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Urteilskopf

139 I 169


16. Auszug aus dem Urteil der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung i.S. Politische Gemeinde Amriswil gegen X. und Departement für Justiz und Sicherheit des Kantons Thurgau (subsidiäre Verfassungsbeschwerde)
1D_2/2012 vom 13. Mai 2013

Regeste

Art. 8 Abs. 2 und Art. 50 Abs. 1 BV, Art. 14, 33 und 34 BüG; Gemeindeautonomie bei der ordentlichen Einbürgerung einer geistig Behinderten.
Tragweite der Gemeindeautonomie bei der ordentlichen Einbürgerung (E. 6).
Diskriminierung bei der Einbürgerung aufgrund einer geistigen Behinderung: Geistig Behinderte mangels eigenen Willens zur Einbürgerung von derselben auszuschliessen, entspricht nicht der gesetzlichen Ordnung und erweist sich aufgrund der damit verbundenen generellen Wirkung als diskriminierend. Zu prüfen ist, ob es dafür eine qualifizierte Rechtfertigung gibt (E. 7).
Ist die Sache im Falle, dass die Nichteinbürgerung als unzulässig erkannt wird, an die Gemeinde oder an die kantonale Rechtsmittelinstanz zu neuem Entscheid über die Einbürgerung zurückzuweisen (E. 8)?

Sachverhalt ab Seite 170

BGE 139 I 169 S. 170

A. Im Juli 2009 stellten die Eltern der geistig behinderten serbischen Staatsangehörigen X., geb. 2. März 1993, für diese ein Gesuch um ordentliche Erteilung des Schweizer Bürgerrechts. Am 7. Januar 2010 ergab sich bei einem Gespräch auf der Wohnsitzgemeinde Amriswil, dass X. zwar die deutsche und albanische Sprache versteht, sich aber nur mit Hilfe eines speziellen Computers oder in Gebärdensprache ausdrücken kann und ein sehr tiefes Bildungsniveau aufweist. Der Stadtrat Amriswil beschloss am 23. Februar 2010, das Einbürgerungsgesuch nicht zu unterstützen. Im Wesentlichen wurde dies damit begründet, X. habe keinen eigenen Willen zur Erlangung des Schweizer Bürgerrechts, es dürfe bei behinderten Personen keinen Einbürgerungsautomatismus geben und es seien keine klaren Vorteile ersichtlich, die bei einer allfälligen Einbürgerung das Leben von X. erleichtern würden. Nachdem die
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gesetzliche Vertreterin am Einbürgerungsgesuch festgehalten hatte, wurde dieses dem Bundesamt für Migration weitergeleitet, das am 3. Mai 2011 die eidgenössische Einbürgerungsbewilligung erteilte. Am 8. Dezember 2011 entschied die Gemeindeversammlung der Stadt Amriswil, das Gesuch gemäss der Empfehlung des Stadtrates abzulehnen.

B. X., vertreten durch ihre Schwester und Vormundin, Y., erhob beim Departement für Justiz und Sicherheit des Kantons Thurgau Rekurs. Am 30. März 2012 hiess das Departement den Rekurs gut, hob den Entscheid der Gemeindeversammlung der Stadt Amriswil auf und wies die Sache zur Neubeurteilung an die Gemeindeversammlung zurück. Zur Begründung führte das Departement im Wesentlichen aus, bei Gesuchstellern mit Behinderung sei jeder Einbürgerungsfall besonders zu prüfen. Eine automatische Befreiung von den Einbürgerungskriterien sei ausgeschlossen. Zwar verfüge die Gesuchstellerin selbst aufgrund der geistigen Behinderung wohl über keinen eigenen Willen. Das genüge aber als Begründung der Nichterteilung des Bürgerrechts nicht, denn es müsse davon ausgegangen werden, dass sich die Gesuchstellerin wie ihre Geschwister hätte einbürgern lassen wollen. Sodann müssten mit der Einbürgerung keine materiellen Vorteile verbunden sein, könnten doch bereits solche ideeller Natur eine Einbürgerung rechtfertigen. Insgesamt sei die Gesuchstellerin einzubürgern. Die reformatorische Erteilung des Gemeindebürgerrechts sei jedoch ausgeschlossen, da die Politische Gemeinde Trägerin desselben sei, weshalb die Sache an dieselbe zurückgewiesen werden müsse.

