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Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
{T 0/2} 
6P.182/2006 
6S.414/2006 /bri 
 
Urteil vom 2. November 2006 
Kassationshof 
 
Besetzung 
Bundesrichter Schneider, Präsident, 
Bundesrichter Karlen, Zünd, 
Gerichtsschreiber Weissenberger. 
 
Parteien 
X.________, 
Beschwerdeführerin, vertreten durch Rechtsanwalt 
Dr. Jürg Pilgrim, 
 
gegen 
 
Staatsanwaltschaft des Kantons Aargau, Frey-Herosé-Strasse 12, Wielandhaus, 5001 Aarau. 
Obergericht des Kantons Aargau, Strafgericht, 3. Kammer, Obere Vorstadt 38, 5000 Aarau, 
 
Gegenstand 
6P.182/2006 
Strafverfahren; Willkürverbot, rechtliches Gehör, Unschuldsvermutung, 
 
6S.414/2006 
Widerhandlung gegen das Strassenverkehrsgesetz, 
 
Staatsrechtliche Beschwerde (6P.182/2006) und Nichtigkeitsbeschwerde (6S.414/2006) gegen das Urteil des Obergerichts des Kantons Aargau, Strafgericht, 3. Kammer, vom 29. Juni 2006. 
 
Sachverhalt: 
A. 
X.________ fuhr am 18. Mai 2004 um 23.20 Uhr mit ihrem Personenwagen in Dottikon auf der Bahnhofstrasse in Richtung Dorfzentrum. Sie beabsichtigte, nach links in die alte Bruggerstrasse (Querstrasse zur Bahnhofstrasse) abzubiegen. In der irrigen Meinung, es handle sich bereits um die alte Bruggerstrasse, stellte sie den Blinker eine Seitenstrasse zu früh und verlangsamte ihre Geschwindigkeit. Durch ihre Mitfahrer auf den Irrtum aufmerksam gemacht, stellte sie den Blinker zurück und beschleunigte ihr Fahrzeug wieder. Vor der Einmündung in die alte Bruggerstrasse setzte sie nach einem kurzen Blick in den Rückspiegel erneut den linken Blinker, verlangsamte ihre Fahrt und bog anschliessend langsam nach links ab. Dabei stiess sie auf der Höhe der Einmündung seitlich mit dem Personenwagen von A.________ zusammen, der im Begriff war, sie links zu überholen. 
B. 
Gestützt auf diesen Sachverhalt sprach das Gerichtspräsidium Bremgarten X.________ am 2. Mai 2005 der mangelnden Aufmerksamkeit beim Linksabbiegen gegenüber dem nachfolgenden Verkehr (Art. 34 Abs. 3 SVG i.V.m. Art. 90 Ziff. 1 SVG a.F.) schuldig und bestrafte sie mit einer Busse von 200 Franken. 
 
Mit Urteil vom 29. Juni 2006 wies das Obergericht des Kantons Aargau die Berufung von X.________ ab. 
C. 
X.________ führt staatsrechtliche Beschwerde und eidgenössische Nichtigkeitsbeschwerde, je mit dem Antrag, das Urteil des Obergerichts des Kantons Aargau vom 29. Juni 2006 aufzuheben und die Sache an die Vorinstanz zurückzuweisen. 
D. 
Das Obergericht des Kantons Aargau hat auf Gegenbemerkungen zu den Beschwerden verzichtet. 
 
Das Bundesgericht zieht in Erwägung: 
 
I. Staatsrechtliche Beschwerde 
1. 
Die Beschwerdeführerin rügt eine Verletzung des rechtlichen Gehörs und eine willkürliche Beweiswürdigung bzw. die Verletzung der Unschuldsvermutung als Beweiswürdigungsregel. Sie macht geltend, sowohl vor Bezirksgericht als auch vor Obergericht beantragt zu haben, es sei auch der zweite Mitfahrer als Zeuge einzuvernehmen. Dieser hätte ihre Aussage bestätigen können, wonach sie unmittelbar vor dem Abbiegen einen kurzen Seitenblick über ihre Schulter geworfen und den Unfallteilnehmer dann noch hinter sich gesehen habe. Indem das Obergericht den Antrag auf Zeugeneinvernahme in antizipierter Beweiswürdigung abgelehnt habe, sei es in Willkür verfallen und habe ihren Anspruch auf rechtliches Gehör verletzt (Beschwerde, S. 12 f.). 
1.1 Diese Rügen sind offensichtlich unbegründet. Die Bezirksgerichtspräsidentin stellte auf die Aussage der Beschwerdeführerin ab, wonach sie vor der Einmündung in die alte Bruggerstrasse kurz in den Rückspiegel geblickt und danach den Blinker gesetzt habe (Urteil Bezirksgericht, S. 12 f.). Das Obergericht hat sich die Sachverhaltsfeststellungen im bezirksgerichtlichen Urteil zu eigen gemacht (angefochtenes Urteil, S. 5). Da es insoweit auf die Aussagen der Beschwerdeführerin abstellte, durfte es ohne Gehörsverletzung die Einvernahme des zweiten Mitfahrers in antizipierter Beweiswürdigung ablehnen. 
1.2 An der Verhandlung vor Bezirksgericht machte die Beschwerdeführerin erstmals die Aussage, sie habe zusätzlich unmittelbar vor dem Abbiegen über ihre Schulter nach hinten geblickt. Das Bezirksgericht hat diese Aussage, die von der beim Unfall neben der Beschwerdeführerin sitzenden Beifahrerin nicht bestätigt wurde, mit eingehender und durchwegs nachvollziehbarer Begründung für nicht glaubhaft erachtet und verworfen (Urteil Bezirksgericht, S. 12). Es hat überzeugend dargelegt, weshalb die Aussage der Beschwerdeführerin im Widerspruch zum Unfallhergang bzw. -bild steht. Das Obergericht ist dieser Würdigung gefolgt (angefochtenes Urteil, S. 5). 
 
