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Urteilskopf

109 Ib 64


10. Auszug aus dem Urteil der I. öffentlichrechtlichen Abteilung vom 22. März 1983 i.S. Sener gegen Bundesanwaltschaft und Eidg. Justiz- und Polizeidepartement (Einsprache gemäss Auslieferungsgesetz)

Regeste

Auslieferung. Europäisches Auslieferungsübereinkommen vom 13. Dezember 1957 (EAÜ).
1. Art. 12 Ziff. 2 lit. b EAÜ; Anforderungen an die Begründung des Auslieferungsgesuchs (E. 2a).
2. Begriff des Ausnahmegerichts im Sinne des schweizerischen Vorbehalts zu Art. 1 EAÜ (E. 4).
3. Kein politisches Delikt gemäss Art. 3 Ziff. 1 EAÜ (E. 6a).
4. Verweigerung der Auslieferung in Anwendung von Art. 3 Ziff. 2 EAÜ, da ernstliche Gründe zur Annahme bestehen, der Einsprecher wäre aus rassischen und politischen Gründen in einem Strafverfahren des ersuchenden Staates der Gefahr einer Erschwerung seiner Lage ausgesetzt (E. 6b).

Sachverhalt ab Seite 65

BGE 109 Ib 64 S. 65
Der türkische Staatsangehörige Mehmet Sener wurde am 22. Februar 1982 in Zürich verhaftet. Die Botschaft der Türkei in der Schweiz stellte am 12. März 1982 beim Eidgenössischen Justiz- und Polizeidepartement ein Auslieferungsbegehren. Dieses stützt sich auf einen vom Militärgericht bei der Kommandantur des Ausnahmezustandes in Istanbul-Selimiye am 11. Juli 1979 erlassenen Haftbefehl. Es wird Sener vorgeworfen, er habe Mehmet Ali Agça (der später das Attentat auf den Papst verübte) dazu angestiftet, am 1. Februar 1979 in Istanbul Abdi Ipekçi, einen Redaktor der Zeitung "Milliyet", zu ermorden, und er habe ihm auch die Pistole verschafft, die bei der Ermordung verwendet wurde. Sener erhob gegen die Auslieferung Einwendungen, die sich auf das Europäische Auslieferungsübereinkommen vom 13. Dezember 1957 (EAÜ) beziehen.

Erwägungen

Aus den Erwägungen:

2. a) Der Einsprecher beanstandet das Auslieferungsbegehren zunächst in formeller Hinsicht. Er macht geltend, gemäss Art. 12 Ziff. 2 lit. b EAÜ müsse jedes Auslieferungsgesuch "eine genaue Darstellung der vorgeworfenen Delikte unter genauer Angabe von Zeit und Ort der Begehung" enthalten. Dieser Anforderung genüge das vorliegende Begehren nicht.
Nach dem Wortlaut des Art. 12 Ziff. 2 lit. b EAÜ ist dem Auslieferungsbegehren "eine Darstellung der Handlungen" beizufügen, derentwegen um Auslieferung ersucht wird. Zeit und Ort ihrer Begehung sowie ihre rechtliche Würdigung sind unter Hinweis auf die anwendbaren Gesetzesbestimmungen "so genau wie möglich" anzugeben. Verlangt wird demnach nicht eine "genaue" Darstellung der behaupteten strafbaren Handlungen, sondern nur, dass die betreffenden Angaben "so genau wie möglich" sein sollen. Der Zweck der Vorschrift besteht nicht darin, dass die Tat bis zu einem gewissen Grade bewiesen werden müsste. Es geht lediglich darum, dem ersuchten Staat den Entscheid über die auslieferungsrechtlich erheblichen Fragen (beidseitige Strafbarkeit; Vorliegen
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eines politischen oder fiskalischen Delikts; Verjährung der Tat, etc.) zu ermöglichen (BGE 101 Ia 62 f. E. 3, 421 E. 2).
