter anhalten wird, sofern nicht unvorhergesehene Ereignisse neue Teuerungsschübe auslösen. Dabei sind sich die Experten einig, dass der amtliche Index die effektive Teuerung eher überschätzt. Diese Überbewertung der Teuerung beziffert ein vom Bundesamt für Statistik in Auftrag gegebenes Gutachten auf rund 0,5 bis 0,6 Indexpunkte im Jahr. Zur Zeit befindet sich der Landesindex der Konsumentenpreise in Revision. Ab Anfang des Jahres 2000 soll ein neuer Index zur Anwendung kommen, der die tatsächliche Teuerung genauer wiedergeben soll.
b) Die künftige Zinsentwicklung hängt stark davon ab, ob und wieweit die Schweiz ihre Landeswährung an die europäische Einheitswährung anlehnen wird. Da darüber noch keine Klarheit besteht, ist es gerade im heutigen Zeitpunkt besonders schwierig, verlässliche Prognosen zur Zinsentwicklung zu stellen. Nach verbreiteter Ansicht würden sich bei einer Andockung des Schweizer Frankens an den Euro die Zinsen dem europäischen Niveau angleichen und mutmasslich um rund 2% steigen, wobei jedoch gleichzeitig auch die Teuerung eher zunehmen würde. In diesem Zusammenhang weisen die Experten darauf hin, dass die Realzinsen in den Ländern der Europäischen Union eher höher liegen als in der Schweiz.
c) Zu den Erträgen verschiedener Kapitalanlagen nennen die Experten unterschiedliche Zahlen. Nach dem Gutachten Müller/Keel beträgt der - aufgrund der Daten der Jahre 1930 bis 1997 errechnete - durchschnittliche Realertrag bei konservativer Anlagestrategie (10% Geldmarkt, 80% Obligationen, 10% Aktien) 1,65%, bei mittlerer Anlagestrategie (10% Geldmarkt, 60% Obligationen, 30% Aktien) 2,55% und bei aggressiver Anlagestrategie (10% Geldmarkt, 40% Obligationen, 50% Aktien) 3,45%. Das Bundesamt für Privatversicherungswesen geht für einen Zeitraum von bis zu 20 Jahren davon aus, dass ein gemischtes Portfeuille (10% Geldmarkt, 45% in- und ausländische Obligationen, 45% in- und ausländische Aktien) im Durchschnitt jährlich mit nominal 7-8% rentiert, was teuerungs- und kostenbereinigt einem Realertrag von wohl über 4% entsprechen würde. Die Schweizerische Nationalbank gelangt gestützt auf den Aktienindex des Schweizerischen Bankvereins von Januar 1969 bis Dezember 1997 zu einer durchschnittlichen realen Aktienrendite von 2,26% im Jahr, wobei in der Zeit von 1972 bis 1985 mehrheitlich Verluste, seither mehrheitlich - zum Teil massive - Gewinne zu verbuchen waren. Für risikolose Anlagen rechnet die
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Nationalbank langfristig mit einer jährlichen realen Verzinsung von rund 2%. Nach den Angaben des Schweizerischen Versicherungsverbands liegen die durchschnittlichen realen Nettorenditen je nach Durchmischung des Portfeuilles zwischen 2,2 und 4,9%. All diese Berechnungen beruhen im Wesentlichen auf denselben statistischen Unterlagen aus den vergangenen Jahrzehnten. Die unterschiedlichen Resultate erklären sich aus den verschiedenen Beobachtungszeiträumen. Da sich der Aktienmarkt seit Mitte der Achtziger Jahre positiv entwickelt, ergibt sich für Anlagen mit einem massgeblichen Aktienanteil ein umso höherer Realertrag, je kürzer die Zeitachse gewählt und je weniger weit in die Vergangenheit zurückgegriffen wird.
d) Ein ähnliches Bild zeichnet übrigens auch die vorerwähnte, 1997 veröffentlichte Studie von CHRISTOPH AUCKENTHALER und ANDREAS J. ZIMMERMANN. Nach deren auf den Zahlen aus den Jahren 1970 bis 1997 beruhenden Berechnungen beträgt die reale Netto-Rendite eines gemischten Portfeuilles je nach eingegangenem Risiko zwischen 2,12 und 4,07% (AJP 1997, S. 1139).

