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Urteilskopf

111 Ia 5


3. Urteil der II. Zivilabteilung vom 28. März 1985 i.S. Sch. gegen Obergericht des Kantons Aargau (staatsrechtliche Beschwerde)

Regeste

Art. 4 BV, Art. 152 OG; unentgeltliche Rechtspflege.
Umittelbar aus Art. 4 BV abgeleiteter Anspruch auf unentgeltliche Rechtspflege im kantonalen Verwaltungsverfahren (E. 2)? Anspruch auf Bestellung eines unentgeltlichen Rechtsbeistandes vor einem Bezirksamt des Kantons Aargau verneint, da dessen Entscheid (betreffend den Entzug der elterlichen Gewalt) an das Obergericht weitergezogen werden kann, welches mit voller Prüfungsbefugnis entscheidet und vor welchem Anspruch auf unentgeltliche Rechtsverbeiständung besteht (E. 4).

Sachverhalt ab Seite 6

BGE 111 Ia 5 S. 6
Der vormundschaftlichen Aufsichtsbehörde - einem Bezirksamt des Kantons Aargau - wurde der Antrag gestellt, der Beschwerdeführerin die elterliche Gewalt über ihre beiden Töchter zu entziehen, welche ihr in dem fünf Jahre früher entschiedenen Scheidungsprozess zugesprochen worden waren. Der für das Verfahren vor dem Bezirksamt beigezogene Fürsprecher stellte das Gesuch, er sei als unentgeltlicher Rechtsbeistand zu bestellen, was die vormundschaftliche Aufsichtsbehörde ablehnte.
Gegen deren Entscheid gelangte die Beschwerdeführerin an das Obergericht des Kantons Aargau mit dem Begehren, es sei ihr das volle Armenrecht zu gewähren und der von ihr gewählte Fürsprecher als unentgeltlicher Rechtsbeistand zu bezeichnen. Das Obergericht wies die Beschwerde ab.
Die gegen den Entscheid des Obergerichts gerichtete staatsrechtliche Beschwerde, mit welcher eine Verletzung von Art. 4 BV gerügt wurde, hat das Bundesgericht abgewiesen mit den folgenden

Erwägungen

Erwägungen:

1. Das Bundesgericht prüft bei auf Art. 4 BV gestützten staatsrechtlichen Beschwerden wegen Verweigerung des Armenrechts, ob der bundesrechtliche Anspruch, wie er von der Rechtsprechung aus dem Rechtsgleichheitsgebot abgeleitet wird, verletzt ist. Diese Prüfung erfolgt, was Rechtsfragen anbetrifft, frei (BGE 104 Ia 326 E. 2). Eine Verletzung kantonaler Bestimmungen über die unentgeltliche Rechtspflege wird in der vorliegenden Beschwerde nicht geltend gemacht und ist daher vom Bundesgericht nicht zu prüfen (vgl. Art. 90 Abs. 1 lit. b OG).
BGE 111 Ia 5 S. 7