C. Mit Urteil vom 5. September 2012 wies das Verwaltungsgericht des Kantons Thurgau eine dagegen gerichtete Beschwerde der Politischen Gemeinde Amriswil ab. In den Erwägungen wird dazu ausgeführt, grundsätzlich bestehe kein Anspruch auf Einbürgerung, der entsprechende Entscheid der Gemeindebehörde dürfe aber nicht diskriminierend sein. Die Argumentation der Gemeindebehörden führe dazu, dass geistig behinderte Menschen ab einem bestimmten intellektuellen Defizit nie eingebürgert werden könnten, was diskriminierend sei. Es sei daher richtig, auf den mutmasslichen Willen abzustellen. Aus den konkreten Umständen sei abzuleiten, dass der Gesuchstellerin, die offensichtlich mit den schweizerischen Verhältnissen vertraut sei, ein solcher mutmasslicher Wille nicht abgesprochen werden könne.
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D. Mit Beschwerde vom 26. November 2012 an das Bundesgericht beantragt die Politische Gemeinde Amriswil, den Entscheid des Thurgauer Verwaltungsgerichts aufzuheben und denjenigen der Amriswiler Gemeindeversammlung vom 8. Dezember 2011 zu bestätigen; eventuell sei das Departement anzuweisen, die Einbürgerung von X. ohne Rückweisung an die Gemeindeversammlung vorzunehmen. In der Begründung (...) wird ausgeführt, die Gemeinde Amriswil habe schon verschiedentlich Behinderte eingebürgert, weshalb der Vorwurf der Diskriminierung von Behinderten zurückgewiesen werde. Im zu beurteilenden Fall sei es unzulässig, bei der Gesuchstellerin auf einen mutmasslichen Einbürgerungswillen zu schliessen. Ihre Hauptbezugspersonen seien weiterhin die Eltern, die sich nie vollständig integriert und auch nie Anstrengungen unternommen hätten, die Schweizer Staatsangehörigkeit zu erlangen. Die Begründung des Verwaltungsgerichts führe zu einem Einbürgerungsautomatismus geistig behinderter Personen. Das ursprünglich von den Eltern eingereichte Gesuch sei lediglich damit begründet worden, dass eine "langfristige Sicherheit" für die behinderte Tochter angestrebt werde, was aber nicht für die Erteilung des Schweizer Bürgerrechts genüge.

E. X. schliesst auf Abweisung der Beschwerde, soweit darauf eingetreten werden könne. Das Departement für Justiz und Sicherheit und das Verwaltungsgericht des Kantons Thurgau stellen Antrag auf Abweisung der Beschwerde. (...)
Das Bundesgericht weist die Beschwerde ab.
(Auszug)

Erwägungen

Aus den Erwägungen:

6.

6.1 Art. 50 Abs. 1 BV gewährleistet die Gemeindeautonomie nach Massgabe des kantonalen Rechts. Nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung sind Gemeinden in einem Sachbereich autonom, wenn das kantonale Recht diesen nicht abschliessend ordnet, sondern ihn ganz oder teilweise der Gemeinde zur Regelung überlässt und ihr dabei eine relativ erhebliche Entscheidungsfreiheit einräumt. Der geschützte Autonomiebereich kann sich auf die Befugnis zum Erlass oder Vollzug eigener kommunaler Vorschriften beziehen oder einen entsprechenden Spielraum bei der Anwendung kantonalen oder eidgenössischen Rechts betreffen. Der Schutz der Gemeindeautonomie setzt eine solche nicht in einem ganzen Aufgabengebiet,
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sondern lediglich im streitigen Bereich voraus. Im Einzelnen ergibt sich der Umfang der kommunalen Autonomie aus dem für den entsprechenden Bereich anwendbaren kantonalen Verfassungs- und Gesetzesrecht (BGE 138 I 242 E. 5.2 S. 244 f. mit Hinweisen). Die Gemeinde kann sich dagegen zur Wehr setzen, dass eine kantonale Behörde ihre Prüfungsbefugnis überschreitet oder die einschlägigen Vorschriften unrichtig auslegt und anwendet. Sie kann überdies geltend machen, die kantonale Behörde habe die Tragweite von verfassungsmässigen Rechten missachtet. Schliesslich kann sie sich im Zusammenhang mit der behaupteten Autonomieverletzung auch auf das Willkürverbot und auf Verfahrensgarantien berufen (NICCOLÒ RASELLI, Die Einbürgerung zwischen Politik und Justiz - unter Berücksichtigung der Rechtsprechung des Bundesgerichts, ZBl 112/2011 S. 587). Die Anwendung von eidgenössischem und kantonalem Verfassungsrecht prüft das Bundesgericht mit freier Kognition, die Handhabung von Gesetzes- und Verordnungsrecht unter dem Gesichtswinkel des Willkürverbots (BGE 138 I 242 E. 5.2 S. 245 mit Hinweisen).