5. a) Mit der Ausrichtung von kapitalisiertem Schadenersatz erhält der Geschädigte einen Betrag, den er ohne den Schadenfall erst in Zukunft nach und nach verdient hätte. Er kann diesen Betrag ertragbringend anlegen und erlangt daraus einen Vorteil. Dass bei der Kapitalisierung eine Abzinsung eingerechnet wird, erscheint insofern als eine besondere Form des Vorteilsausgleichs. Dem Vorteil des Kapitalertrags steht aber der Nachteil der künftigen Geldentwertung gegenüber. Das Schadenersatzkapital wirft nicht nur Ertrag ab, sondern unterliegt auch der Teuerung, so dass dem Geschädigten nur die Differenz zwischen Kapitalertrag und Inflationsrate, mithin der reale Ertrag verbleibt. Soweit in früheren Entscheiden ausgeführt wurde, die Geldentwertung sei bei der Kapitalisierung nicht oder nur teilweise zu berücksichtigen (vgl. BGE 117 II 609 E. 12b/bb S. 628 f.; BGE 113 II 323 E. 3a S. 332; BGE 96 II 446 S. 447), kann daran nicht festgehalten werden. Der Geschädigte erhält seinen Schaden aus Erwerbsausfall nicht voll ersetzt, wenn die betragsmässige Steigerung ausser Acht gelassen wird, die sein Einkommen ohne den Schadenfall zufolge Anpassung an den sinkenden Geldwert erfahren hätte. Der Kapitalisierungszinsfuss hat demnach grundsätzlich dem Ertrag zu entsprechen, der sich auf dem Schadenersatzkapital real erzielen lässt.
b) Die Kapitalerträge folgen den Konjunkturschwankungen. Der Kapitalisierungszinsfuss kann jedoch nicht laufend den wirtschaftlichen Gegebenheiten angepasst werden. Andernfalls wären verlässliche
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Abschätzungen der Schadenssummen sowohl für die Haftpflichtigen wie für die Geschädigten nicht mehr möglich. Ein variabler Zinssatz würde im Übrigen auch dazu führen, dass die Höhe der zu leistenden Entschädigung im Streitfall unter Umständen durch Prozessverzögerung oder -beschleunigung beeinflusst werden könnte. Solches wäre mit dem Gebot der Rechtssicherheit nicht zu vereinbaren. Gerade im Bereich des Schadenersatzrechts besteht ein ausgeprägtes Bedürfnis nach Kalkulierbarkeit. Namentlich die Versicherungs-Gesellschaften sind für die Prämienberechnung darauf angewiesen, den Kapitalbedarf für künftige Schadenereignisse einigermassen zuverlässig veranschlagen zu können. Im Hinblick auf Rechtssicherheit und Praktikabilität verbietet es sich auch, bei der Bestimmung des Kapitalisierungszinsfusses auf die individuellen Verhältnisse der einzelnen Geschädigten Rücksicht zu nehmen (ebenso WEBER/SCHAETZLE, a.a.O., S. 1118; SCHAETZLE/WEBER, a.a.O., S. 95). Der Umstand, dass nicht jede Person über das gleiche Geschick verfügt, mit Kapitalien umzugehen, hat daher ausser Betracht zu bleiben. Ebensowenig kann berücksichtigt werden, dass die Ertragsmöglichkeiten umso besser sind, je grösser das Schadenskapital und damit das Anlagevolumen, das dem Geschädigten zur Verfügung steht, und der ihm eröffnete zeitliche Anlagehorizont sind (vgl. AUCKENTHALER/ZIMMERMANN, a.a.O., S. 1138 f.). Abzustellen ist auf Durchschnittswerte. Massgebend ist, welcher reale Ertrag auf kapitalisierten Schadenssummen im Durchschnitt der Geschädigten und im Durchschnitt der Jahre und Jahrzehnte erzielt werden kann.
c) In der Lehre ist zum Teil die Forderung erhoben worden, auch den künftigen Reallohnerhöhungen mit dem Kapitalisierungszinsfuss Rechnung zu tragen (PETER STEIN, Die massgebende Rententafel, Juristische Schriften des TCS Nr. 8, Genf 1989, S. 17 f.; kritisch: GIOVANNONI, a.a.O., S. 8 f.; zu den verschiedenen Möglichkeiten, Reallohnerhöhungen generell zu berücksichtigen, vgl. MARC SCHAETZLE, Zur Kapitalisierung von Reallohnerhöhungen, plädoyer 5/1991, S. 42 ff.). Die Reallohnentwicklungen sind jedoch in den einzelnen Branchen und Bereichen möglicher Erwerbstätigkeit sehr unterschiedlich. Die individuelle Einkommensentwicklung hängt zudem stark vom Alter des Geschädigten ab (vgl. SCHAETZLE, a.a.O., S. 43 f.; WEBER/SCHAETZLE, a.a.O., S. 1113 f.; SCHAETZLE/WEBER, a.a.O., S. 54). Die Praktikabilität gebietet es, bei der Festsetzung des Kapitalisierungszinsfusses nur jene Elemente zu berücksichtigen, die für alle Fälle künftiger Einkommenseinbussen gleich
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sind. Weiteren Umständen ist im Einzelfall auf andere Weise Rechnung zu tragen. Vorliegend haben die kantonalen Gerichte die reale Entwicklung des dem Kläger entgangenen Einkommens konkret geschätzt. Gegen dieses Vorgehen ist nichts einzuwenden.

6. Der auf längere Sicht durchschnittlich erzielbare Realertrag ist von der Anlagestruktur abhängig. Es gibt ertragreichere und weniger ertragreiche Anlagen. Höher rentierende Anlagen sind allerdings regelmässig auch mit höheren Risiken verbunden. Damit stellt sich die Frage, welche Anlageformen und welche Anlagerisiken einem Geschädigten zugemutet werden dürfen und müssen. In diesem Zusammenhang ist Folgendes von Bedeutung:
a) Auf ein Leben ohne jedes finanzielle Risiko können Geschädigte, die für künftigen Erwerbsausfall eine Kapitalabfindung verlangen, nicht Anspruch erheben. Gewisse Anlagerisiken sind ihnen durchaus zuzumuten. Das rechtfertigt sich schon deshalb, weil auch voll erwerbstätige Personen erheblichen wirtschaftlichen Risiken ausgesetzt sind, insbesondere jenem der Arbeitslosigkeit. Auf der anderen Seite darf nicht vorausgesetzt werden, dass durchschnittliche Geschädigte in der Lage wären, besonders günstige Börsengeschäfte zu tätigen. Kapitalabfindungen sind grundsätzlich für den laufenden Verzehr bestimmt, so dass vorauszusetzen ist, dass die geschädigte Person dauernd - und so lange sie lebt - auf das Kapital und auf dessen Ertrag angewiesen ist, weshalb sie in Zeiten niedriger Börsenkurse nicht einfach auf die Auflösung von Anlagen verzichten und abwarten kann, bis sich die Märkte wieder erholt haben. Besonders risikoreiche und auf längere Sicht entsprechend gewinnträchtige Anlagen kommen deshalb nicht in Frage.