Die Darstellung des Sachverhaltes im eigentlichen Auslieferungsbegehren der Türkei vom 26. Februar 1982 (verfasst vom Militäranwalt bei der Kommandantur des Ausnahmezustandes in Istanbul-Selimiye) ist knapp gehalten. Es wird einzig gesagt, Sener habe Ali Agça zu dem am 1. Februar 1979 in Istanbul begangenen Mord an Abdi Ipekçi, einem Redaktor der Zeitung "Milliyet", angestiftet und ihm die dabei verwendete Pistole verschafft. Hinsichtlich der Umschreibung des Sachverhaltes sind indessen auch die Beilagen zum Auslieferungsgesuch zu berücksichtigen. Als solche fällt das am 11. Juli 1979 aufgenommene Protokoll über die Vernehmung des Ali Agça in Betracht. Danach hat dieser vor dem Militärgericht ausgesagt, er habe die beim Attentat gegen Ipekçi verwendete Pistole am Tage des Deliktes von Mehmet Sener entliehen, und im gleichen Dokument wird seitens des Gerichts ausgeführt, Sener habe Agça zur Tötung überredet. Das Bundesgericht hat versucht, durch Rückfragen bei den türkischen Behörden auf diplomatischem Wege noch etwas konkretere Angaben zu erhalten. Die türkische Regierung äusserte sich in ihrer Antwortnote dahin, sie verweise auf das dem Auslieferungsbegehren beigegebene Protokoll über die Aussagen Agças, über deren Glaubwürdigkeit einzig die türkischen Gerichte zu entscheiden hätten. Das Bundesamt für Polizeiwesen fügte bei, weitere Einzelheiten könnten auf dem Rechtshilfeweg durch eine Befragung des Mehmet Ali Agça in Erfahrung gebracht werden, der sich wegen des Attentates auf den Papst in Rom in Untersuchungshaft befinde.
Es kann nicht Sache des ersuchten Staates sein, seinerseits an Stelle des ersuchenden Staates ein Rechtshilfebegehren an einen Drittstaat zu richten, um den Sachverhalt, der Gegenstand des Verfahrens im ersuchenden Staat bildet, näher abzuklären. Vielmehr ist aufgrund der vorliegenden Akten zu entscheiden, ob die Darstellung der dem Einsprecher vorgeworfenen Handlungen den Anforderungen des Art. 12 Ziff. 2 lit. b EAÜ genügt. Diese Frage ist zu bejahen. Die Angaben in den Beilagen zum Auslieferungsgesuch reichen aus, um dem ersuchten Staat den Entscheid über alle massgebenden auslieferungsrechtlichen Punkte zu ermöglichen. Mit der Frage, ob der Einsprecher die ihm zur Last gelegte Tat begangen hat, kann sich der Auslieferungsrichter nicht befassen. Er ist an die Darstellung des Sachverhaltes im Auslieferungsbegehren und in den zugehörigen Beilagen gebunden, sofern sich in den
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vorgelegten Dokumenten nicht offensichtliche Fehler, Lücken oder Widersprüche finden (BGE 107 Ib 76 E. 3b mit Hinweisen). Das trifft hier nicht zu. Was der Einsprecher zur Frage seiner Täterschaft ausführen lässt, bezieht sich auf die Beweiswürdigung. Diese entzieht sich aber der Prüfungsbefugnis des Bundesgerichts.
b) Im weitern rügt der Einsprecher, die Angaben hinsichtlich seiner Staatsbürgerschaft seien zweifelhaft; er sei davon überzeugt, dass er zufolge seiner Flucht die türkische Staatsangehörigkeit verloren habe. Diese Frage ist auslieferungsrechtlich nicht von Bedeutung. Das EAÜ enthält keine Bestimmung, wonach die Angabe der Staatsangehörigkeit des Verfolgten eine Bedingung für die Gültigkeit des Auslieferungsbegehrens darstellen würde. Die Personalien des Auszuliefernden sind insoweit erheblich, als über die Identität der betreffenden Person kein Zweifel bestehen darf und zudem feststehen muss, dass der Verfolgte nicht die schweizerische Staatsangehörigkeit besitzt, da sonst die Auslieferung ausgeschlossen wäre (Art. 6 EAÜ in Verbindung mit der auslegenden Erklärung der Schweiz zu diesem Artikel). Im vorliegenden Falle bestreitet Mehmet Sener nicht, die von den türkischen Behörden gesuchte Person zu sein, und dass er Schweizer Bürger wäre, fällt ausser Betracht. Ob er türkischer Staatsangehöriger oder staatenlos ist, spielt für den Entscheid über die Auslieferung keine Rolle.