6.2 Gemäss der Verfassung des Kantons Thurgau vom 16. März 1987 (SR 131.228) sind die Gemeinden selbständige Körperschaften des öffentlichen Rechts (§ 57 Abs. 1 KV/TG). Die politischen Gemeinden sind Trägerinnen des Bürgerrechts (§ 57 Abs. 2 letzter Satz KV/TG; vgl. auch § 3 Abs. 1 des thurgauischen Gesetzes vom 14. August 1991 über das Kantons- und Gemeindebürgerrecht [KBüG; RB 141.1] in der hier anwendbaren Fassung vom 5. Mai 1999). Sie erfüllen die Aufgaben im eigenen Bereich selbständig (§ 59 Abs. 3 KV/TG), sind mithin insoweit und insbesondere in Belangen des Bürgerrechts mit Autonomie ausgestattet.

6.3 Die Voraussetzungen an die Eignung einer Person zur Einbürgerung sind als Mindestvorschriften (vgl. Art. 38 Abs. 2 BV) in Art. 14 des Bürgerrechtsgesetzes vom 29. September 1952 (BüG; SR 141.0) umschrieben. Die Kantone sind in der Ausgestaltung der Einbürgerungsvoraussetzungen insoweit frei, als sie hinsichtlich der Wohnsitzerfordernisse oder der Eignung Konkretisierungen vornehmen können (BGE 138 I 242 E. 5.3 S. 245). Nach § 6 KBüG (in Umsetzung von Art. 14 BüG) setzt die Einbürgerung einer ausländischen Person voraus, dass sie dazu geeignet ist. Dabei ist durch die zuständige Gemeindebehörde insbesondere zu prüfen, ob die gesuchstellende Person in die örtlichen, kantonalen und schweizerischen Verhältnisse eingegliedert ist, mit den Lebensgewohnheiten,
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Sitten und Gebräuchen des Landes vertraut ist, die Rechtsordnung beachtet und die innere und äussere Sicherheit der Schweiz nicht gefährdet sowie über eine ausreichende Existenzgrundlage verfügt.

7.

7.1 Die Beschwerdeführerin sieht sinngemäss darin eine Verletzung ihrer Autonomie, dass die Vorinstanz die rechtliche Tragweite des Diskriminierungsverbots falsch beurteilt habe.

7.2 Gemäss Art. 8 Abs. 2 BV darf niemand diskriminiert werden, namentlich nicht wegen seiner Herkunft und der religiösen, weltanschaulichen oder politischen Überzeugung oder ausdrücklich auch wegen einer körperlichen, geistigen oder psychischen Behinderung.

7.2.1 Eine Diskriminierung liegt vor, wenn eine Person ungleich behandelt wird allein aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe, welche historisch oder in der gegenwärtigen sozialen Wirklichkeit tendenziell ausgegrenzt oder als minderwertig angesehen wird. Die Diskriminierung stellt eine qualifizierte Ungleichbehandlung von Personen in vergleichbaren Situationen dar, indem sie eine Benachteiligung von Menschen bewirkt, die als Herabwürdigung oder Ausgrenzung einzustufen ist, weil sie an Unterscheidungsmerkmalen anknüpft, die einen wesentlichen und nicht oder nur schwer aufgebbaren Bestandteil der Identität der betroffenen Personen ausmachen; insofern beschlägt das Diskriminierungsverbot auch Aspekte der Menschenwürde nach Art. 7 BV. Eine indirekte oder mittelbare Diskriminierung liegt demgegenüber vor, wenn eine Regelung, die keine offensichtliche Benachteiligung von spezifisch gegen Diskriminierung geschützten Gruppen enthält, in ihren tatsächlichen Auswirkungen Angehörige einer solchen Gruppe besonders benachteiligt, ohne dass dies sachlich begründet wäre (BGE 138 I 305 E. 3.3 S. 316 f.; BGE 135 I 49 E. 4.1 S. 53 f. mit Hinweisen).

