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Urteilskopf

139 V 570


74. Auszug aus dem Urteil der II. sozialrechtlichen Abteilung i.S. A. gegen Amt für AHV und IV des Kantons Thurgau (Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten)
9C_672/2013 vom 22. November 2013

Regeste

Art. 9 Abs. 1 ELG; Art. 30 ELV; Art. 25 Abs. 2 ATSG; Beginn der relativen einjährigen Verwirkungsfrist.
Aus Art. 9 Abs. 1 ELG, wonach die Ergänzungsleistung in der Regel für die Dauer eines Jahres festgesetzt wird, somit jährlich neu zu berechnen ist, folgt nicht, dass von einer zumutbaren Kenntnis der EL-Durchführungsstelle von einer allfälligen fehlerhaften erstmaligen Anspruchsberechnung und Leistungsfestsetzung von Gesetzes wegen auszugehen wäre, wie dies im Rahmen der periodisch, mindestens alle vier Jahre vorzunehmenden Überprüfung der wirtschaftlichen Verhältnisse nach Art. 30 ELV der Fall ist (E. 3.1).

Sachverhalt ab Seite 571

BGE 139 V 570 S. 571

A. A. bezog ab 1. September 2010 Ergänzungsleistungen (EL) zur Altersrente der AHV (Verfügung vom 29. Oktober 2010), welche in der Folge mehrmals neu berechnet wurde. Im November 2012 nahm das Amt für AHV und IV, Ausgleichskasse, des Kantons Thurgau im Rahmen der periodischen Überprüfung der wirtschaftlichen Verhältnisse eine Neuberechnung der EL vor. Diese ergab für die Zeit vom 1. September 2010 bis 30. November 2012 zu viel ausbezahlte Leistungen in der Höhe von Fr. 29'822.-. Mit Verfügung vom 14. November 2012 forderte die Ausgleichskasse diesen Betrag zurück und setzte den Anspruch für Dezember 2012 auf Fr. 1'728.- fest. Die dagegen erhobene Einsprache wies das Amt für AHV und IV, Rechts- und Einsprachedienst, mit Entscheid vom 13. März 2013 ab.

B. In teilweiser Gutheissung der Beschwerde der A. änderte das Verwaltungsgericht des Kantons Thurgau als Versicherungsgericht mit Entscheid vom 17. Juli 2013 den angefochtenen Einspracheentscheid dahingehend ab, dass es den Rückforderungsbetrag (für die Monate Dezember 2010 bis November 2012) auf Fr. 28'850.- festsetzte.

C. Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten beantragt A., der Entscheid vom 17. Juli 2013 sei aufzuheben und von der Rückforderung über Fr. 28'850.- sei abzusehen.
Das Bundesgericht weist die Beschwerde ab.

Erwägungen

Aus den Erwägungen:

1. Nach verbindlicher, im Übrigen unbestrittener Feststellung der Vorinstanz (Art. 105 Abs. 1 und 2 BGG) war bei der ursprünglichen EL-Berechnung ein zu hoher Mietzins als Ausgabe anerkannt worden, indem unberücksichtigt blieb, dass die 1980 geborene Tochter der Beschwerdeführerin im selben Haushalt wohnte (vgl. Art. 10 Abs. 1 lit. b ELG [SR 831.30] und Art. 16c ELV [SR 831.301]). Ebenfalls erfolgte keine Anrechnung des Freizügigkeitsguthabens des Ehemannes samt Zins ab dem frühestmöglichen Bezugszeitpunkt nach Vollendung des 60. Altersjahres am 6. April 2011 (Art. 16 Abs. 1 FZV [SR 831.425]; vgl. Art. 11 Abs. 1 lit. b und c ELG).

2. Mit Bezug auf die einzig streitige Frage, ob der Rückforderungsanspruch bei Erlass der Verfügung vom 14. November 2012 verwirkt war (Art. 25 Abs. 2 ATSG [SR 830.1]; BGE 138 V 74 E. 4 S. 77), steht sodann fest, dass die Beschwerdeführerin im
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Anmeldeformular angegeben hatte, dass drei Personen - ausser ihr und ihrem Ehemann auch die Tochter - in ihrem Haushalt lebten. Das Freizügigkeitskonto ihres Ehegatten wurde nicht erwähnt und auch später nicht mitgeteilt, als das Guthaben hätte bezogen werden können. Erst im Rahmen der Überprüfung der wirtschaftlichen Verhältnisse per September 2012 wurde - auf dem Beiblatt 6 (BVG-Leistungen) - das Freizügigkeitskonto samt derzeitigem Kontostand angegeben.

3.

3.1 Es ist - zu Recht - unbestritten, dass die versehentliche Nichtberücksichtigung des Umstandes der im Haushalt der Beschwerdeführerin wohnenden Tochter bei der Festsetzung des Mietzinses als anerkannte Ausgabe bei der EL-Berechnung in der Verfügung vom 29. Oktober 2010 die relative einjährige Verwirkungsfrist für die Geltendmachung einer Rückforderung nicht auszulösen vermochte. Diesbezüglich massgebend ist jener Zeitpunkt, in dem die Beschwerdegegnerin später bei der gebotenen und zumutbaren Aufmerksamkeit, etwa aufgrund eines zusätzlichen Indizes, den Fehler hätte erkennen können und dass die Voraussetzungen für eine Rückforderung gegeben sind (Urteil 9C_877/2010 vom 28. März 2011 E. 4.2.1 mit Hinweisen). Dieser Rechtsprechung liegt u.a. die Überlegung zugrunde, dass bei einer Neuberechnung der EL grundsätzlich bloss die dazu Anlass gebenden Änderungen tatsächlicher oder rechtlicher Natur zu beachten und zu berücksichtigen sind. Dagegen ist nicht jedes Mal bzw. lediglich bei entsprechenden Anhaltspunkten zu prüfen, ob die Angaben im Anmeldeformular seinerzeit auch richtig umgesetzt worden waren. Anders verhält es sich bei der periodischen, mindestens alle vier Jahre vorzunehmenden Überprüfung der wirtschaftlichen Verhältnisse. Spätestens in diesem Zeitpunkt gilt eine allenfalls unrechtmässige Leistungsausrichtung als erkennbar, sodass die relative einjährige Verwirkungsfrist zu laufen beginnt, sobald der Rückforderungsanspruch als solcher und betragsmässig feststeht (Art. 30 ELV; SVR 2011 EL Nr. 7 S. 21, 9C_999/2009 E. 3.2.1 mit Hinweis). Darüber hinaus ist jedoch nicht - mit Blick darauf, dass die Ergänzungsleistung in der Regel für die Dauer eines Jahres festgesetzt wird (Art. 9 Abs. 1 ELG; BGE 128 V 39), somit jährlich neu zu berechnen ist - von einer zumutbaren Kenntnis der EL-Durchführungsstelle von einer allfälligen fehlerhaften erstmaligen Anspruchsberechnung und Leistungsfestsetzung von Gesetzes wegen auszugehen (offengelassen im Urteil 9C_999/2009 vom 7. Juni 2010 E. 3.2.1). Eine jährliche Verifizierung jeder einzelnen
BGE 139 V 570 S. 573
Position in der EL-Berechnung stellte einen im Rahmen der Massenverwaltung kaum zu bewältigenden Aufwand dar, welchem Umstand der Verordnungsgeber mit Art. 30 ELV, wonach die wirtschaftlichen Verhältnisse periodisch, mindestens alle vier Jahre zu überprüfen sind, in gesetzeskonformer Weise Rechnung getragen hat.

3.2

3.2.1 Die Vorinstanz hat festgestellt, die Frage nach der Anzahl der mit der Beschwerdeführerin im selben Haushalt wohnenden Personen sei auch anlässlich der folgenden EL-Berechnungen (Verfügungen vom 23. Dezember 2010, 21. Februar, 12. und 31. Mai 2011) nicht thematisiert worden. Das Zusammenleben mit der Tochter ergebe sich denn auch nicht aus den vorliegenden Akten. Erst anlässlich der im September 2012 eingeleiteten Revision sei diese Tatsache festgestellt worden. Mit Erlass der Rückerstattungsverfügung vom 14. November 2012 sei somit die einjährige Verwirkungsfrist gewahrt. Die Beschwerdeführerin bestreitet nicht, dass der Mietzins nicht der Grund für die verschiedenen EL-Neuberechnungen im Zeitraum Dezember 2010 bis Mai 2011 war. Umstände, welche die Beschwerdegegnerin bei der gebotenen Aufmerksamkeit hätten veranlassen müssen, auch diese Berechnungsposition zu überprüfen, und zwar anhand der Akten, welche der erstmaligen EL-Zusprechung zugrunde lagen, insbesondere der Angaben im Anmeldeformular, bringt sie jedoch nicht vor. Die erwähnten Berechnungen waren auch nicht anlässlich einer Überprüfung der wirtschaftlichen Verhältnisse gestützt auf Art. 30 ELV erfolgt.

3.2.2 Mit Bezug auf das erstmals im Oktober 2012 erwähnte Freizügigkeitskonto bringt die Beschwerdeführerin vor, sie habe bei der Erstanmeldung das Beiblatt 6 (BVG-Leistungen) nicht erhalten. Dieses habe somit bei den eingereichten Unterlagen gefehlt und hätte von der Beschwerdegegnerin nachgefordert bzw. eingeholt werden müssen. Bei diesem Vorgehen hätte das Freizügigkeitsguthaben rechtzeitig bei der Berechnung des Vermögensverzehrs berücksichtigt werden können. Dem kann nicht beigepflichtet werden. Unter Ziff. 19 "Erhalten Sie eine BVG-Rente?" im Anmeldeformular vom 30. August 2010 fand sich fett gedruckt der Vermerk "Bitte Beiblatt 6 (BVG Leistungen) ausfüllen". Fehlte das betreffende Formular tatsächlich, wäre es Sache der Beschwerdeführerin gewesen, dies der Beschwerdegegnerin zu melden. Es kommt dazu, dass Ziff. 10 des
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Anmeldeformulars nach sonstigem Vermögen der EL-Ansprecherin und ihres Ehemannes fragte, was verneint wurde. Es wären somit sämtliche Aktiven anzugeben gewesen, wozu unzweifelhaft auch ein Freizügigkeitskonto gehört (Urteil 9C_112/2011 vom 5. August 2011 E. 2). Im Übrigen gilt das im Zusammenhang mit dem Mietzins Gesagte.

3.3 Der masslich nicht bestrittene Rückforderungsanspruch ist somit nicht verwirkt. Die Beschwerde ist unbegründet.

Inhalt

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Regeste: deutsch französisch italienisch

Sachverhalt

Erwägungen 1 2 3

Referenzen

BGE: 138 V 74, 128 V 39

Artikel: Art. 30 ELV, Art. 9 Abs. 1 ELG, Art. 25 Abs. 2 ATSG, Art. 105 Abs. 1 und 2 BGG mehr...