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Urteilskopf

107 Ia 256


51. Urteil der I. öffentlichrechtlichen Abteilung vom 8. Dezember 1981 i.S. I. gegen Generalprokurator-Stellvertreter und Anklagekammer des Obergerichts des Kantons Bern (staatsrechtliche Beschwerde)

Regeste

Persönliche Freiheit. Art. 5 Ziff. 3 EMRK. Übermässige Dauer der Untersuchungshaft.
1. Ausnahme von der kassatorischen Natur der staatsrechtlichen Beschwerde (E. 1).
2. Überschreitung der zulässigen Haftdauer, wenn die Untersuchungshaft die mutmassliche Dauer der zu erwartenden Freiheitsstrafe übersteigt (E. 2 u. 3).

Sachverhalt ab Seite 256

BGE 107 Ia 256 S. 256
Das Untersuchungsrichteramt Bern führt eine Strafuntersuchung gegen den deutschen Staatsangehörigen I. Sie erstreckt sich auf rund 145 Fälle vollendeten oder versuchten Einbruchdiebstahls in einer Reihe schweizerischer Kantone, ferner auf Betrug und Urkundenfälschung, begangen durch Einlösung gefälschter Checks, sowie auf einen Fall versuchter Erpressung. I. befindet sich seit dem 21. Mai 1979 ununterbrochen in Untersuchungshaft. Am 2. Juli 1981 stellte er ein Haftentlassungsgesuch, das abgewiesen wurde. Eine dagegen gerichtete staatsrechtliche Beschwerde wies das Bundesgericht mit Urteil vom 31. August 1981 ebenfalls ab. Am 22. Oktober 1981 stellte I. ein weiteres Gesuch um Entlassung aus der Untersuchungshaft. Dieses wurde von der Anklagekammer des Obergerichts des Kantons Bern mit Entscheid vom 28. Oktober 1981 abgewiesen.
BGE 107 Ia 256 S. 257
Dagegen führt I. staatsrechtliche Beschwerde mit dem Antrag, der angefochtene Entscheid sei aufzuheben, und es sei anzuordnen, dass er aus der Untersuchungshaft zu entlassen sei. Er beruft sich auf "bundesrechtliche und rechtsstaatliche Grundsätze", auf das Willkürverbot sowie auf "die anerkannten Normen der EMRK". Der Stellvertreter des Generalprokurators und sinngemäss auch die Anklagekammer des Obergerichts des Kantons Bern beantragen, es sei die Beschwerde abzuweisen.

Erwägungen

Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

1. Die staatsrechtliche Beschwerde ist grundsätzlich kassatorischer Natur, das heisst es kann mit ihr nur die Aufhebung des angefochtenen Entscheids, nicht aber der Erlass positiver Anordnungen durch das Bundesgericht verlangt werden. Eine Ausnahme gilt dann, wenn die von der Verfassung geforderte Lage nicht schon mit der Aufhebung des kantonalen Entscheids hergestellt wird, sondern dafür eine positive Anordnung nötig ist. Das trifft hinsichtlich einer nicht oder nicht mehr gerechtfertigten Untersuchungshaft zu (BGE 105 Ia 29 E. 1). Auf die Beschwerde ist daher auch einzutreten, soweit der Beschwerdeführer beantragt, er sei aus der Untersuchungshaft zu entlassen.
Gemäss Art. 90 Abs. 1 lit. b OG muss eine staatsrechtliche Beschwerde hinreichend begründet werden; namentlich muss in der Beschwerdeschrift dargelegt werden, welche verfassungsmässigen Rechte bzw. Rechtssätze und inwiefern sie durch den angefochtenen Entscheid verletzt worden sind. Der Beschwerdeführer macht sinngemäss eine Verletzung der persönlichen Freiheit sowie des Art. 5 Ziff. 3 EMRK geltend. Er begründet die Beschwerde nur sehr summarisch; aus dem gesamten Zusammenhang geht indessen hinreichend hervor, was er meint. Auf die Beschwerde ist daher einzutreten.