7.2.2 Auch wenn die Abgrenzung von direkter und indirekter Diskriminierung nicht leicht fällt, wird etwa von Letzterer ausgegangen, wenn ein Rechtsakt bzw. dessen Anwendung nicht der Form nach, sondern aufgrund der Auswirkungen für eine bestimmte geschützte Personengruppe eine qualifiziert rechtsungleiche Schlechterstellung zur Folge haben kann. Gleichermassen wird eine solche angenommen, wenn eine Norm neutrale Differenzierungen aufweist und besonders geschützte Personengruppen in spezifischer Weise rechtsungleich trifft oder aber wenn mangels erforderlicher
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Differenzierung eine des Schutzes bedürftige Gruppe besonders benachteiligt wird (BGE 135 I 49 E. 4.3 S. 55).

7.2.3 Das Diskriminierungsverbot gemäss Art. 8 Abs. 2 BV schliesst die Anknüpfung an ein verpöntes Merkmal nicht absolut aus. Eine solche begründet zunächst lediglich den blossen Verdacht einer unzulässigen Differenzierung. Dieser kann durch eine qualifizierte Rechtfertigung umgestossen werden (BGE 138 I 305 E. 3.3 S. 316 f.; BGE 135 I 49 E. 4.1 S. 53 f. mit Hinweisen).

7.2.4 Gemäss Art. 8 Abs. 2 BV bilden Personen mit einer körperlichen, geistigen oder psychischen Behinderung eine spezifische Gruppe. Es zählen dazu Personen, die in ihren körperlichen, geistigen oder psychischen Fähigkeiten auf Dauer beeinträchtigt sind und für welche die Beeinträchtigung je nach ihrer Form schwerwiegende Auswirkungen auf elementare Aspekte der Lebensführung hat. Mit Blick auf die Einbürgerung von Behinderten ist mithin entscheidend, ob ihnen insgesamt oder einer bestimmten abgrenzbaren Untergruppe von ihnen durch eine anwendbare Regelung oder durch die Umsetzung derselben in der Praxis rechtlich oder faktisch dauernd verunmöglicht wird, sich einbürgern zu lassen. Trifft dies zu, ist zu prüfen, ob die Nichteinbürgerung ein gewichtiges und legitimes öffentliches Interesse verfolgt, als geeignet und erforderlich betrachtet werden kann und sich gesamthaft als verhältnismässig erweist (vgl. BGE 135 I 49 E. 6.1 S. 58 f.). Für diese Prüfung der allfälligen Rechtfertigung einer nachteiligen Massnahme ist entscheidend auf die gesamten massgeblichen Umstände des Einzelfalles und die entsprechenden konkreten Schutzbedürfnisse abzustellen (vgl. MÜLLER/SCHEFER, Grundrechte in der Schweiz, 4. Aufl. 2008, S. 757 f.). Bei der Umsetzung der gesetzlichen Einbürgerungskriterien sind dabei die konkreten Fähigkeiten der behinderten Personen zu berücksichtigen bzw. die Einhaltung der entsprechenden Voraussetzungen ist in einer an den spezifischen Möglichkeiten ausgerichteten und diese angemessen würdigenden Art und Weise zu prüfen.

