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Urteilskopf

118 Ib 229


29. Urteil des Kassationshofes vom 17. Juni 1992 i.S. K. gegen Verwaltungsrekurskommission des Kantons St. Gallen (Verwaltungsgerichtsbeschwerde).

Regeste

Art. 16 Abs. 2 SVG; fakultative Administrativmassnahme, Verhältnismässigkeitsprinzip.
Rechtfertigt die Schwere des Falles an sich die Anordnung einer fakultativen Massnahme (Verwarnung oder Führerausweisentzug) gemäss Art. 16 Abs. 2 SVG, so hat die Administrativbehörde noch zu prüfen, ob die anzuordnende Massnahme dem Verhältnismässigkeitsgrundsatz entspricht (E. 3 und 4; Präzisierung der Rechtsprechung).

Sachverhalt ab Seite 230

BGE 118 Ib 229 S. 230
K. überholte am 21. Juni 1990 in G. in einer unübersichtlichen Rechtskurve mit seinem Motorrad einen Personenwagen. Ausgangs der Kurve stiess er frontal mit einem entgegenkommenden Personenwagen zusammen. K. erlitt dabei schwere Verletzungen. Das Bezirksamt Rorschach sprach K. mit Strafbescheid vom 4. Februar 1991 der Missachtung der allgemeinen Höchstgeschwindigkeit innerorts und des Nichtbeherrschens des Fahrzeuges schuldig, sah jedoch gestützt auf Art. 66bis StGB von einer Strafe ab.
Am 7. Januar 1991 entzog das Strassenverkehrs- und Schiffahrtsamt des Kantons St. Gallen K. gestützt auf Art. 16 Abs. 2 SVG den Führerausweis für die Dauer von einem Monat. Einen Rekurs des Betroffenen wies die Verwaltungsrekurskommission des Kantons St. Gallen am 3. September 1991 ab.
K. führt Verwaltungsgerichtsbeschwerde mit dem Antrag, der Rekursentscheid und die Verfügung des Strassenverkehrs- und Schiffahrtsamtes seien aufzuheben und es sei von der Anordnung einer Administrativmassnahme abzusehen. Die Verwaltungsrekurskommission verzichtet auf Vernehmlassung. Das Bundesamt für Polizeiwesen beantragt Abweisung der Beschwerde.

Erwägungen

Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

1. Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde kann sich nur gegen den letztinstanzlichen kantonalen Entscheid richten (Art. 98 lit. g OG), weshalb auf sie nicht eingetreten werden kann, soweit auch die Verfügung des Strassenverkehrs- und Schiffahrtsamtes angefochten wird.

2. a) Die Vorinstanz kommt zum Schluss, der Beschwerdeführer habe den Verkehr konkret erheblich gefährdet. Wer die Geschwindigkeit nicht den Umständen anpasse bzw. die Höchstgeschwindigkeit überschreite und in einer unübersichtlichen Kurve überhole, dessen Verschulden wiege nicht mehr leicht. Von einem leichten Fall könne somit keine Rede sein. Der Führerausweis sei somit gestützt auf Art. 17 Abs. 1 lit. a SVG mindestens für einen Monat zu entziehen. Die erste Instanz habe die geltend gemachte berufliche Notwendigkeit, ein Motorfahrzeug zu führen, berücksichtigt. Sie habe die Mindestentzugsdauer von einem Monat verfügt. Eine weitere Reduktion sei daher nicht mehr möglich. Wenn sich der Beschwerdeführer auf einen Härtefall im Sinne von Art. 34 Abs. 2 VZV berufe, so übersehe er offensichtlich, dass auch bei Annahme
BGE 118 Ib 229 S. 231
eines solchen die gesetzliche Minimaldauer für alle Kategorien einzuhalten sei. Zudem setze die Anwendung dieser Bestimmung voraus, dass der Betroffene als Führer der Kategorie, für die die Entzugsdauer verkürzt werden solle, im vorliegenden Fall also für die Kategorie B, unbescholten sei. Dies sei nicht der Fall, sei dem Rekurrenten doch der Führerausweis 1978 für 6 Monate entzogen worden.
b) Der Beschwerdeführer wendet dagegen ein, er sei anlässlich des Verkehrsunfalles sehr schwer verletzt worden, sei nach wie vor 50% arbeitsunfähig und kämpfe für sich und seine Familie ums nackte Überleben. Er habe mit seiner Familie 1988 und 1989 im Ausland gelebt. Da er dort nicht habe selbständig werden können, habe er sich entschlossen, wieder in die Schweiz zurückzukehren, um sein ehemaliges Geschäft, welches er vorher 10 Jahre lang mit Erfolg geführt habe, wieder zu übernehmen. Er sei im Sommer 1989 allein in die Schweiz zurückgekehrt, um das Geschäft neu aufzubauen. Im Frühling 1990 sei der Umbau abgeschlossen worden, worauf seine drei Kinder im Mai 1990 in die Schweiz gekommen seien. Die Ehefrau habe Ende Juni nach Erledigung aller administrativen Arbeiten in die Schweiz zurückkehren wollen, um am 1. Juli 1990 das neue Geschäft, ein zoologisches Präparatorium, zu eröffnen. Noch in der Woche, als sich der verhängnisvolle Unfall ereignet habe, habe er bei den Winterthur-Versicherungen eine Lohnausfall-Versicherung abschliessen wollen. Da der Versicherungsagent vorübergehend nicht zu erreichen gewesen sei, sei der Abschluss dieser Versicherung unterblieben. In finanzieller Hinsicht habe der Unfall zur Folge gehabt, dass der Beschwerdeführer monatelang ohne Einkommen dagestanden sei. Seine Frau habe mittels Heimarbeit versucht, die Familie über Wasser zu halten. Mit seiner gegenwärtigen 50%igen Arbeitsfähigkeit sei er zusammen mit der Ehefrau knapp in der Lage, den Lebensunterhalt der Familie zu bestreiten. Trotzdem bestünden Kontokorrentschulden in der Höhe von rund Fr. 12'000.--. Ende Oktober werde der Hypothekarzins von rund Fr. 10'000.-- fällig. Laufende Rechnungen machten etwa Fr. 4'000.-- aus. Offen seien ausserdem Rückzahlungen für Fürsorgeleistungen der Gemeinde X. in der Höhe von Fr. 24'769.85. Er könne es sich in der gegenwärtigen harten Wiederaufbauphase seines Geschäftes nicht leisten, ohne Führerausweis dazustehen. Ein- bis zweimal in der Woche müsse er Fleischabfälle, die sich im Betrieb ansammelten, in die Kadaververwertung bringen. Zweimal pro Monat fahre er mit Tierhäuten nach Chur in die Gerberei. Bahnpost-Aufträge würden ein- bis zweimal pro Monat erledigt. Kunden, die mit der Bahn kämen, würden in Y. oder Z. abgeholt
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und zum Geschäft gebracht. Pakete, die per Post verschickt würden, müssten mit dem Auto zur Post gebracht werden. Auch für die aufwendigen Materialeinkäufe (Polyester, Farben, Hartschaum, Gips etc.) sei er auf sein Fahrzeug angewiesen. Gehe in einem Zoo ein Tier ein, müsse er es unverzüglich abholen. Die beiden Vorinstanzen seien mit keinem Wort auf sein Hauptargument eingegangen, unter den gegebenen besonderen Umständen fehle es an einer Massnahmebedürftigkeit. Er habe sich monatelang im Krankenhaus befunden, habe noch weitere Operationen vor sich. Der Unfall vom 21. Juni 1990 werde ihm ein Leben lang Mahnung und Denkzettel sein.
Das Bundesgericht habe in seiner neueren Rechtsprechung zum Führerausweisentzug für verschiedene Fragen analog Überlegungen und Wertungen des Strafrechtes herangezogen. Entsprechend sei auch die Wertung des Art. 66bis Abs. 1 StGB zu berücksichtigen. Der Unfall mit seinen Folgen habe mit Sicherheit eine sehr viel weitergehende erzieherische Wirkung, als es irgend eine Administrativmassnahme überhaupt je haben könne. Der angefochtene Entscheid verletze die Grundsätze der Notwendigkeit und Verhältnismässigkeit. In Anwendung dieser Grundsätze müsse ein Eingriff als Ganzes im Lichte des ihn gebietenden öffentlichen Interesses als unausweichlich erscheinen.

