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Urteilskopf

125 IV 58


9. Auszug aus dem Urteil des Kassationshofes vom 17. März 1999 i. S. A. gegen Staatsanwaltschaft des Kantons Zürich und B. (Nichtigkeitsbeschwerde)

Regeste

Art. 187 Ziff. 1 Abs. 1 StGB und Art. 189 Abs. 1 StGB; sexuelle Handlungen mit Kindern und sexuelle Nötigung; Küsse.
Bei der inhaltlichen Bestimmung der sexuellen Handlungen mit Kindern ist grundsätzlich von der Rechtsprechung zu Art. 191 Ziff. 2 aStGB auszugehen und diese nach den Zielen der Revision neu zu gewichten (E. 3a).
Übliche Küsse und Umarmungen stellen in der Regel keine sexuellen Handlungen dar, wohl aber Zungenküsse von Erwachsenen an Kindern (E. 3b).
Eine aufgezwungene Küsserei eines Kindes in einer minutenlangen, unfreiwilligen, pressenden Umarmung bzw. Umfassung des Gesässes ist eine sexuelle Handlung und erfüllt zugleich den Tatbestand der sexuellen Nötigung (E. 2c und 3c).

Sachverhalt ab Seite 59

BGE 125 IV 58 S. 59
A. (Jahrgang 1963) arbeitete am 6. Januar 1996 in einem Kebab-Stand in Zürich. Daran ging um 16.15 Uhr die ihm unbekannte B. (Jahrgang 1985) vorbei. Er winkte das Mädchen herbei, forderte es auf, in die von der Strasse kaum einsehbaren hinteren Geschäftsräumlichkeiten zu kommen, und gab ihm Schokolade. Als es ihm zum Dank die Hand reichte, ergriff er das Mädchen, zog es an sich, umschlang dessen Oberkörper mit den Armen und presste es längere Zeit an sich, ergriff mit beiden Händen sein Gesicht, hob es zu sich hoch und küsste es mehrmals auf den Mund. Dann lockerte er den Griff, worauf das Mädchen etwas Abstand nehmen konnte. Als es ihm zum Abschied die Hand reichte, zog er es wieder an sich, küsste es mehrmals auf den Mund, wobei ein Zungenkuss an den aufeinander gepressten Lippen des Mädchens scheiterte, umfasste es mit beiden Händen über den Kleidern am Gesäss und drückte es immer wieder fest an sich. Er forderte das Mädchen auf, ihn zu umfassen und fest an sich zu drücken. Dieses war jeweilen wie gelähmt. Schliesslich liess er es gehen, nachdem es immer wieder gesagt hatte, es müsse nach Hause.
Im Berufungsverfahren bestätigte das Obergericht des Kantons Zürich am 3. Juli 1997 das Urteil des Bezirksgerichts Zürich vom 24. Januar 1997 und verurteilte A. wegen sexueller Handlungen mit Kindern (Art. 187 Ziff. 1 Abs. 1 StGB) und sexueller Nötigung (Art. 189 Abs. 1 StGB) zu 5 Monaten Gefängnis bedingt (abzüglich 10 Tage Untersuchungshaft) und zur Zahlung von Fr. 1'000.-- Genugtuung an B.
A. erhebt eidgenössische Nichtigkeitsbeschwerde mit dem Antrag, das Urteil des Obergerichts aufzuheben und die Sache zu neuer Entscheidung an die kantonale Behörde zurückzuweisen.
BGE 125 IV 58 S. 60
Das Bundesgericht weist die Nichtigkeitsbeschwerde ab, soweit es auf sie eintritt.

Erwägungen

Aus den Erwägungen:

2. a) Die Vorinstanz kam in eingehender Würdigung zum Ergebnis, der Anklagesachverhalt sei erstellt und für ein Glaubwürdigkeitsgutachten bestehe kein Anlass; die rechtliche Würdigung durch die Bezirksanwaltschaft und die Erstinstanz sei zutreffend und im Berufungsverfahren unangefochten geblieben; es sei auf die überzeugenden Ausführungen im erstinstanzlichen Urteil zu verweisen.
b) Der Beschwerdeführer macht vor Bundesgericht geltend, die Qualifizierung seines Verhaltens als sexuelle Handlung im Sinne von Art. 187 Ziff. 1 Abs. 1 und Art. 189 Abs. 1 StGB verletze Bundesrecht. Sexuelle Handlungen beträfen nur Verhaltensweisen, die sich äusserlich eindeutig als geschlechtsbezogen darstellten und die ungestörte sexuelle Entwicklung des Kindes gefährdeten. Die Handlung an sich müsse den Bezug zur Sexualität aufweisen. Die vorgeworfenen Handlungen dürften eher unter die Kategorie der allenfalls deplatzierten, aber leichteren Entgleisungen ohne sexuellen Hintergrund fallen und nach dem äusseren Erscheinungsbild keinen sexuellen Bezug aufweisen.
c) Damit bestreitet der Beschwerdeführer den sexuellen Charakter des angeklagten Verhaltens, nicht hingegen ein nötigendes Verhalten. Dies zu Recht nicht: Presst nämlich ein Erwachsener ein zehnjähriges Mädchen stark an sich, so kann es sich angesichts des ungleichen Kräfteverhältnisses nicht entziehen und muss das Handeln dulden. Deshalb käme jedenfalls ein Schuldspruch wegen Nötigung im Sinne von Art. 181 StGB in Betracht, wenn die Voraussetzungen einer sexuellen Nötigung verneint werden müssten.
Wie sich nachfolgend ergibt, ist die Beschwerde indessen abzuweisen. Bei diesem Ausgang kann offen bleiben, inwieweit der Beschwerdeführer vor Bundesgericht die rechtliche Qualifikation seines Verhaltens in Frage stellen kann, nachdem er diese vorinstanzlich nicht angefochten hat.
d) Die Erstinstanz begründete den Schuldspruch der sexuellen Handlungen mit Kindern damit, die Handlungen hätten sich auf erogene Körperteile wie Lippen und Gesäss bezogen. Es könne auch nicht von einem blossen «Betätscheln» des Gesässes oder einer bloss flüchtigen Berührung anderer erogener Zonen gesprochen werden; denn der Beschwerdeführer habe das Kind immer wieder fest an sich
BGE 125 IV 58 S. 61
gezogen und dabei dessen Gesäss über längere Zeit fest gehalten. Zudem habe er es mehrmals auf den Mund geküsst und sogar versucht, ihm einen Zungenkuss zu geben. Verhalte sich eine erwachsene Person gegenüber einem Kind in dieser Weise, so geschehe dies ohne Zweifel aus sexuellen Motiven. Ein solches Verhalten gehe weit über den Ausdruck von Freude und Zuneigung einem Kind gegenüber hinaus, um so mehr, als es sich um ein völlig fremdes Kind gehandelt habe. Die Handlungen, die klar auf die Erregung oder Befriedigung geschlechtlicher Lust gezielt hätten, seien als sexuelle Handlungen zu qualifizieren. Sie seien überdies geeignet gewesen, die sexuelle Entwicklung eines zehnjährigen Mädchens zu gefährden. Die Reaktion des Mädchens auf das Erlebte - es sei ihm schlecht geworden, es habe weiche Knie gehabt und nicht einschlafen können - zeige, dass der Vorfall das Mädchen stark getroffen habe.

3. Wer mit einem Kind unter 16 Jahren eine sexuelle Handlung vornimmt, wird mit Zuchthaus bis zu fünf Jahren oder mit Gefängnis bestraft (Art. 187 Ziff. 1 Abs. 1 StGB).
a) Die Revision des Sexualstrafrechts strebte eine behutsame Liberalisierung an. Sexuelles Verhalten soll danach nur strafbar sein, wenn es einen andern schädigt oder schädigen könnte, wenn ein Partner in ein solches Verhalten nicht in verantwortlicher Weise einwilligen kann oder wenn jemand davor bewahrt werden soll, sexuelle Handlungen gegen seinen Willen wahrzunehmen (Botschaft über die Änderung des Schweizerischen Strafgesetzbuches und des Militärstrafgesetzes vom 26. Juni 1985, BBl 1985 II 1009 ff., 1012, 1064).
Art. 187 StGB trat in der Revision an die Stelle des Art. 191 aStGB und ersetzte den altrechtlichen Ausdruck unzüchtige Handlung durch den Begriff der sexuellen Handlung. Als unzüchtig galt ein Verhalten, das das durchschnittliche sittliche Empfinden in nicht leicht zu nehmender Weise verletzt. Wann das der Fall war, entschied sich nach den Umständen des Einzelfalls und hing insbesondere von den persönlichen Beziehungen der Beteiligten ab (BGE 104 IV 88 E. 3 und 4; BGE 78 IV 161 E. 1). Das neue Recht bestraft nicht mehr Handlungen gegen die Sittlichkeit, sondern gegen die sexuelle Integrität. Bei Art. 187 StGB tritt zusätzlich der Jugendschutz in den Vordergrund (BGE 120 IV 6 E. 2c/aa).
Bei der inhaltlichen Bestimmung der sexuellen Handlungen mit Kindern ist grundsätzlich von der Rechtsprechung zu Art. 191 Ziff. 2 aStGB auszugehen und diese unter dem Gesichtspunkt der
BGE 125 IV 58 S. 62
Revisionsziele neu zu gewichten, nämlich des Schutzes der Jugend und der sexuellen Selbstbestimmung vor dem Hintergrund des Persönlichkeitsrechts auf sexuelle Integrität.
b) Sexuelle Handlungen lassen sich nach der Eindeutigkeit ihres Sexualbezugs abgrenzen. Keine sexuellen Handlungen sind Verhaltensweisen, die nach ihrem äusseren Erscheinungsbild keinen unmittelbaren sexuellen Bezug aufweisen. Als sexuelle Handlungen im Sinne von Art. 187 Ziff. 1 Abs. 1 StGB gelten hingegen Verhaltensweisen, die für den Aussenstehenden nach ihrem äusseren Erscheinungsbild eindeutig sexualbezogen sind. Bei dieser objektiven Betrachtungsweise bleiben das subjektive Empfinden, die Motive oder die Bedeutung, die das Verhalten für den Täter oder das Opfer hat, ausser Betracht. Eindeutig sexualbezogene Handlungen erfüllen stets den objektiven Tatbestand. Auf die Motive des Täters kommt es nicht an (vgl. JENNY, Kommentar zum Schweizerischen Strafrecht, Bern 1997, Art. 187 N. 12 ff.; REHBERG/SCHMID, Strafrecht III, 7. Auflage, S. 380 f.; STRATENWERTH, Schweizerisches Strafrecht, Besonderer Teil I, 5. Auflage, Bern 1995, § 7 N. 10, 11; TRECHSEL, Schweizerisches Strafgesetzbuch, Kurzkommentar, 2. Auflage, Zürich 1997, Art. 187 N. 5; HANGARTNER, Selbstbestimmung im Sexualbereich - Art. 188 bis 193 StGB, Diss. St. Gallen 1997, S. 52; PHILIPP MAIER, Die Nötigungsdelikte im neuen Sexualstrafrecht, Diss. Zürich 1994, S. 276; zum deutschen Recht SCHÖNKE/SCHRÖDER/LENCKNER, Strafgesetzbuch, 25. Auflage, § 184c N. 6, 8, sowie HORN, Systematischer Kommentar zum Strafgesetzbuch, 6. Auflage, § 184c N. 2).
Schwierigkeiten bietet dagegen die dritte Gruppe der sogenannten ambivalenten Handlungen, die weder äusserlich neutral noch eindeutig sexualbezogen erscheinen. Nach HANGARTNER verzichtet die herrschende Lehre auch bei dieser Gruppe auf ein subjektives Element, während eine Minderheit in Zweifelsfällen auf die Motivation des Täters zurückgreife (a.a.O., S. 54 mit Nachweisen). Während HANGARTNER (a.a.O., S. 56) und HORN (a.a.O.) bei ambivalenten Handlungen mangels eindeutiger äusserer Erkennbarkeit eine sexuelle Handlung verneinen und JENNY (a.a.O., N. 14) zum Ergebnis gelangt, dass die verbleibenden Zweifelsfälle an der Grenze des Strafbedürftigen liegend als unerheblich ausscheiden sollten, nimmt STRATENWERTH (a.a.O., N. 12) an, am Rückgriff auf die Motivation des Täters scheine gelegentlich kein Weg vorbei zu führen.