3. Nach Art. 2 Ziff. 1 EAÜ kann eine Person nur wegen Handlungen ausgeliefert werden, die sowohl nach dem Recht des ersuchenden als auch nach dem des ersuchten Staates mit einer Freiheitsstrafe im Höchstmass von mindestens einem Jahr oder einer entsprechenden freiheitsbeschränkenden Massnahme bedroht sind. Es besteht kein Zweifel, dass die dem Einsprecher zur Last gelegte Tat (Anstiftung und Beihilfe zu vorsätzlicher Tötung) sowohl nach türkischem als auch nach schweizerischem Recht strafbar ist und hinsichtlich der Höhe der Strafdrohung unter Art. 2 Ziff. 1 EAÜ fällt.
Der Einsprecher hält jedoch seine Auslieferung aus mehreren Gründen für unzulässig, die alle im Zusammenhang mit der heutigen politischen Lage in der Türkei stehen, d.h. mit dem dort bestehenden Militärregime. Da zwischen der Türkei und der Schweiz normale völkerrechtliche Beziehungen bestehen und das EAÜ für die beiden Staaten nach wie vor verbindlich ist, ist das Bundesgericht nicht befugt, Auslieferungen an die Türkei wegen der besonderen politischen Situation generell zu verweigern. Hingegen hat es zu prüfen, ob im betreffenden konkreten Fall die
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Auslieferung an die Türkei aus den vom Einsprecher angeführten Gründen abgelehnt werden muss.

4. Der Einsprecher macht geltend, er würde in der Türkei vor ein Ausnahmegericht gestellt werden; dies schliesse nach dem von der Schweiz in Übereinstimmung mit Art. 9 AuslG erklärten Vorbehalt zu Art. 1 EAÜ die Auslieferung aus.
Die Schweiz hat sich bei ihrem Beitritt zum EAÜ das Recht vorbehalten, die Auslieferung abzulehnen, wenn die Möglichkeit besteht, dass der Verfolgte im Falle seiner Auslieferung vor ein Ausnahmegericht gestellt würde, und der ersuchende Staat nicht eine als ausreichend erachtete Zusicherung abgibt, wonach die Beurteilung durch ein Gericht erfolgt, das nach den Vorschriften der Gerichtsorganisation allgemein für die Rechtsprechung in Strafsachen zuständig ist (Vorbehalt zu Art. 1 EAÜ). Mit dieser Formulierung brachte die Schweiz deutlich zum Ausdruck, welche Gerichte sie als Ausnahmegerichte betrachtet. Der Begriff der Ausnahmegerichte wird in der bundesgerichtlichen Rechtsprechung eng ausgelegt. Es handelt sich um Gerichte, die ausserhalb der verfassungsmässigen Gerichtsorganisation stehen und nur für einen oder mehrere konkrete Fälle gebildet werden (BGE 53 I 318 E. 4, BGE 39 I 385 E. 1, BGE 33 I 408 E. 3). Das Bundesgericht hat in einem die Republik Zaïre betreffenden Urteil vom 11. Juli 1973 (BGE 99 Ia 552 E. 1b) ausgeführt, ein Spezialgericht, das nach Verfassung oder Gesetz allgemein in bestimmten Fällen über bestimmte Anschuldigungen zu entscheiden habe, stelle kein Ausnahmegericht dar. Das Verbot der Auslieferung bei drohender Beurteilung durch Ausnahmegerichte beziehe sich vielmehr im wesentlichen auf Gerichte, die "post factum" (nach Begehung der Tat) eingesetzt würden und über Strafkompetenzen verfügten, die jene der ordentlichen Gerichte des ersuchenden Staates überstiegen.