Inwiefern die Beweiswürdigung willkürlich sein soll, macht die Beschwerdeführerin nicht hinreichend geltend und kommt damit den Begründungsanforderungen (Art. 90 Abs. 1 lit. b OG) nicht nach. Aus der Begründung im Urteil des Bezirksgerichts, auf die hier verwiesen werden kann, ergibt sich ohne weiteres, dass der Verzicht des Obergerichts auf die Einvernahme des zweiten Beifahrers als Zeuge in nicht zu beanstandender antizipierter Beweiswürdigung erfolgt ist. Im Übrigen verletzt das angefochtene Urteil auch anderweitig kein Verfassungsrecht. 
2. 
Die staatsrechtliche Beschwerde ist nach dem Gesagten abzuweisen, soweit darauf eingetreten werden kann. Bei diesem Ausgang hat die Beschwerdeführerin die Verfahrenskosten zu tragen (Art. 156 Abs. 1 OG). 
 
 
II. Nichtigkeitsbeschwerde 
3. 
Die Beschwerdeführerin macht geltend, sie habe sich vor dem Blinken mit einem Blick in den Rückspiegel vergewissert, dass von hinten keine Gefahr kam. Sie habe beim anschliessenden Abbiegen darauf vertrauen dürfen, vom nachfolgenden Fahrzeuglenker nicht verkehrsregelwidrig links überholt zu werden. Denn sie habe keine unklare Verkehrslage geschaffen, die eine erhöhte Aufmerksamkeit und einen Blick über die Schulter erfordert hätte. 
4. 
4.1 Fahrzeugführer müssen beim Abbiegen auf den Gegenverkehr und auf die ihnen nachfolgenden Fahrzeuge Rücksicht nehmen (Art. 34 Abs. 3 SVG). Sie haben jede Richtungsänderung rechtzeitig anzugeben (Art. 39 Abs. 1 SVG). Eine pflichtgemässe Zeichengebung entbindet nicht von der gebotenen Vorsicht (Art. 39 Abs. 2 SVG). 
 
Demgegenüber muss der Überholende auf die übrigen Strassenbenützer, namentlich auf jene, die er überholen will, besonders Rücksicht nehmen (Art. 35 Abs. 3 SVG). Fahrzeuge dürfen nicht überholt werden, wenn der Führer die Absicht anzeigt, nach links abzubiegen (Art. 35 Abs. 5 SVG). Hat ein Fahrzeug zum Abbiegen nach links eingespurt, darf es nur rechts überholt werden (Art. 35 Abs. 6 SVG). 
4.2 Das Mass der Sorgfalt, die vom Fahrzeuglenker verlangt wird, richtet sich nach den gesamten Umständen, namentlich der Verkehrsdichte, den örtlichen Verhältnissen, der Zeit, der Sicht und den voraussehbaren Gefahrenquellen (BGE 122 IV 225 E. 2b S. 228). Nach dem aus der Grundregel von Art. 26 Abs. 1 SVG abgeleiteten Vertrauensgrundsatz darf jeder Strassenbenützer darauf vertrauen, dass sich die anderen Verkehrsteilnehmer ordnungsgemäss verhalten. Ein solches Vertrauen ist jedoch nicht gerechtfertigt, wenn Anzeichen dafür bestehen, dass sich ein Strassenbenützer nicht richtig verhalten wird oder wenn ein Fehlverhalten eines anderen Verkehrsteilnehmers auf Grund einer unklaren Verkehrssituation nach der allgemeinen Erfahrung unmittelbar in die Nähe rückt. Das wird von Art. 26 Abs. 2 SVG dahingehend umschrieben, dass besondere Vorsicht geboten ist gegenüber Kindern, Gebrechlichen und alten Leuten, sowie wenn Anzeichen dafür bestehen, dass sich ein Strassenbenützer nicht richtig verhalten wird (BGE 125 IV 83 E. 2b S. 87 f.; Urteil des Bundesgerichts 6S.120/1998 vom 3.4.1998 E. 2b, veröffentlicht in Pra, 1998 125 692). Liegen konkrete Anzeichen dafür vor, dass sich Verkehrsteilnehmer unkorrekt verhalten werden, obliegt es den anderen Verkehrsteilnehmern, der Gefahr mit besonderer Vorsicht zu begegnen, widrigenfalls ihnen die Berufung auf das Vertrauensprinzip versagt bleibt. 
 