2. Der Beschwerdeführer ist wegen Fluchtgefahr inhaftiert. Er bestreitet diesen Haftgrund nicht. Seine Beschwerde richtet sich einzig gegen die Dauer der Untersuchungshaft, welche er für übermässig hält.
a) Gemäss Art. 5 Ziff. 3 EMRK hat eine in Haft gehaltene Person Anspruch darauf, innerhalb einer angemessenen Frist abgeurteilt oder während des Verfahrens aus der Haft entlassen zu werden. Dass eine an sich gerechtfertigte Untersuchungshaft nicht übermässig lang dauern darf, ergibt sich auch aus der persönlichen Freiheit (BGE 105 Ia 32 E. 4b mit Hinweisen). Eine übermässige Haft stellt eine unverhältnismässige Beschränkung dieses
BGE 107 Ia 256 S. 258
Grundrechts dar. Wird die zumutbare Grenze der Haftdauer überschritten, so muss deshalb der Inhaftierte aus der Untersuchungshaft entlassen werden, auch wenn die ihm zur Last gelegte Tat schwer und die Fluchtgefahr erheblich sein mögen. Namentlich ist in Kauf zu nehmen, dass der Verfolgte die wiedergewonnene Freiheit dazu benutzt, sich durch Flucht dem weiteren Strafverfahren zu entziehen, und dass damit der normale Abschluss des Strafverfahrens in Frage gestellt wird.
b) Wann die Dauer einer Haft als übermässig zu betrachten ist und wo die Grenze zwischen der angemessenen und nicht mehr angemessenen Frist zu ziehen ist, lässt sich nicht leicht bestimmen. Es muss hiefür das Interesse des Verfolgten an der Wiederherstellung seiner Freiheit gegenüber dem entgegenstehenden Interesse des Staats an der wirksamen Verfolgung seines Strafanspruchs abgewogen werden (BGE 105 Ia 32 E. 4b). Ähnlich wie der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (vgl. Urteile Wemhoff vom 27. Juni 1968, En droit § 5; Neumeister vom 27. Juni 1968, En droit § 5; Stögmüller vom 10. November 1969, En droit § 4; in: Publications de la Cour européenne des droits de l'homme, vol. 7, 8 u. 9) sowie die Europäische Kommission für Menschenrechte (vgl. zuletzt den Bericht im Fall Bonnechaux vom 5. Dezember 1979, in: Commission européenne des droits de l'homme, décisions et rapports 18/1980 S. 115) und teilweise in Anlehnung an deren Rechtsprechung nimmt das Bundesgericht diese Wertung anhand der konkreten Verhältnisse des einzelnen Falls vor (BGE 105 Ia 33; BGE 105 Ia 186 ff. nicht publizierte E. 5, wiedergegeben in SJIR 1980 S. 252 f.; nicht publiziertes Urteil F. vom 26. Mai 1978 E. 9; BGE BGE 102 Ia 379 ff. nicht publizierte E. 2c). Danach kann eine Haft die zulässige Dauer unter anderem dann überschreiten, wenn die Strafuntersuchung nicht genügend vorangetrieben wird, wobei sowohl das Verhalten der Justizbehörden als auch dasjenige des Inhaftierten in Betracht gezogen werden müssen.
Darüber hinaus liegt aber eine Überschreitung der zulässigen Haftdauer jedenfalls dann vor, wenn die Haftfrist die mutmassliche Dauer der zu erwartenden Freiheitsstrafe übersteigt (BGE 105 Ia 32 E. 4b). Der Haftrichter darf die Untersuchungshaft nur solange erstrecken, als ihre Dauer nicht in grosse Nähe der konkret zu erwartenden Strafe rückt; er darf nicht etwa auf die angedrohte Höchststrafe abstellen (Trechsel, Die Europäische Menschenrechtskonvention, ihr Schutz der persönlichen Freiheit und die
BGE 107 Ia 256 S. 259
schweizerischen Strafprozessrechte, Bern 1974, S. 262). Dieser Grenze ist auch deshalb besondere Beachtung zu schenken, weil das erkennende Gericht dazu neigen könnte, die Dauer der erstandenen Untersuchungshaft bei der Strafzumessung mit zu berücksichtigen (TRECHSEL a.a.O. S. 262; SCHUBARTH, Die Artikel 5 und 6 der Konvention, insbesondere im Hinblick auf das schweizerische Strafprozessrecht, in: ZSR 94/1975 I S. 489). Insofern besteht somit eine Art absolute Höchstdauer der Untersuchungshaft.