Die türkische Regierung hat in einem Anhang zum Auslieferungshaftbefehl Art. 138 des Grundgesetzes und Art. 15 des Gesetzes Nr. 1402 betreffend den Ausnahmezustand angeführt. Demnach sind die Militärgerichte von Verfassungs wegen auch zur Beurteilung von Zivilpersonen zuständig, denen vorgeworfen wird, bestimmte, im Gesetz genannte Straftaten begangen zu haben. Dazu gehören vor allem die Tötungsdelikte. Unter diesen Umständen kann nicht gesagt werden, beim Militärgericht, vor dem sich der Verfolgte im Falle seiner Auslieferung zu verantworten hätte, handle es sich um ein Ausnahmegericht im Sinne der bundesgerichtlichen Auslegung dieses Begriffs. Der Vorbehalt der
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Schweiz zu Art. 1 EAÜ steht somit der Auslieferung nicht entgegen.

5. Der Einsprecher wendet sodann ein, es drohe ihm die Todesstrafe, wenn er ausgeliefert werde. Nach Art. 11 EAÜ und der bundesgerichtlichen Rechtsprechung bewilligt die Schweiz für Taten, die im ersuchenden Staat mit der Todesstrafe bedroht sind, die Auslieferung nur dann, wenn dieser Staat eine als ausreichend erachtete Zusicherung abgibt, dass die Todesstrafe nicht vollstreckt wird (BGE 107 Ib 72 E. 3).
Im Auslieferungsbegehren vom 12. März 1982 wird die Auslieferung Seners wegen Anstiftung und Beihilfe zu Tötung verlangt. Die entsprechenden Bestimmungen des türkischen Strafgesetzbuches werden in deutscher Übersetzung beigefügt. Art. 450 StGB enthält verschiedene Tötungstatbestände und sieht die Todesstrafe vor. Gemäss Art. 65 StGB wird derjenige, der an der Begehung der Straftat teilgenommen hat, sei es "durch Anregung zur Begehung einer Straftat, durch Bestärkung des Entschlusses zur Begehung der Straftat, durch das Versprechen der Hilfeleistung und Unterstützung nach begangener Tat" (Ziff. 1), "durch Erteilung von Unterweisungen für die Begehung der Straftat oder durch Beschaffung tauglicher Arbeit und Mittel für ihre Begehung" (Ziff. 2) oder "durch Erleichterung der Ausführung durch Hilfeleistung und Unterstützung vor oder während der Begehung der Straftat" (Ziff. 3), mit Zuchthaus nicht unter zehn Jahren bestraft, wenn die begangene Tat mit Todesstrafe oder lebenslänglichem Zuchthaus bedroht ist; in den übrigen Fällen wird die gesetzlich festgesetzte Strafe um die Hälfte ermässigt. Gestützt auf diese Bestimmung hat die türkische Botschaft im Auslieferungsbegehren die Erklärung abgegeben, dass die Todesstrafe hier nicht in Betracht komme. Das Bundesgericht stellte mit Schreiben vom 13. September 1982 trotzdem nochmals die Frage, ob die strafbare Handlung, derentwegen um Auslieferung Seners ersucht werde, nicht mit der Todesstrafe bedroht sei und ob diese keinesfalls vollstreckt werde; ferner ersuchte es um die Zusicherung, dass die Todesstrafe auch dann nicht verhängt oder nicht vollzogen würde, wenn die Tat Seners im Laufe des Verfahrens anders gewürdigt werden sollte. In ihrer Antwortnote betont die türkische Regierung erneut, die Tat, derentwegen die Auslieferung verlangt werde, sei nach türkischem Recht nicht mit der Todesstrafe bedroht; wahrscheinlich habe Sener mit einer Strafe von zehn Jahren Zuchthaus zu rechnen. Zudem wird ausdrücklich erklärt, falls die Anschuldigung im Laufe
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des Prozesses geändert werden sollte, sei es für die türkischen Behörden selbstverständlich, dass sie sich an Art. 14 Ziff. 3 EAÜ halten würden. Dies bedeutet, dass Sener nur insoweit verfolgt oder abgeurteilt werden dürfte, als die Tatbestandsmerkmale der rechtlich neu gewürdigten strafbaren Handlung die Auslieferung gestatten würden.