2. Das Obergericht des Kantons Aargau anerkennt im angefochtenen Entscheid, dass die Beschwerdeführerin mittellos sei und der von ihr verfochtene Rechtsstandpunkt nicht als offensichtlich aussichtslos bezeichnet werden könne. Diese Voraussetzungen verleihten der Beschwerdeführerin nach Massgabe von § 35 Abs. 2 des Gesetzes über die Verwaltungsrechtspflege (vom 9. Juli 1968; AGS Bd. 7, S. 199) wohl Anspruch auf Erlass der Verfahrenskosten, nicht jedoch auf Bestellung eines unentgeltlichen Rechtsbeistandes. Ein solcher Anspruch ergebe sich auch nicht unmittelbar aus Art. 4 BV.
Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichts hat eine bedürftige Person in einem für sie nicht aussichtslosen Zivilprozess unmittelbar aufgrund von Art. 4 BV Anspruch auf unentgeltliche Rechtspflege und auf Ernennung eines unentgeltlichen Rechtsbeistandes, sofern sie eines solchen zur gehörigen Wahrung ihrer Interessen bedarf (BGE 110 Ia 27 mit Hinweisen). Entgegen der im angefochtenen Entscheid vertretenen Auffassung schliesst der Umstand, dass in einem Verfahren die Offizialmaxime gilt, die Beiordnung eines unentgeltlichen Rechtsbeistandes nicht zum vornherein aus. Je nach der Schwierigkeit der sich im Prozess stellenden Fragen und den persönlichen Voraussetzungen der am Verfahren Beteiligten mag es sich trotz der Offizialmaxime rechtfertigen, einen unentgeltlichen Rechtsbeistand zu bewilligen (BGE 110 Ia 28 f., BGE 104 Ia 77 E. 3c). Hingegen trifft es zu, dass - wie im angefochtenen Entscheid und in den Gegenbemerkungen des Obergerichts hervorgehoben wird - in einem reinen Zweiparteienprozess, in welchem die eine Seite durch einen Anwalt vertreten ist, ein grösseres Bedürfnis besteht, der nicht vertretenen Partei unter dem Gesichtspunkt der Waffengleichheit einen unentgeltlichen Rechtsbeistand beizugeben, als in einem Verfahren wie hier, wo die Beschwerdeführerin sich gegen den von der Behörde gestellten Antrag auf Entzug der elterlichen Gewalt zur Wehr setzt, jedoch nicht einer privaten Gegenpartei gegenübersteht. Doch auch in einem solchen von einer Behörde angehobenen Verfahren mag sich eine unvertretene Partei unter Umständen ebenso benachteiligt fühlen wie in einem eigentlichen Zweiparteienprozess.
Das Obergericht hat der Beschwerdeführerin einen unentgeltlichen Rechtsbeistand vor allem deshalb versagt, weil es sich bei dem vor dem Bezirksamt hängigen Verfahren nicht um einen Zivilprozess handle, sondern um ein vollständig von der Offizialmaxime beherrschtes Verwaltungsverfahren, für welches kein auf Art. 4 BV
BGE 111 Ia 5 S. 8
gestützter Anspruch auf unentgeltliche Rechtsverbeiständung bestehe. In der Tat hat das Bundesgericht - anders als in Zivil-, Straf- und Sozialversicherungssachen - bis heute noch nie für das Verwaltungsverfahren einen aus Art. 4 BV abgeleiteten Anspruch auf unentgeltliche Rechtspflege und Rechtsverbeiständung anerkannt. Rechtsstaatliche Erwägungen, insbesondere die vorstehend gemachte Überlegung, dass selbst in einem Verfahren, wo der Betroffene sich nur einer Behörde und nicht auch einem privaten gegenübergestellt sieht, er sich ohne Vertretung durch einen Anwalt benachteiligt fühlen mag, lassen Zweifel an der Berechtigung dieser bundesgerichtlichen Zurückhaltung aufkommen (vgl. PETER SALADIN, Das Verfassungsprinzip der Fairness, in: Erhaltung und Entfaltung des Rechts in der Rechtsprechung des Schweizerischen Bundesgerichts, Basel 1975, S. 51; BLAISE KNAPP, Grundlagen des Verwaltungsrechts, Basel und Frankfurt am Main 1983, N. 403). Es stellt sich die Frage, ob nicht auch für das Verwaltungsverfahren ein unmittelbar aus Art. 4 BV abgeleiteter Anspruch sowohl auf unentgeltliche Rechtspflege als auch auf Bestellung eines unentgeltlichen Rechtsbeistandes bejaht werden sollte. Indessen kann die Frage offenbleiben, da in dem hier zu beurteilenden Fall besondere Verhältnisse vorliegen, die zu einer befriedigenden Lösung führen.

3. Der Bundesgesetzgeber hat die Ausgestaltung des Verfahrens zur Entziehung der elterlichen Gewalt ebenso wie das zur Anordnung der übrigen Kindesschutzmassnahmen einzuschlagende Verfahren weitgehend den Kantonen überlassen. Er hat jedoch bezüglich der gemäss Art. 311 Abs. 1 ZGB für die Entziehung der elterlichen Gewalt zuständigen Vormundschaftsbehörde in Art. 314 Ziff. 1 ZGB folgendes bestimmt:
"Ist die vormundschaftliche Aufsichtsbehörde keine richterliche Behörde, so bleibt gegen die Entziehung der elterlichen Gewalt der Weiterzug an eine kantonale richterliche Behörde vorbehalten."
Gegen den Entscheid der obern kantonalen Gerichte ist die Berufung an das Bundesgericht zulässig (Art. 44 lit. d und 48 Abs. 1 OG). Da jedoch das Bundesgericht die Feststellung des Sachverhaltes nicht überprüft (Art. 63 Abs. 2 OG), wollte mit der Aufnahme des Vorbehaltes von Art. 314 Ziff. 1 ZGB dem Anspruch auf gerichtliche Beurteilung zivilrechtlicher Verhältnisse, welchen Art. 6 Ziff. 1 EMRK gewährleistet, möglichst umfassend Rechnung getragen werden (Botschaft des Bundesrates an die
BGE 111 Ia 5 S. 9
Bundesversammlung über die Änderung des Schweizerischen Zivilgesetzbuches (Kindesverhältnis), BBl 1974 II, S. 85).
Für das Berufungsverfahren vor Bundesgericht hat eine bedürftige Partei, deren Rechtsbegehren nicht aussichtslos erscheint, gemäss Art. 152 OG Anspruch auf unentgeltliche Rechtspflege; dieser Anspruch umfasst dort, wo es als notwendig erscheint, auch die Bestellung eines unentgeltlichen Rechtsbeistandes. Der Rechtsschutz wäre indessen unvollkommen, wenn ein unentgeltlicher Rechtsbeistand erst für das Verfahren vor Bundesgericht gewährt würde und nicht schon vor der von Art. 314 Ziff. 1 ZGB vorgesehenen kantonalen richterlichen Behörde, welche den Sachverhalt für das Bundesgericht verbindlich feststellt. Aus der das kantonale Verfahren zur Entziehung der elterlichen Gewalt regelnden Vorschrift von Art. 314 Ziff. 1 ZGB und der Zuständigkeit des Bundesgerichts gemäss Art. 44 lit. d OG ergibt sich deshalb ein Anspruch des von der Kindesschutzmassnahme betroffenen Elternteiles auf Bewilligung eines unentgeltlichen Rechtsbeistandes vor der letzten kantonalen Instanz, sofern die Voraussetzungen der unentgeltlichen Rechtspflege - Bedürftigkeit und nicht aussichtsloses Rechtsbegehren - erfüllt sind. Dieser Anspruch kann nicht davon abhängig sein, ob das kantonale Verfahren als Verwaltungsverfahren oder als Zivilprozess ausgestaltet ist; denn die Notwendigkeit einer Vertretung ergibt sich bereits im Hinblick auf die Weiterziehbarkeit des kantonalen Entscheides mittels Berufung an das Bundesgericht.

4. Ist somit davon auszugehen, dass für das Verfahren zur Entziehung der elterlichen Gewalt vor der letzten kantonalen Instanz von Bundesrechts wegen die Bestellung eines unentgeltlichen Rechtsbeistandes verlangt werden kann, sofern die Voraussetzungen hiefür gegeben sind, so stellt sich die Frage, ob derselbe Anspruch auch schon in einem früheren Stadium des kantonalen Verfahrens bestehe.
Nach aargauischem Recht entscheidet das Bezirksamt als vormundschaftliche Aufsichtsbehörde erstinstanzlich über das von der Vormundschaftsbehörde gestellte Begehren um Entzug der elterlichen Gewalt gemäss Art. 311 Abs. 1 ZGB; der Entscheid des Bezirksamtes kann durch Beschwerde an das Obergericht weitergezogen werden (§ 55c Abs. 1 und 4 sowie § 59 Abs. 4 Einführungsgesetz zum Schweizerischen Zivilgesetzbuch, AGS Bd. 1, S. 603). Für das Verfahren vor dem Bezirksamt gelten die Verfahrensregeln des Gesetzes über die Verwaltungsrechtspflege (§ 55c Abs. 2
BGE 111 Ia 5 S. 10
Einführungsgesetz zum Schweizerischen Zivilgesetzbuch), insbesondere dessen § 20, wonach die Behörden den Sachverhalt unter Beachtung der Vorbringen der Beteiligten von Amtes wegen prüfen und die hiezu notwendigen Ermittlungen anstellen. Mit anderen Worten gilt somit für das vom Bezirksamt durchzuführende Verfahren zur Entziehung der elterlichen Gewalt die uneingeschränkte Offizialmaxime. Derselbe Grundsatz gilt für das Verfahren vor Obergericht, an welches der Entscheid des Bezirksamtes weitergezogen werden kann.
Ein vor Bezirksamt unterlegener Elternteil kann daher vor Obergericht sämtliche Mängel des erstinstanzlichen Verfahrens rügen und auch neue Tatsachen geltend machen sowie neue Beweise vorbringen. Da er nach dem oben (E. 3) Ausgeführten vor Obergericht Anspruch auf Beiordnung eines unentgeltlichen Rechtsbeistandes hat, sofern er bedürftig und die Beschwerde nicht aussichtslos ist, besteht genügende Gewähr dafür, dass die Frage des Entzuges der elterlichen Gewalt in zweiter kantonaler Instanz umfassend geprüft wird und der Betroffene durch die unentgeltliche Verbeiständung gegen Benachteiligung bei der Entscheidfindung geschützt ist. Unter diesen Umständen ist es nicht unumgänglich, dass dem vom Entzug der elterlichen Gewalt bedrohten Elternteil schon im Verfahren vor dem Bezirksamt ein unentgeltlicher Rechtsbeistand bestellt wird. Ein bundesrechtlicher Anspruch auf unentgeltliche Verbeiständung im Verfahren zur Entziehung der elterlichen Gewalt vor dem Bezirksamt lässt sich daher nicht begründen.

5. Wenngleich die staatsrechtliche Beschwerde nach dem Gesagten abzuweisen ist, war das gestellte Rechtsbegehren keineswegs zum vornherein aussichtslos. Es hat im Gegenteil zur Klärung einer nicht leicht zu beantwortenden Frage beigetragen. Der Beschwerdeführerin ist deshalb für das Verfahren vor Bundesgericht die unentgeltliche Rechtspflege zu bewilligen, unter Bestellung des von ihr beigezogenen Fürsprechers zum unentgeltlichen Rechtsbeistand (Art. 152 OG).

Inhalt

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Regeste: deutsch französisch italienisch

Sachverhalt

Erwägungen 1 2 3 4 5

Referenzen

BGE: 104 IA 326, 110 IA 27, 110 IA 28, 104 IA 77

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