7.3 Die Beschwerdeführerin macht geltend, schon wiederholt Behinderte eingebürgert zu haben, weshalb sie den Vorwurf der Diskriminierung derselben zurückweise. Sie habe der Beschwerdegegnerin die Erteilung des Bürgerrechts im Wesentlichen deshalb verweigert, weil diese aufgrund ihrer geistigen Behinderung gar keinen Willen zur Einbürgerung habe. Die Vorinstanz beurteilte dies als diskriminierend. Während die Beschwerdeführerin darin einen
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Einbürgerungsautomatismus sieht, erachtete das Verwaltungsgericht das Kriterium der Beschwerdeführerin als undifferenzierten Ausschluss einer ganzen Gruppe von der Einbürgerung. Das Verwaltungsgericht leitete aus verschiedenen Umständen bei der Beschwerdegegnerin einen mutmasslichen Einbürgerungswillen ab.

7.3.1 Es ist erstellt und nicht strittig, dass die Beschwerdegegnerin in geistiger Hinsicht ein Niveau aufweist, das dem Stand eines Kleinkindes entspricht. Es ist daher davon auszugehen, dass sie die Tragweite einer Einbürgerung tatsächlich nicht bzw. jedenfalls nicht vollumfänglich erfasst. Wird gestützt darauf die Einbürgerung verweigert, wird indessen eine ganze Untergruppe von Behinderten, nämlich diejenige, die sich aus solchen Menschen zusammensetzt, denen es an der Urteilsfähigkeit hinsichtlich einer Einbürgerung fehlt, von der Erteilung des Bürgerrechts ausgeschlossen. Auch wenn sich die Praxis der Beschwerdeführerin an einem grundsätzlich objektiven Kriterium ausrichtet und nicht auf eine Benachteiligung abzielt, hat sie doch zumindest indirekt diesen diskriminierenden Effekt. Das wird zusätzlich dadurch unterstrichen, dass das Gesetz die Einbürgerung mangels Urteilsfähigkeit nicht nur nicht ausschliesst, sondern sogar ausdrücklich vorsieht. In diesem Sinne bestimmen die Art. 33 und 34 BüG, dass Unmündige durch ihren gesetzlichen Vertreter ein Gesuch um Einbürgerung zu stellen vermögen. In Konkretisierung des Bundesrechts regeln die §§ 8 und 9 KBüG die Einbürgerung unmündiger Kinder im Kanton Thurgau. Gemäss § 8 KBüG können ebenfalls entmündigte Personen über ihren gesetzlichen Vertreter um selbständige Einbürgerung ersuchen. § 8 Abs. 2 KBüG schreibt vor, dass Urteilsfähige das Gesuch mitzuunterzeichnen haben. Urteilsunfähige sind davon e contrario dispensiert, nicht aber von der Einbürgerung als solcher ausgeschlossen. Die Gesetzesordnung von Bund und Kanton stellt die Einbürgerung demnach nicht unter den Vorbehalt der entsprechenden Urteilsfähigkeit beim Einzubürgernden selbst. Diese gesetzliche Ordnung dient nicht zuletzt der Chancengleichheit von wegen geistiger Behinderung Urteilsunfähigen bei der Einbürgerung und ist in den Zusammenhang mit dem in Art. 8 Abs. 4 BV enthaltenen Gesetzgebungsauftrag zur Beseitigung von Benachteiligungen wegen Behinderung zu stellen (vgl. BERNHARD WALDMANN, Das Diskriminierungsverbot von Art. 8 Abs. 2 BV als besonderer Gleichheitssatz, 2003, S. 428 ff.). Der im Einzelfall gefällte Entscheid, die Beschwerdegegnerin als geistig Behinderte mangels eigenen Willens
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zur Einbürgerung von derselben auszuschliessen, entspricht mithin nicht der gesetzlichen Ordnung und erweist sich aufgrund seiner generellen Wirkung, die zumindest alle dem Kleinkindalter entwachsenen Personen trifft, denen die Urteilsfähigkeit hinsichtlich der Einbürgerung abgeht, als diskriminierend.

7.3.2 Die Beurteilung der Praxis der Beschwerdeführerin als grundsätzlich diskriminierend führt entgegen deren Auffassung nicht zu einem Einbürgerungsautomatismus bei geistiger Behinderung ohne nähere Prüfung des Einzelfalles. Vielmehr ist in jedem Fall aufgrund der konkreten Umstände zu prüfen, ob die Nichteinbürgerung ein gewichtiges und legitimes öffentliches Interesse verfolgt, als geeignet und erforderlich betrachtet werden kann und sich gesamthaft als verhältnismässig erweist. Nicht das einzige, aber ein wichtiges Kriterium spielt dabei der mutmassliche Wille der betroffenen Person zur Einbürgerung.