Der Einsprecher weist in seiner Stellungnahme zur Antwortnote der Türkei darauf hin, dass für die Anstiftung zu Tötung nicht Art. 65 des türkischen StGB massgebend sei, der sich lediglich mit der Gehilfenschaft befasse. Zur Anwendung komme allein Art. 64 des türkischen StGB, der die Formen der Mittäterschaft und in Abs. 2 die Anstiftung behandle. Nach dieser Vorschrift drohe dem Anstifter wie dem Mörder selbst die Todesstrafe. Sener hält dafür, die türkischen Behörden hätten in Kenntnis der Tatsache, dass die Schweiz die Auslieferung bei drohender Todesstrafe verweigern würde, Art. 64 des Strafgesetzbuches verschwiegen und sich deshalb nur auf Art. 65 des Gesetzes berufen.
Dieser Einwand ist jedoch nicht stichhaltig. Aus dem Wortlaut der Art. 64 und 65 des türkischen StGB, die dem Bundesgericht durch das Bundesamt für Polizeiwesen in einer französischen Übersetzung vorgelegt wurden, ergibt sich, dass ein Verhalten, welches in der Schweiz mit dem Ausdruck "Anstiftung" umschrieben ist, nach türkischem Recht entweder unter Art. 64 StGB ("instigation") oder aber unter Art. 65 StGB ("excitation") fallen kann. Es wäre indes sinnlos, aufgrund einer mehr oder weniger genauen Übersetzung eine Abgrenzung vornehmen zu wollen. Entscheidend ist, dass im Auslieferungsbegehren und im Anhang zum Haftbefehl ausdrücklich auf Art. 65 des türkischen Strafgesetzbuches verwiesen wird. Das bedeutet, dass der Einsprecher nicht wegen eines Verhaltens im Sinne des Art. 64 StGB angeklagt ist, welche Bestimmung die Todesstrafe vorsieht. Hinzu kommt, dass die türkische Regierung, wie erwähnt, in ihrer Antwortnote auf die schweizerische Rückfrage ausdrücklich bestätigt hat, dass nur Art. 65 StGB in Betracht gezogen werde und dass sich die türkischen Behörden an den Grundsatz der Spezialität halten würden. Unter diesen Umständen kommt eine Ablehnung der Auslieferung gestützt auf Art. 11 EAÜ nicht in Frage.

6. Im weitern bringt der Einsprecher vor, die Auslieferung sei aufgrund von Art. 3 EAÜ zu verweigern. Er macht geltend, die Tötung von Redaktor Ipekçi sei eine politische Tat gewesen, und es drohe ihm, Sener, eine Benachteiligung aus politischen Gründen.
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Ausserdem sei er kurdischer Herkunft und auch aus diesem Grund einer Erschwerung seiner Lage ausgesetzt. Der Einsprecher weist ferner darauf hin, er werde in der Türkei von Folterung bedroht.
a) Gemäss Art. 3 Ziff. 1 EAÜ wird die Auslieferung nicht bewilligt, wenn die strafbare Handlung, derentwegen sie begehrt wird, vom ersuchten Staat als eine politische oder als eine mit einer solchen zusammenhängende strafbare Handlung angesehen wird. Unter diese Bestimmung fallen sowohl die absolut oder rein politischen als auch die relativ politischen Delikte. Absolut politische Delikte stellen nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts jene strafbaren Handlungen dar, die gegen die politische und soziale Organisation des Staates gerichtet sind und bei denen der Angriff auf den Staat und dessen grundlegende Einrichtungen zum objektiven Tatbestand gehört. Strafbare Handlungen, bei denen diese zweite Voraussetzung nicht erfüllt ist, gelten nicht als absolut politische Delikte, selbst wenn sie ebenfalls in der Absicht verübt worden sind, die politische und soziale Organisation des Staates zu beeinträchtigen oder zu zerstören (BGE 106 Ib 308 E. 3b). Im Lichte dieser Rechtsprechung kann die Ermordung des Redaktors Ipekçi klarerweise nicht als ein absolut politisches Delikt betrachtet werden. Es handelt sich um ein Verbrechen gegen das Leben, also um einen Tatbestand, welcher nicht unmittelbar dem Schutz der politischen und sozialen Ordnung des Staates dient (vgl. BGE 106 Ib 309).
Als relativ politisches Delikt könnte die Tat dann gelten, wenn sie nach den Umständen, namentlich nach den Beweggründen und Zielen des Täters, einen vorwiegend politischen Charakter hätte. Ein solcher ist anzunehmen, wenn die strafbare Handlung im Rahmen eines Kampfes um die Macht im Staate ausgeführt oder wenn sie verübt wurde, um jemanden dem Zwang eines jede Opposition ausschliessenden Staates zu entziehen. Zwischen solchen Taten und den angestrebten Zielen muss eine enge, direkte und klare Beziehung bestehen. Darüber hinaus ist erforderlich, dass die Verletzung fremder Rechtsgüter in einem angemessenen Verhältnis zum verfolgten politischen Ziel steht und dass die im Spiele stehenden Interessen wichtig genug sind, um die Tat mindestens einigermassen verständlich erscheinen zu lassen. Bei einem vorsätzlichen Tötungsdelikt ist ein angemessenes Verhältnis zwischen Tat und Ziel nur gegeben, wenn die Handlung das einzige Mittel ist, um die auf dem Spiele stehenden elementaren Interessen zu
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wahren und das gesetzte politische Ziel zu erreichen (BGE 106 Ib 301 f. E. 4, 309 f. E. 3c mit Hinweisen). Was der Einsprecher zum Attentat gegen Redaktor Ipekçi vorbringt, reicht nicht aus, um darzutun, dass es sich bei der Tat um ein relativ politisches Delikt im Sinne der dargelegten bundesgerichtlichen Rechtsprechung gehandelt habe. Wohl mag es sein, dass der Mord an Ipekçi politisch motiviert war. Der Einsprecher tut jedoch in keiner Weise dar, dass die Tötung des Journalisten in einer engen und unmittelbaren Beziehung zum Kampf um die Macht im Staat gestanden oder dazu gedient hätte, jemanden dem Zwang eines jede Opposition ausschliessenden Staates zu entziehen. Die Auslieferung kann deshalb nicht gestützt auf Art. 3 Ziff. 1 EAÜ verweigert werden.
b) Es stellt sich sodann die Frage, ob Art. 3 Ziff. 2 EAÜ zur Anwendung kommt. Nach dieser Vorschrift wird die Auslieferung in zwei Fällen nicht bewilligt, nämlich dann, wenn der ersuchte Staat ernstliche Gründe zur Annahme hat, dass das Auslieferungsersuchen wegen einer nach gemeinem Recht strafbaren Handlung gestellt worden ist, um eine Person aus rassischen, religiösen, nationalen oder auf politischen Anschauungen beruhenden Erwägungen zu verfolgen oder zu bestrafen, oder dass die verfolgte Person der Gefahr einer Erschwerung ihrer Lage aus einem dieser Gründe ausgesetzt wäre. Der erstgenannte Fall kommt hier nicht in Betracht. Hingegen ist zu prüfen, ob ernstlich angenommen werden muss, es bestehe die Gefahr, dass die Lage des Einsprechers in einem türkischen Strafverfahren aus rassischen und politischen Gründen erschwert werden könnte, wie Sener behauptet.
aa) Der Einsprecher macht geltend, er werde in der Türkei von Folterungen bedroht. Das Verbot der Folter ist nicht im EAÜ, wohl aber in der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) enthalten. Gemäss Art. 3 EMRK darf niemand der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen werden. Das Bundesgericht betrachtet diese Vorschrift und in gleicher Weise auch Art. 3 Ziff. 2 EAÜ als zwingende Regeln des Völkerrechts, die beim Entscheid über ein Auslieferungsbegehren zu beachten sind, unabhängig davon, ob die Schweiz mit dem ersuchenden Staat durch das EAÜ oder die EMRK, durch einen zweiseitigen Staatsvertrag oder überhaupt durch kein Abkommen verbunden ist (BGE 108 Ib 411; BGE 106 Ib 304 f. E. 5; BGE 101 Ia 541; BGE 99 Ia 555 f.). Im vorliegenden Fall hat der ersuchende Staat ebenso wie die Schweiz sowohl das EAÜ als auch die EMRK unterzeichnet. Die Regierung der Türkei weist in
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ihrer Antwortnote vom 22. Dezember 1982 darauf hin, nach Art. 17 der türkischen Staatsverfassung sei jede Form von Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung untersagt. Es ist jedoch bekannt, dass in der Türkei Handlungen gegenüber Gefangenen vorkommen, die dem Folterverbot widersprechen. In einem Bericht der Gefangenenhilfsorganisation "Amnesty International" vom Dezember 1982 wird festgestellt, die Folter sei in der Türkei gegenwärtig weit verbreitet (Amnesty Magazin: Monatszeitschrift der Schweizer Sektion von Amnesty International, Nr. 12, Dezember 1982, S. 8/9). Gemäss Schweizer Presseberichten hat die türkische Regierung im März 1982 auf einen Bericht von Amnesty International hin und im März 1983 gegenüber der Internationalen Arbeitsorganisation in Genf zugegeben, dass in der Türkei Folterungen von Gefangenen vorgekommen seien. Die Regierung mag bestrebt sein, gegen Folterungen einzuschreiten und die Schuldigen zu bestrafen, wie sie in ihrer Antwortnote auf das Schreiben des Bundesgerichts erklärte. Es scheint ihr aber - wie sich den von Amnesty International veröffentlichten Jahresberichten 1981 und 1982 entnehmen lässt - bisher nicht gelungen zu sein, ihre Absicht zu verwirklichen. Die Tatsache, dass in einem Land, mit dem die Schweiz durch das EAÜ oder durch einen zweiseitigen Auslieferungsvertrag verbunden ist, Folterungen gegenüber Gefangenen vorkommen, genügt jedoch für sich allein noch nicht, um die Auslieferung eines Einsprechers gestützt auf Art. 3 Ziff. 2 EAÜ zu verweigern. Die Vorschrift kann nur dann zur Anwendung kommen, wenn im konkreten Fall ernstlich befürchtet werden muss, dass der Einsprecher unmittelbar und persönlich der Gefahr einer Erschwerung seiner Lage im ersuchenden Staat ausgesetzt wäre (BGE 108 Ib 412 E. 8 b/bb). Der Einsprecher ist der Ansicht, eine solche Gefahr sei in seinem Fall deshalb gegeben, weil er kurdischer Herkunft sei und weil die ihm zur Last gelegte Tat politisch motiviert gewesen sei.
bb) Das Bundesamt für Polizeiwesen hat zu der Behauptung des Einsprechers, er sei Kurde, bemerkt, es sei äusserst schwierig festzustellen, ob eine Person kurdischer Herkunft sei oder nicht; das einzige Merkmal sei, dass sie der kurdischen Sprache mächtig sei. Aufgrund der Feststellungen einer Übersetzerin, die in einem Protokoll der Bezirksanwaltschaft Zürich vom 16. Februar 1983 enthalten sind, spricht Mehmet Sener fliessend kurdisch. Es besteht daher kein Anlass, der Erklärung über seine kurdische Herkunft zu misstrauen.
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Zur Situation der Kurden in der Türkei nach dem Staatsstreich vom 12. September 1980 hat das Bundesamt für Polizeiwesen dem Bundesgericht ein Gutachten eingereicht, das für das Verwaltungsgericht Köln verfasst wurde (Bericht R. vom 15. Februar 1981). Ausserdem kann auf die Berichte von Amnesty International abgestellt werden, mit welcher Organisation das Eidgenössische Departement für auswärtige Angelegenheiten regelmässige Kontakte pflegt (BBl 1982, Bd. II, S. 742). Diese Organisation führt im erwähnten Bericht vom Dezember 1982 aus, unter der politischen Verfolgung hätten in besonderem Masse die Kurden zu leiden, welche die grösste ethnische Minderheit in der Türkei darstellten und mehrere Millionen zählten. Die Eigenschaft einer eigenständigen Volksgruppe werde ihnen abgesprochen. Es seien Tausende von Kurden inhaftiert worden. Darunter befänden sich auch solche, die einzig wegen der Teilnahme an kurdischen Kulturveranstaltungen verhaftet worden seien. Es wird ferner darauf hingewiesen, dass sich in einem Militärgefängnis im Osten der Türkei an die hundert kurdische Gefangene befänden, die als Folge von Folter und harten Haftbedingungen in einem sehr schlechten Gesundheitszustand seien (Amnesty Magazin: Monatszeitschrift der Schweizer Sektion von Amnesty International, Nr. 12, Dezember 1982, S. 9). Auch der Experte R. erklärt, ein Kurde werde schon dann politisch verfolgt, wenn er sich offen zu seiner kurdischen Volkszugehörigkeit bekenne. Es wird in diesem Zusammenhang der Fall eines früheren Ministers erwähnt, der einzig deshalb zu zwei Jahren und drei Monaten Haft verurteilt worden sein soll, weil er sich offen zu seiner kurdischen Abstammung bekannte.
Der Einsprecher ist Kurde. Er gehört zwar nach eigenen Angaben nicht einer Organisation an, die für eine Abspaltung der kurdischen Gebiete kämpft, sondern der rechtsstehenden Partei der nationalen Bewegung (MHP). Sener macht jedoch geltend, er habe sich für seine Landsleute eingesetzt. So habe er im Juni 1973 in Istanbul einen Verein kurdischer Studenten gegründet, in den folgenden Jahren jeweils ein Fest dieses Vereins organisiert und dabei kurdische Reden gehalten und Pressekonferenzen in kurdischer Sprache durchgeführt; der Verein sei unter dem Militärregime verboten worden. Ob diese Behauptungen zutreffen, kann dahingestellt bleiben. Nach den erwähnten Berichten, deren Zuverlässigkeit das Bundesgericht nicht im einzelnen nachprüfen kann, scheint bei der gegenwärtigen Situation der Kurden in der Türkei jemand bereits dann in eine gefährliche Lage zu geraten,
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wenn er sich öffentlich auf seine Zugehörigkeit zur Volksgruppe der Kurden beruft. Der Einsprecher hat das nach seinen Angaben, die nicht ohne weiteres als unglaubhaft abgetan werden können, getan, und es muss daher schon aus diesem Grund angenommen werden, es bestehe die Gefahr, dass seine Lage in einem türkischen Strafverfahren erschwert werden könnte.
Hinzu kommt, dass die Sener zur Last gelegte Tat (Anstiftung und Beihilfe zur Tötung des Redaktors Abdi Ipekçi) einen politischen Beweggrund hatte. Die Voraussetzungen für das Vorliegen eines politischen Delikts im Sinne von Art. 3 Ziff. 1 EAÜ sind zwar, wie dargelegt, nicht gegeben. Es ist indessen unter dem Gesichtspunkt von Art. 3 Ziff. 2 EAÜ zu berücksichtigen, dass das Attentat gegen Ipekçi im Zusammenhang mit einer bestimmten politischen Situation stand. Ipekçi war damals Chefredaktor einer links ausgerichteten Zeitung, die nach den Angaben Seners "massiv gegen Nationalkonservative hetzte", zu denen der Einsprecher gehört. Da die einen rechtsextremen Charakter aufweisende Partei der nationalen Bewegung (MHP) in der Zeit vor der Machtübernahme durch das Militär aktiv an gewaltsamen Aktionen beteiligt war und nach Presseberichten ihr Führer unter dem Militärregime wegen subversiver Tätigkeit vor Gericht gezogen worden sein soll, erscheint die Annahme nicht als abwegig, dass die Lage Seners auch wegen seiner politischen Tätigkeit ernstlich erschwert sein kann.
Zusammenfassend ergibt sich, dass in Anbetracht der erwähnten Umstände ernstliche Gründe zur Annahme bestehen, der Einsprecher wäre aus den genannten Gründen in einem türkischen Strafverfahren der Gefahr einer Erschwerung seiner Lage ausgesetzt. Die Einsprache ist deshalb gutzuheissen und die Auslieferung Seners in Anwendung von Art. 3 Ziff. 2 EAÜ zu verweigern.

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