Das Vertrauensprinzip kann grundsätzlich auch derjenige Fahrzeuglenker anrufen, der von einer Hauptstrasse nach links in eine Nebenstrasse einbiegt. Bei Fehlen gegenteiliger Anzeichen muss der Abbiegende insbesondere nicht damit rechnen, dass ein nachfolgendes Fahrzeug überraschend auftauchen könnte oder dass ein bereits sichtbarer Fahrzeugführer seine Geschwindigkeit plötzlich stark erhöhen werde, um verkehrsregelwidrig links zu überholen (BGE 125 IV 83 E. 2c). Im Interesse der Verkehrssicherheit wird jedoch nicht leichthin anzunehmen sein, der links Abbiegende habe sich auf das für nachfolgende Fahrzeuge geltende Verbot des Linksüberholens verlassen dürfen; denn er schafft mit seinem Manöver eine gefahrenträchtige Verkehrssituation namentlich für die nachfolgenden Verkehrsteilnehmer (BGE 125 IV 83 E. 2c). 
5. 
5.1 Die Vorinstanz führt aus, der Unfallbeteiligte sei der Beschwerdeführerin auf der Bahnhofstrasse in einem eher geringen Abstand gefolgt. Die Beschwerdeführerin habe für ihn eine unklare Lage geschaffen. Sie habe eine Querstrasse vor der alten Bruggerstrasse zunächst ein Abbiegen nach links signalisiert und ihre Geschwindigkeit gesenkt, anschliessend den Blinker wieder zurückgesetzt und bis zur nicht weit entfernten nächsten Einmündung beschleunigt. Dort habe sie die Geschwindigkeit wieder stark gesenkt und erneut den linken Blinker gestellt. Dies habe beim nachfolgenden Fahrzeuglenker Unsicherheit über ihre Absichten hervorrufen müssen. Deshalb und weil der andere Lenker in kurzem Abstand folgte, sei sie verpflichtet gewesen, sich unmittelbar vor dem Abbiegen mit einem Blick nach hinten abzusichern. Indem sie dies unterlassen habe, habe sie gegen Art. 34 Abs. 3 und Art. 39 Abs. 2 SVG verstossen (angefochtenes Urteil, S. 5). 
5.2 Diese Ausführungen sind bundesrechtlich nicht zu beanstanden. Ihnen ist kaum etwas beizufügen. 
 
Als die Beschwerdeführerin in den Rückspiegel blickte, bevor sie zum zweiten Mal den Blinker setzte, folgte ihr in kurzem Abstand ein anderer Personenwagen. Dessen Lenker setzte unmittelbar danach zum - verkehrsregelwidrigen - Überholen der Beschwerdeführerin an, was diese nicht wahrnahm. Mit der Möglichkeit eines solchen Fehlverhaltens hätte die Beschwerdeführerin rechnen müssen, weil sie vor dem eigentlichen Abbiegen bereits einmal geblinkt und abgebremst hatte, ohne in der Folge abzubiegen. Sie konnte deshalb nicht darauf vertrauen, dass ihre erneute Zeichengebung für den nachfolgenden Fahrzeuglenker als klar und unmissverständlich interpretiert würde. Weil sie für die unklare Lage verantwortlich war, musste sie dies mit erhöhter Vorsicht kompensieren und unmittelbar vor dem Abbiegen einen zusätzlichen Blick nach hinten werfen. Dies hat sie unterlassen und deshalb gegen die von der Vorinstanz genannten Sorgfaltspflichten verletzt. 
 
Mangels verkehrsregelkonformen Verhaltens kann sich die Beschwerdeführerin nicht auf den Vertrauensgrundsatz berufen. Nur der Linksabbieger, der seine Absicht klar und unmissverständlich signalisiert hat, darf sich darauf verlassen, nicht mehr links überholt zu werden (vgl. BGE 125 IV 83 E.2d). 
6. 
Die Rüge der Bundesrechtsverletzung ist somit unbegründet. Die Beschwerde ist abzuweisen. Bei diesem Ausgang trägt die Beschwerdeführerin die Kosten des bundesgerichtlichen Verfahrens (Art. 278 Abs. 1 BStP). 
 
Demnach erkennt das Bundesgericht: 
1. 
Die staatsrechtliche Beschwerde wird abgewiesen, soweit darauf einzutreten ist. 
2. 
Die Nichtigkeitsbeschwerde wird abgewiesen. 
3. 
Für die Verfahren vor Bundesgericht wird der Beschwerdeführerin eine Gerichtsgebühr von insgesamt Fr. 4'000.-- auferlegt. 
4. 
Dieses Urteil wird der Beschwerdeführerin, der Staatsanwaltschaft des Kantons Aargau und dem Obergericht des Kantons Aargau, Strafgericht, 3. Kammer, schriftlich mitgeteilt. 
Lausanne, 2. November 2006 
Im Namen des Kassationshofes 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
Der Präsident: Der Gerichtsschreiber: