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Urteilskopf

92 IV 33


10. Urteil des Kassationshofes vom 4. März 1966 i.S. Jörg gegen Polizeirichteramt der Stadt Zürich.

Regeste

1. Art. 45 Abs. 1 VRV. Besondere Vorsichtspflicht des Strassenbahnführers beim Kreuzen auf schmalen Strassen und beim Fahren gegen die Richtung des übrigen Verkehrs. Zur besonderen Vorsicht gehört, dass der Strassenbahnführer sich vergewissert, ob ein in der Nähe des Geleises angehaltenes Motorfahrzeug nicht durch die beim Fahren in der Kurve sich vergrössernde Ausladung des Strassenbahnwagens gefährdet werde (Erw. 1 und 2).
2. Art. 100 Ziff. 1 Abs. 2 SVG. Keine Ermessensüberschreitung in der Verneinung eines besonders leichten Falles (Erw. 3).

Sachverhalt ab Seite 33

BGE 92 IV 33 S. 33

A.- Jörg, Wagenführer der Forchbahn, führte am Abend des 3. Mai 1964, kurz nach 23 Uhr, einen Motorwagen durch die Gottfried Keller-Strasse in Zürich Richtung Stadelhoferstrasse. Gleichzeitig fuhr Leupp mit einem Personenwagen Simca von der Stadelhoferstrasse in die Gottfried Keller-Strasse ein in der Absicht, durch diese ca. 6 m breite Einbahnstrasse Richtung See weiterzufahren. Da am rechten Rande dieser
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Strasse Autos abgestellt waren, blieb zum Kreuzen mit der Bahn nicht genug Platz. Leupp und Jörg hielten deshalb an, und Leupp fuhr, um der Bahn das Geleise freizugeben, rückwärts, bis er wegen andern Fahrzeugen, die hinter ihm folgten, anhalten musste. Darauf setzte Jörg den Motorwagen wieder in Bewegung und fuhr durch die Rechtskurve aus der Gottfried Keller-Strasse in die Stadelhoferstrasse ein. Er war fast mit der ganzen Länge seines Wagens durchgekommen, als das linke hintere Stossbalkenende des Bahnfahrzeuges den vordern linken Teil des Wagens von Leupp erfasste und diesen gegen ein dahinter stehendes Auto zurückschob. Der Vorfall war darauf zurückzuführen, dass das hintere Lichtraumprofil des Bahnwagens an jener Stelle 40 cm weiter hinausragte als das vordere.

B.- Durch Verfügung vom 5. April 1965 büsste der Polizeirichter der Stadt Zürich Jörg wegen Übertretung von Art. 45 Abs. 1 VRV mit Fr. 20. -.
Auf Einsprache von Jörg bestätigte der Einzelrichter in Strafsachen des Bezirksgerichts Zürich am 18. November 1965 die Busse.

C.- Jörg führt Nichtigkeitsbeschwerde mit dem Antrag, er sei freizusprechen, eventuell straflos zu erklären.

Erwägungen

Der Kassationshof zieht in Erwägung:

1. Nach Art. 45 Abs. 1 VRV haben die Führer von Strassenbahnen u.a. beim Kreuzen auf schmalen Strassen und beim Fahren gegen die Richtung des übrigen Verkehrs besonders vorsichtig zu fahren.
Unter schmalen Strassen sind sinngemäss auch solche zu verstehen, die wie die Gottfried Keller-Strasse an sich breit genug sind, dass normalerweise gefahrlos gekreuzt werden kann, wo aber das Kreuzen durch besondere Hindernisse, z.B. abgestellte Wagen, erschwert wird. Jedenfalls fuhr der Beschwerdeführer gegen die Richtung des übrigen Verkehrs, da die Gottfried Keller-Strasse andern Fahrzeugen als der Strassenbahn einzig von der Stadelhoferstrasse her seewärts offen stand und der vom Beschwerdeführer geführte Strassenbahnwagen in entgegengesetzter Richtung fuhr. Für diese Tatsache und damit auch für die Anwendbarkeit des Art. 45 Abs. 1 VRV ist entgegen der Auffassung des Beschwerdeführers ohne Bedeutung, ob sich der Unfall auch ereignet hätte, wenn der Wagen von Leupp
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in der gleichen Richtung wie die Strassenbahn gefahren wäre. Die Verletzung von Verkehrsregeln des SVG und der Vollziehungsvorschriften ist als solche, um der Verkehrssicherheit willen, unter Strafe gestellt, ohne Rücksicht darauf, ob sie zu einem Unfall führt und ob es auch unter andern Umständen zu einem solchen gekommen wäre.

2. Nach der verbindlichen Feststellung der Vorinstanz wurde das angehaltene Auto vom hintern linken Stossbalkenende des vorbeifahrenden Strassenbahnwagens erfasst, weil der hintere Teil des Bahnwagens um 40 cm weiter über das Geleise hinausragte als der Vorderteil. Das hängt damit zusammen, dass bei der Stelle, wo das Auto stand, das Strassenbahngeleise nach einer geraden Strecke einen Bogen nach rechts zu beschreiben begann, auf dem die Bahn aus der Gottfried Keller-Strasse in die Stadelhoferstrasse gelangte. Als der Bahnwagen jene Stelle erreichte, befand er sich noch auf der Geraden, was erklärt, dass zu Beginn der Vorbeifahrt seine seitliche Ausladung vorne wie hinten dem Normalmass von 70 cm entsprach. Nach der Einfahrt in die Biegung vergrösserte sich aber die Ausladung zwangsläufig, da in einer engen Kurve der äussere Geleisebogen von den Enden eines über 15 m langen Schienenfahrzeuges, namentlich wenn ihr Abstand zur Radachse verhältnismässig gross ist, notwendig stärker überragt wird, als wenn sich das Fahrzeug auf einer Geraden fortbewegt. Dass das linke hintere Ende des Bahnwagens um 1,1 m und damit um 40 cm weiter in den Lichtraum hinausragte als der Vorderteil, ist daher darauf zurückzuführen, dass alle Wagenräder bereits in der Rechtskurve rollten, als der hintere Teil auf der Höhe des Autos anlangte, während der Bahnwagen, als dessen Vorderteil die gleiche Stelle befuhr, sich noch auf dem geraden Stück befand.
Die Kenntnis der Tatsache, dass bei Schienenfahrzeugen die Ausladung in Kurven grösser ist als auf geraden Strecken, wird im allgemeinen schon durch die Lebenserfahrung, insbesondere die Beobachtung von Strassenbahnen erworben, ohne dass hiezu eine besondere technische Ausbildung erforderlich ist. Umsomehr darf von einem Strassenbahnführer, der wie der Beschwerdeführer bei den Zürcher Verkehrsbetrieben die Fahrprüfung abgelegt und einige Jahre Fahrpraxis hinter sich hat, erwartet werden, dass er die unterschiedliche Weite der Ausladung kennt. Auch der Automobilist, der sich im Strassenverkehr
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vor kompliziertere Verhältnisse gestellt sieht, hat mit den Ausmassen seines Fahrzeuges und mit der Ausladung des hinteren Teils seines Wagens vertraut zu sein und kann, wenn er beim Vorwärts- oder Rückwärtsfahren das Steuer scharf abdrehen muss, sich nicht damit entschuldigen, dass er die Grösse des Einschlages der Vorderräder oder das Lichtraumprofil seines Fahrzeuges nicht gekannt habe. Dass der Beschwerdeführer auf die grössere Ausladung der Strassenbahnwagen in Kurven nicht aufmerksam gemacht worden sei, hat er übrigens im kantonalen Verfahren nicht geltend gemacht. Seine erst in der Beschwerde vorgebrachte Behauptung von der ungenügenden Instruktion ist somit neu und unzulässig (Art. 273 Abs. 1 lit. b BStP).
Der neue Einwand, selbst wenn er zutreffen sollte, könnte den Beschwerdeführer auch nicht wesentlich entlasten. Die grösstmögliche seitliche Ausladung, die von Strassenbahnwagen beim Befahren der erwähnten Rechtskurve erreicht werden kann, wird durch weisse Striche, die im entsprechenden Abstand vom äussern Geleise auf der Gottfried Keller-Strasse aufgetragen sind, gekennzeichnet. Diese Markierungslinie ist in erster Linie für die Bahnwagenführer bestimmt, damit sie feststellen können, ob beim Befahren der Rechtskurve keine Strassenfahrzeuge gefährdet werden. Der Beschwerdeführer, der mit den örtlichen Verhältnissen vertraut und über die Bedeutung der Markierung im Bilde war, hätte diese daher beachten müssen und bei pflichtgemässer Kontrolle schon beim Wiederanfahren erkennen können, dass der Wagen von Leupp über die Linie hinausragte. Nach Art. 45 Abs. 1 VRV, der vom Strassenbahnführer die Anwendung besonderer Vorsicht verlangt, war der Beschwerdeführer zur Vornahme der Kontrolle auch dann verpflichtet, wenn die Markierungslinie wegen Abnutzung und künstlicher Beleuchtung schlecht sichtbar gewesen sein sollte. Er kann die Vernachlässigung seiner Pflicht auch nicht mit dem Hinweis auf Art. 38 Abs. 1 SVG rechtfertigen. Wenn der Kassationshof in BGE 90 IV 258 erklärte, der Strassenbahnführer müsse sich darauf verlassen können, dass sich kein anderes Fahrzeug näher als 1,5 m neben der nächsten Schiene aufhalte, so heisst das selbstverständlich nicht, dass der Strassenbahnführer seine eigene besondere Kontrollpflicht ausser acht lassen und unbekümmert darum, ob ein Strassenfahrzeug genügenden Abstand von der Schiene wahre, weiterfahren dürfe.
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Der Beschwerdeführer hat daher, obschon er wegen des entgegenkommenden Autos anhielt und nach dess enAusweichbewegung langsam an ihm vorbeifuhr, dadurch, dass er die Prüfung unterliess, ob es ausserhalb der markierten Sicherheitsgrenze stehe, der vorgeschriebenen besonderen Vorsichtspflicht nicht genügt.

3. Mag auch das Verschulden des Beschwerdeführers als leicht angesehen werden, so kann die Nichtberücksichtigung einer der Verkehrssicherheit dienenden Markierungslinie angesichts der in Art. 45 Abs. 1 VRV vom Bahnwagenführer geforderten besonderen Vorsicht kaum als besonders leichter Fall im Sinne des Art. 100 Ziff. 1 Abs. 2 SVG bewertet werden. Jedenfalls wäre die Vorinstanz, auch wenn ein besonders leichter Fall angenommen werden könnte, nicht gehalten gewesen, von Strafe Umgang zu nehmen, sondern hätte die Strafloserklärung, ohne dadurch das ihr zustehende Ermessen zu überschreiten, ablehnen dürfen (vgl. BGE 91 IV 152).

Dispositiv

Demnach erkennt der Kassationshof:
Die Nichtigkeitsbeschwerde wird abgewiesen.

Inhalt

Ganzes Dokument
Regeste: deutsch französisch italienisch

Sachverhalt

Erwägungen 1 2 3

Dispositiv

Referenzen

BGE: 90 IV 258, 91 IV 152

Artikel: Art. 45 Abs. 1 VRV, Art. 100 Ziff. 1 Abs. 2 SVG, Art. 273 Abs. 1 lit. b BStP, Art. 38 Abs. 1 SVG