7.3.3 Die Vorinstanz stellte fest, dass die Beschwerdegegnerin seit ihrem fünften Altersjahr in der Schweiz lebt und unter der Woche in einer geeigneten Institution untergebracht ist. Sie ist mit den schweizerischen Verhältnissen vertraut, versteht offenbar, soweit dies ihrem geistigen Niveau entspricht, Schweizer- und Hochdeutsch und kann sich unter Benutzung eines speziellen Computers auch in diesen Sprachen äussern. Diese Feststellungen sind unstrittig und für das Bundesgericht verbindlich (nicht publ. E. 5). Zwar haben die Eltern offenbar nie für sich selbst ein Einbürgerungsgesuch eingereicht. Dasjenige für die Beschwerdegegnerin wurde aber ursprünglich, als diese noch minderjährig war, von ihnen gestellt. Die Schwester und der Bruder der Beschwerdegegnerin sind bereits eingebürgert. Die Schwester, die bei Volljährigkeit der Beschwerdegegnerin als ihre Vormundin (heute: umfassende Beiständin) bestellt wurde, übernahm auch ihre Vertretung im Einbürgerungsverfahren und äusserte sich deutlich dazu, das Einbürgerungsgesuch zu befürworten. Dieser Willensäusserung kommt mit Blick auf Art. 34 Abs. 1 BüG sowie § 8 KBüG entscheidende Bedeutung zu. Die Beschwerdeführerin wendet dagegen ein, die Beschwerdegegnerin unterhalte weiterhin zu ihren Eltern, wo sie sich insbesondere regelmässig am Wochenende aufhalte, die engere Beziehung als zur Schwester und der Umstand, dass sich die Eltern nicht hätten einbürgern lassen, spreche gegen den mutmasslichen Einbürgerungswillen bei der Beschwerdegegnerin. Dem ist entgegenzuhalten, dass es gerade die Eltern waren, die ursprünglich das
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Einbürgerungsgesuch für die Beschwerdegegnerin eingereicht und dabei vermutlich deren Situation von der eigenen sehr wohl unterschieden hatten. Insgesamt ist daher davon auszugehen, dass urteilsfähige Personen in einer ähnlichen Lebenssituation mit vergleichbarem Lebenshintergrund selbst ebenfalls ein Einbürgerungsgesuch gestellt hätten.

7.3.4 Im Übrigen liegt es im Interesse der Beschwerdegegnerin, in der Schweiz, wo sie seit Kindheit lebt und wo sie höchstwahrscheinlich bleiben wird, diejenige wirtschaftliche, politische und soziale Stabilität und Sicherheit anzustreben, die ihr als Staatsbürgerin in besonderem Mass zuteil wird. Selbst wenn die soziale Sicherheit in materieller Hinsicht nicht von der Staatsangehörigkeit abhängt, hat die Beschwerdegegnerin nicht nur ein ideelles, sondern auch ein eigentlich rechtliches Interesse an der Einbürgerung. Eine solche würde ihr insbesondere - nur schon mit Blick auf den Ausweisungsschutz gemäss Art. 25 Abs. 1 BV - einen gesicherteren Status in der Schweiz einräumen als derjenige, über den sie bisher als Ausländerin verfügt (vgl. BGE 135 I 49 E. 6.3 S. 62).

7.3.5 Die Beschwerdeführerin vermag keine Argumente gegen die Einbürgerung vorzubringen ausser demjenigen, dass es der Beschwerdegegnerin am Einbürgerungswillen fehle. Dass dies anhand der konkreten Umstände mutmasslich widerlegt werden kann und die Einbürgerung im klaren Interesse der Beschwerdegegnerin steht, wurde bereits dargelegt. Insgesamt verfolgt die Verweigerung des Bürgerrechts an die Beschwerdegegnerin weder ein gewichtiges und legitimes öffentliches Interesse noch erscheint sie als erforderlich sowie als gesamthaft verhältnismässig, um die erkannte Diskriminierung der Beschwerdegegnerin als geistig Behinderte zu rechtfertigen. Schliesslich gibt es keine Anhaltspunkte dafür und es ist auch nicht ersichtlich, dass der angefochtene Entscheid willkürlich wäre. Insbesondere stellte die Vorinstanz zumindest implizite fest, dass die Beschwerdegegnerin, soweit dies zugeschnitten auf ihre Situation beurteilt wird, durchaus in der Schweiz integriert ist. Das bestreitet auch die Beschwerdeführerin nicht. Analoges gilt grundsätzlich für die übrigen Voraussetzungen einer ordentlichen Einbürgerung.