b) Das mit bestimmten, längerfristig ertragreicheren Anlagen, insbesondere mit Aktien, verbundene Risiko lässt sich allerdings mit einer angemessenen Diversifikation begrenzen. Es liegt nahe, der Ertragsschwäche risikoarmer Anlagen mit einem angemessenen Aktienanteil zu begegnen. Bundesanleihen sind entgegen dem, was der Kläger anzunehmen scheint, nicht die einzig zumutbaren Anlagen. Mit einem vernünftig gemischten, auf eine vorsichtige Anlagestrategie ausgerichteten Portefeuille lässt sich einerseits eine Risikoverteilung und damit ein Risikoausgleich schaffen, anderseits im Durchschnitt ein besserer Ertrag erwirtschaften. Diese Erkenntnis setzt sich denn in der Schweizer Bevölkerung auch mehr und mehr durch. Eine einseitige Anlehnung des Kapitalisierungszinsfusses an den Realzins der Bundesobligationen rechtfertigt sich deshalb nicht. Es ist notorisch, dass das Anlageverhalten der nicht institutionellen
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Anleger und namentlich auch der sogenannten Kleinsparer sich in den letzten Jahren entscheidend verändert hat. An die Stelle der herkömmlichen Sparguthaben und Kassenobligationen sind ertragreichere Anlageformen getreten. Verbreitet sind heute insbesondere Investitionen in Anlagefonds. Die Anzahl schweizerischer Anlagefonds ist von 1993 bis 1998 von 240 auf 356 gestiegen, ihr Vermögen in der gleichen Zeitspanne von rund 58,1 auf rund 107,4 Milliarden Franken angewachsen, und der Mittelzufluss an sie hat von 21,8 Milliarden Franken im Jahre 1993 auf 38,5 Milliarden Franken im Jahre 1998 zugenommen (Schweizerische Nationalbank, Statistisches Monatsheft 3/1999, S. 64). Anlagefonds erlauben breiten Bevölkerungskreisen den kostengünstigen Zugang zu den Kapitalmärkten und die Teilnahme an professionell verwalteten Vermögen. Entsprechende Anlagen sind auch Geschädigten zumutbar.
c) Das Gesetz äussert sich nicht dazu, ob Personenschaden in der Form eines Kapitals oder einer Rente zu ersetzen ist; es überlässt den Entscheid dem Richter (Art. 43 OR). Das Bundesgericht hat in seiner bisherigen Rechtsprechung regelmässig der Kapitalabfindung den Vorzug gegeben und ist davon ausgegangen, dass Renten nur ganz ausnahmsweise dann zuzusprechen sind, wenn die Besonderheiten des Einzelfalls es rechtfertigen ( BGE 117 II 609 E. 10c S. 625 f., mit Hinweisen). Diese Praxis bedarf der Überprüfung. Die Rente ist an sich die geeignete Form des Ausgleichs von Dauerschäden. Die geschädigte Person erhält mit einer an den Lohn- oder Teuerungsindex angepassten Rente den Ausfall so, wie sie ihn erleidet, und solange, wie sie ihn erleidet, ersetzt (KELLER, a.a.O., S. 43; STAUFFER/SCHAETZLE, a.a.O., S. 225 Rz. 589; BREHM, a.a.O., N. 8 zu Art. 43 OR; OFTINGER/STARK, a.a.O., S. 321 Rz. 218). Das Rückstellungsproblem, das damit für Haftpflichtige und Versicherungen entsteht, erscheint durchaus lösbar (WALTER GRESSLY, Schadenersatz in Form einer indexierten Rente?, Collezione Assista 1998, S. 250 f.; PIERMARCO ZEN-RUFFINEN, Le mensonge du nominalisme ou quelques réflexions sur l'indexation des rentes alimentaires et des rentes indemnitaires, in: FS Jeanprêtre 1982, S. 153 f.). Jedenfalls wird man die Unwägbarkeiten der Entwicklung des Geldwerts eher dem Haftpflichtigen oder seiner Versicherung als dem Geschädigten anlasten dürfen. Kapitalabfindungen haben zwar ebenfalls ihre Vorteile, insbesondere auch jenen der Praktikabilität (STAUFFER/SCHAETZLE, a.a.O., S. 225 Rz. 583 ff.; TERCIER, La capitalisation en question, in: Kapitalisierung - Neue Wege, vgt., S. 33; BREHM, a.a.O., N. 10 und 14 ff. zu Art. 43 OR). Das ist indessen kein Grund, anderslautende