3. a) Das Bundesgericht hat im Urteil vom 31. August 1981 darauf hingewiesen, dass die lange Dauer der Untersuchungshaft vor allem vom Beschwerdeführer zu vertreten sei, dass aber auch auf Seite der Behörden gewisse, möglicherweise vermeidbare Verzögerungen aufgetreten seien. Soweit jener Beschwerde der Sinn zukam, die Untersuchungshaft sei wegen Verzögerung des Verfahrens durch das Untersuchungsrichteramt unzulässig verlängert worden, hat es sie als unbegründet bezeichnet. Der Beschwerdeführer beanstandet nun, dass die Untersuchung, entgegen der Darstellung, von der das Bundesgericht im früheren Fall auszugehen hatte, noch nicht abgeschlossen worden und die Untersuchungshaft weiterhin aufrechterhalten worden sei. Diese Verzögerung ist indessen vorwiegend durch die Erkrankung des bisherigen Untersuchungsrichters bedingt; sie vermag daher das Ergebnis jener Beurteilung noch nicht umzustossen. Es kann sich somit einzig fragen, ob die Gesamtdauer der Untersuchungshaft, objektiv betrachtet, heute nicht die Dauer des Zulässigen überschritten hat.
b) Hinsichtlich der mutmasslichen Freiheitsstrafe hat das Bundesgericht im Urteil vom 31. August 1981 festgehalten, aufgrund der Vernehmlassung des Generalprokurators, wonach der Beschwerdeführer in mehr als 20 Fällen des Einbruchdiebstahls überführt und in weiteren 21 Fällen dringend verdächtigt sei, scheine sich zu ergeben, dass die Anklagebehörde die Sache nur hinsichtlich eines eher bescheidenen Teils der insgesamt 145 untersuchten Tatbestände vor Gericht bringen wolle. Bei der Abschätzung der zu erwartenden Strafe sei ferner zu berücksichtigen, dass dem Beschwerdeführer in keinem Fall ein mit Gewalt gegen Personen verbundenes Vorgehen zur Last gelegt werde. Das Bundesgericht hat daraus geschlossen, gesamthaft betrachtet nähere sich die Untersuchung "nun rasch der Grenze, bei deren Erreichung unabhängig vom Stand des Verfahrens und vom Grad der Fluchtgefahr eine Entlassung zu erfolgen haben wird" (E. 4c S. 8 f.). Es ging dabei von der Annahme aus, die Sache könne noch im laufenden
BGE 107 Ia 256 S. 260
Jahr - in der Vernehmlassung des Generalprokurators war vom November die Rede - vom zuständigen Amtsgericht beurteilt werden.
Die Einhaltung dieses Zeitplans war nun - vorwiegend wie erwähnt wegen Erkrankung des bisherigen Untersuchungsrichters - nicht möglich. In einem Amtsbericht vom 27. November 1981 teilt der Präsident der Anklagekammer mit, es habe eine Konferenz sämtlicher Strafbehörden stattgefunden, denen es obliege, den Fall zum Abschluss zu bringen. Dabei sei festgelegt worden, die Sache sei bis zum 12. Januar 1982 zur Überweisung zu bringen, und für die Hauptverhandlung vor Amtsgericht seien bereits die Tage vom 25. bis 28. Januar 1982 reserviert worden.
Mit diesem neuen Zeitplan wird die im früheren Urteil des Bundesgerichts in Betracht gezogene Haftdauer um rund einen Monat überschritten; die Dauer der Untersuchungshaft wird danach bis zur Beurteilung durch die erste Instanz etwas über 2 Jahre und 8 Monate betragen. Sie muss als an der äussersten Grenze des Zulässigen betrachtet werden. Einzig im Hinblick darauf, dass nun eine Erledigung der Sache innert straff bemessenen Fristen in Aussicht steht, lässt es sich verantworten, die erwähnte Haftdauer noch in Kauf zu nehmen. Indes sind die Behörden des Kantons Bern darauf hinzuweisen, dass eine über Ende Januar 1982 dauernde Haft verfassungswidrig wäre, sofern bis dahin die Hauptverhandlung vor erster Instanz nicht abgeschlossen sein wird oder nicht innert kürzester Frist zum Abschluss gebracht werden kann, falls sich nach Beginn der Hauptverhandlung begründete Verzögerungen ergeben sollten. Sofern aber bis Ende Januar die Hauptverhandlung nicht begonnen haben sollte, so muss der Beschwerdeführer in jenem Zeitpunkt auf freien Fuss gesetzt werden, auch wenn die Verzögerung des Verhandlungsbeginns objektiv begründet sein sollte. Ein Vorbehalt ist einzig für den Fall anzubringen, dass der Beschwerdeführer die Verzögerung selber in einer wider Treu und Glauben verstossenden Weise herbeiführt. Dabei wird nicht übersehen, dass durch eine solche Entlassung aus der Haft der normale Abschluss des Strafverfahrens in Frage gestellt sein dürfte; denn abgesehen von der Fluchtgefahr, die der Untersuchungshaft zugrunde liegt, ist es schwer ersichtlich, auf welchen tatsächlichen und rechtlichen Grundlagen der Beschwerdeführer in der Schweiz sein Leben in Freiheit sollte führen können. Diese Folge ist indessen, wie dargelegt, mit Rücksicht auf das hochwertige Rechtsgut der persönlichen Freiheit in Kauf zu nehmen.
BGE 107 Ia 256 S. 261

Dispositiv

Demnach erkennt das Bundesgericht:
Die Beschwerde wird im Sinn der Erwägungen abgewiesen.

Inhalt

Ganzes Dokument:
Regeste: deutsch französisch italienisch

Erwägungen 1 2 3

Referenzen

BGE: 105 IA 32, 105 IA 29, 105 IA 33, 105 IA 186 mehr...

Artikel: Art. 5 Ziff. 3 EMRK, Art. 90 Abs. 1 lit. b OG

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