7.4 Das Verwaltungsgericht verstiess mithin nicht gegen die Gemeindeautonomie der Beschwerdeführerin, indem es die Nichteinbürgerung der Beschwerdegegnerin wie das Departement als Verletzung des Diskriminierungsverbots beurteilte.
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8.

8.1 Schliesslich beantragt die Beschwerdeführerin, selbst bei Abweisung der Beschwerde in der Sache diese zumindest in dem Sinne gutzuheissen, dass die Angelegenheit an das kantonale Departement für Justiz und Sicherheit zurückzuweisen und dieses anzuweisen sei, die Erteilung des Gemeindebürgerrechts direkt zu verfügen. Eine Rückweisung an die Gemeindeversammlung, wie vom Departement angeordnet, sei wenig sinnvoll, da aufgrund der ursprünglich klaren Beschlussfassung derselben ein hohes Risiko bestehe, dass die Einbürgerung erneut abgelehnt werde.

8.2 Der Antrag der Beschwerdeführerin zielt darauf ab, einen möglichen Konflikt zwischen den Rechtsmittelentscheiden und der Gemeindeversammlung zu vermeiden. Das ist zwar nachvollziehbar. Die vom Departement verfügte und vom Verwaltungsgericht bestätigte Rückweisung an die Gemeindeversammlung bedeutet aber nicht einen Eingriff in die oder gar eine Verletzung der Gemeindeautonomie. Im Gegenteil beruht die Rückweisung darauf, dass im Kanton Thurgau die politischen Gemeinden Trägerinnen des Bürgerrechts sind (vgl. § 57 Abs. 2 letzter Satz KV/TG und § 3 Abs. 1 KBüG). Sie dient demnach gerade der Verwirklichung der Gemeindeautonomie und eine Ersatzvornahme durch den Kanton wäre besonders zu rechtfertigen, wie dies etwa bei mehrmaliger erfolgloser Rückweisung bzw. aufgrund der damit verbundenen wiederholten Verfassungsverletzungen zutreffen kann (vgl. BGE 135 I 265 E. 4 S. 274 ff.). Hingegen ist die Rückweisung an die Gemeinde bei Gutheissung eines Rechtsmittels gegen einen erstmaligen kommunalen Nichteinbürgerungsentscheid durchaus üblich (vgl. etwa das Urteil des Bundesgerichts 1D_11/2007 vom 27. Februar 2008 E. 6, nicht publ. in: BGE 134 I 56).

8.3 Im vorliegenden Fall erging die Rückweisung erstmalig und sie wurde überdies nicht unmittelbar mit der Weisung zur Erteilung des Gemeindebürgerrechts verbunden; vielmehr erfolgte sie zur Neubeurteilung des Falles, womit sie auch insoweit die Autonomie der Beschwerdeführerin wahrt (vgl. dazu die Urteile des Bundesgerichts 1D_1/2011 vom 13. April 2011 E. 4, nicht publ. in: BGE 137 I 235; 1C_246/2008 vom 17. November 2008 E. 5), obwohl dieser aufgrund der Rechtslage kein grosser Spielraum mehr verbleiben dürfte, sofern sich die Sachlage nicht entscheidend verändert hat. Fehlt es mithin an einem Eingriff in die Gemeindeautonomie, steht von vornherein auch keine Verletzung von Verfassungsrecht in
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Frage, welche die Beschwerdeführerin mit subsidiärer Verfassungsbeschwerde rügen und worauf sich ihr entsprechender Antrag stützen könnte. Dieser stösst mithin ins Leere, und es kann ihm mangels massgeblichen Verfassungsverstosses keine Folge geleistet werden.

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Erwägungen 6 7 8

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