3. Gemäss Art. 16 Abs. 2 Satz 1 SVG kann der Führer- oder Lernfahrausweis entzogen werden, wenn der Führer Verkehrsregeln verletzt und dadurch den Verkehr gefährdet oder andere belästigt hat. In leichten Fällen kann eine Verwarnung ausgesprochen werden (Satz 2). Diese Bestimmung ist sprachlich unbefriedigend, weil es sich um zwei Kann-Vorschriften handelt. Nach der Rechtsprechung zu Art. 16 Abs. 2 SVG kann auf den Ausweisentzug nur verzichtet werden, wenn der Fall leicht im Sinne von Satz 2 dieser Bestimmung ist (BGE 105 Ib 258 E. a mit Hinweisen, BGE 115 Ib 161). Dies bedarf einer Präzisierung.
Die Botschaft des Bundesrats zum Entwurf des SVG hebt ausdrücklich hervor, dass Art. 16 Abs. 2 SVG den fakultativen und Abs. 3 den obligatorischen Entzug regelt (BBl 1955 II 24 und 74). Die nationalrätliche Kommission fügte in Abs. 2 den Satz bei, in leichten Fällen kann eine Verwarnung ausgesprochen werden. Nach altem Recht war ein Führerausweisentzug nur bei schwerer und wiederholter Verkehrsregelverletzung zulässig. Die Kommissionssprecher erachteten den Zusatz nicht als unbedingt notwendig. Guinand führte aus, der Zusatz sei als gewisser Ausgleich zu verstehen; nachdem zu wiederholten Malen ("à de réitérées reprises") weggelassen worden sei,
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bringe er indirekt zum Ausdruck, dass eine wiederholte Regelverletzung nicht ohne ernsthaften Nachteil ("conséquence fâcheuse"), der bis zum Entzug führen könne, durchgehen werde. Im übrigen schreibe der Zusatz eine bereits bestehende Praxis fest (Sten.Bull. 1956 N 597 und 599).
Da in leichten Fällen eine Verwarnung ausgesprochen werden kann, ist es folgerichtig, in nicht leichten Fällen die härtere Massnahme, den Führerausweisentzug, anzuordnen. Insoweit ist die zitierte Rechtsprechung zu bestätigen. Diese Überlegung ändert aber nichts daran, dass Art. 16 Abs. 2 SVG den fakultativen Entzug regelt. Das ergibt sich aus dem Gesetzestext, der bundesrätlichen Botschaft (a.a.O.) und auch die Voten der Kommissionssprecher (a.a.O.) erlauben keinen gegenteiligen Schluss. Die Administrativbehörde kann somit aufgrund von Art. 16 Abs. 2 SVG entweder auf jegliche Massnahme verzichten, eine Verwarnung aussprechen oder einen Führerausweisentzug anordnen. Welche dieser Möglichkeiten auszuwählen ist, richtet sich grundsätzlich nach der Schwere des Falles. Insoweit ist an der bisherigen Rechtsprechung festzuhalten. Da es sich beim Absatz 2 von Art. 16 SVG um eine Kann-Vorschrift handelt, ist die Behörde jedoch verpflichtet, die vorgesehene Massnahme unter dem Gesichtspunkt der Verhältnismässigkeit zu prüfen. Dabei kann sich die Frage stellen, ob im Lichte einer sinnvoll verstandenen Verhältnismässigkeitsprüfung sich die Anordnung einer Massnahme zur Ermahnung und Besserung des fehlbaren Fahrzeuglenkers überhaupt noch rechtfertigen lässt; denn der Entzug des Führerausweises beziehungsweise die Erteilung einer Verwarnung muss - dem gesetzgeberischen Ziel entsprechend - geeignet sein; auch darf sie den Betroffenen nicht übermässig belasten. Unverhältnismässig müsste in diesem Sinne unter anderem eine Massnahme erscheinen, die im Einzelfall nicht zum Ziel führen kann oder nicht mehr nötig ist (vgl. BGE 115 Ib 162; MICHEL PERRIN, Délivrance et retrait du permis de conduire, Fribourg 1982, S. 10 f. mit Literaturhinweisen zum Verhältnismässigkeitsprinzip). Dass sich die mit der Anordnung einer Administrativmassnahme zuständige Verwaltungsbehörde in Fällen, da der fehlbare Fahrzeuglenker durch die Folgen seines verkehrswidrigen Verhaltens besonders schwer betroffen wird, von den Grundregeln des Absehens von Strafe (Art. 66bis StGB) leiten lässt, ist zweckmässig, da auch diese Strafzumessungsregel grundlegend vom Verhältnismässigkeitsprinzip getragen ist.

4. Die Vorinstanz ordnete einen Führerausweisentzug gestützt auf Art. 16 Abs. 2 SVG und damit einen fakultativen Entzug an.
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Deshalb war sie verpflichtet zu prüfen, ob die Massnahme verhältnismässig sei.
Bei der Gesamtbeurteilung führt sie aus, angesichts des nicht leichten Verschuldens, des getrübten Leumunds und der gesamten Umstände erscheine die verfügte Entzugsdauer von einem Monat, verglichen mit ähnlich gelagerten Fällen, eher milde, jedenfalls nicht unangemessen. Damit hat sie zwar den Grundsatz der Verhältnismässigkeit angesprochen. Eine wirkliche Auseinandersetzung mit den besonderen Lebensumständen des Beschwerdeführers hat sie aber nicht vorgenommen. Erst bei der Prüfung, ob allenfalls ein differenzierter Führerausweisentzug anzuordnen sei, erwähnt sie dessen Vorbringen, er sei schwer verletzt, nicht versichert gewesen und benötige den Führerausweis, um seine Existenzgrundlage zu erhalten beziehungsweise aufzubauen. Sie hat aber nicht geprüft, ob wegen der besonderen Umstände ein Führerausweisentzug überhaupt noch notwendig sei, um das Massnahmeziel, die Ermahnung und Besserung des Beschwerdeführers, zu erreichen. Dies führt zur Aufhebung des angefochtenen Entscheids.

Inhalt

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Sachverhalt

Erwägungen 1 2 3 4

Referenzen

BGE: 105 IB 258, 115 IB 161, 115 IB 162

Artikel: Art. 16 Abs. 2 SVG, Art. 66bis StGB, Art. 98 lit. g OG, Art. 17 Abs. 1 lit. a SVG mehr...