Nach den Revisionszielen kann sich der Begriff der sexuellen Handlung nur auf Verhaltensweisen erstrecken, die im Hinblick auf
BGE 125 IV 58 S. 63
das geschützte Rechtsgut erheblich sind (JENNY, a.a.O., N. 16; STRATENWERTH, a.a.O., N. 12 [das Unerhebliche solle ausscheiden]; TRECHSEL, a.a.O., N. 6). Wie JENNY (a.a.O.) ausführt, können geringfügige Entgleisungen die sexuelle Entwicklung schwerlich gefährden und bietet bei aufgedrängten Annäherungen der Tatbestand der sexuellen Belästigung (Art. 198 StGB) einen weitergehenden Schutz. Das bloss Unanständige, Unangebrachte, Anstössige, Geschmacklose, Unschamhafte, Widerwärtige soll aus dem Strafbaren ausscheiden (HORN, a.a.O., N. 12). In Zweifelsfällen wird man indessen nach den Umständen des Einzelfalls die Erheblichkeit auch relativ bestimmen müssen, so etwa nach dem Alter des Opfers oder dem Altersunterschied zum Täter (JENNY, a.a.O.).
Dies gilt insbesondere bei der Beurteilung des sexuellen Charakters von Küssen. Während das Küssen auf Mund, Wangen usw. in der Regel keine sexuelle Handlung darstellt, werden Zungenküsse von Erwachsenen an Kindern als sexuelle Handlung qualifiziert (vgl. BGE 76 IV 275; BGE 91 IV 70; BGE 92 IV 7; BGE 99 IV 156; HANGARTNER, a.a.O., S. 57, und MAIER, a.a.O., S. 284; ferner BGH 18, S. 169 und NStZ 1998, S. 357, HORN, a.a.O., N. 6 [regelmässig nicht «übliche Küsse und Umarmungen»], SCHÖNKE/SCHRÖDER/LENCKNER, a.a.O., N. 16; a.A. JENNY, a.a.O., N. 16 unter Vorbehalt von Zweifelsfällen und mit weiteren Hinweisen, sowie REHBERG/SCHMID, a.a.O., S. 381).
c) Vorliegend rief der knapp 33-jährige Beschwerdeführer das gut 10-jährige, ihm völlig unbekannte Mädchen in die hinteren Geschäftsräumlichkeiten, gab ihm Schokolade, umschlang es dann mit seinen Armen, hob es hoch, presste es längere Zeit und immer wieder fest an sich, wobei er es auch mit beiden Händen am Gesäss fasste, es wiederholt mehrmals auf den Mund küsste und dabei auch den Zungenkuss versuchte. Es kann daher weder von flüchtigen Berührungen oder geringfügigen Entgleisungen gesprochen werden noch von «üblichen Küssen und Umarmungen», wie sie in Familien- und Freundschaftskreisen gepflegt werden mögen. Wie das Bezirksgericht ausführte, geht das angeklagte Verhalten gerade auch angesichts der Tatsache, dass das Mädchen dem Beschwerdeführer völlig unbekannt war, weit über den Ausdruck von Freude und Zuneigung einem Kind gegenüber hinaus. Vielmehr handelte es sich um eine aufgezwungene Küsserei in einer minutenlangen, unfreiwilligen, pressenden Umarmung bzw. Umfassung des Gesässes. In diesem Zusammenhang schliesst der am Widerstand des Mädchens letztlich gescheiterte Zungenkuss jede Einordnung unter die Gruppe der ambivalenten Verhaltensweisen aus und lässt sie für den Aussenstehenden
BGE 125 IV 58 S. 64
nach ihrem äusseren Erscheinungsbild eindeutig sexualbezogen erscheinen. Dieses Erscheinungsbild wird zudem geprägt durch das Kindesalter des Mädchens und die Altersdifferenz zum Täter, die Dauer und Intensität des Vorgehens und den Rückzug in die hinteren Räumlichkeiten.
Solche Handlungen greifen eindeutig in die sexuelle Integrität eines Mädchens ein. Die mit der Revision des Sexualstrafrechts angestrebte behutsame Liberalisierung strebte in keiner Weise an, den strafrechtlichen Schutz der Kinder vor sexueller Ausbeutung durch Erwachsene zu relativieren (BGE 120 IV 6 E. 2c/bb). Der Beschwerdeführer wurde deshalb zu Recht der sexuellen Handlungen mit Kindern (Art. 187 Ziff. 1 Abs. 1 StGB) und der sexuellen Nötigung (Art. 189 Abs. 1 StGB) schuldig gesprochen.

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Sachverhalt

Erwägungen 2 3

Referenzen

BGE: 120 IV 6, 104 IV 88, 91 IV 70, 92 IV 7 mehr...

Artikel: Art. 187 Ziff. 1 Abs. 1 StGB, Art. 189 Abs. 1 StGB, Art. 187 StGB, Art. 181 StGB mehr...