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Begehren von Geschädigten ohne weiteres zu übergehen und künftigen Erwerbsausfall grundsätzlich nur in Kapitalform zu ersetzen. Wenn die geschädigte Person eine indexierte Rente beansprucht, ist ihr diese Form des Schadenersatzes zumindest im Regelfall nicht zu verweigern. Steht ihr aber grundsätzlich die Wahl zu, so kann sie - oder ihr gesetzlicher Vertreter - eigenverantwortlich bestimmen, ob sie einer langfristig wertsicheren Rente oder einer sofort verfügbaren Kapitalabfindung den Vorzug gibt. Die indexierte Rente erlaubt es dem Geschädigten, periodischen Ersatz seines realen Einkommensausfalls zu erhalten und damit seinen Lebensunterhalt langfristig sicherzustellen. Wählt er hingegen - wie im vorliegenden Fall der Kläger - die Kapitalabfindung, so ist ihm zuzumuten, sich im Rahmen des bei geeigneter Anlage erzielbaren Realertrags selbst gegen die Geldentwertung abzusichern.

7. Die Änderung einer Rechtsprechung rechtfertigt sich nur, wenn sich dafür hinreichend ernsthafte Gründe anführen lassen. Das gilt namentlich, wenn diese Rechtsprechung während mehrerer Jahrzehnte konstant befolgt worden ist ( BGE 120 II 137 E. 3f S. 142, mit Hinweisen; vgl. auch BGE 122 I 57 E. 3c/aa S. 59). Die Gründe, die gegen die bisherige Praxis und zugunsten einer neuen Betrachtungsweise sprechen, müssen insgesamt gewichtiger sein als die nachteiligen Auswirkungen, welche die Praxisänderung insbesondere auf die Rechtssicherheit hat (THOMAS PROBST, Die Änderung der Rechtsprechung, Diss. St. Gallen 1992, S. 664). Dabei ist vorliegend zu berücksichtigen, dass das Bedürfnis nach Rechtssicherheit im Bereich der Schadenskalkulation besonders ausgeprägt ist (E. 5b hievor). Die bisherige, langjährige Rechtsprechung ist deshalb nur zu ändern, wenn hinreichend sichere Anzeichen dafür bestehen, dass ein Realertrag von 3,5% auf Kapitalabfindungen in absehbarer Zukunft nicht realisierbar ist, und sich mit hinreichender Gewissheit sagen lässt, dass der seit 1946 geltende Kapitalisierungszinsfuss mit dem Grundsatz des vollen Schadensausgleichs nicht zu vereinbaren ist.
In Würdigung der Aussagen der Experten ist davon auszugehen, dass ein realer Ertrag von 3,5% jedenfalls seit Mitte der achtziger Jahre im Rahmen dessen liegt, was sich mit einem angemessen gemischten Wertschriften-Portefeuille oder mit Anteilen an einem auf eine vorsichtige Anlagestrategie ausgerichteten Anlagefonds erzielen lässt. Dafür, dass sich die derzeitige Ertragslage solcher Anlagen in absehbarer Zukunft nicht mehr werde halten können, bestehen keine hinreichend gesicherten Anhaltspunkte. Eine Praxisänderung ist deshalb nicht angezeigt. Am Kapitalisierungszinsfuss
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von 3,5% ist festzuhalten. Ein entsprechender Realertrag erscheint mit zumutbaren Anlagen erreichbar. Die zu 3,5% kapitalisierte Abfindung, welche die Vorinstanz dem Kläger zugesprochen hat, bietet ihm vollen Ersatz seines Schadens aus Erwerbsausfall. Die Berufung erweist sich als unbegründet.

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