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Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
{T 0/2} 
1P.853/2005 /ast 
 
Urteil vom 3. März 2006 
I. Öffentlichrechtliche Abteilung 
 
Besetzung 
Bundesrichter Féraud, Präsident, 
Bundesrichter Nay, Fonjallaz, 
Gerichtsschreiberin Schoder. 
 
Parteien 
X.________, 
Beschwerdeführer, vertreten durch Rechtsanwalt 
Pierre-Marie Waldvogel, 
 
gegen 
 
Staatsanwaltschaft des Kantons Luzern, Zentralstrasse 28, 6002 Luzern, 
Obergericht des Kantons Luzern, II. Kammer, Hirschengraben 16, 6002 Luzern. 
 
Gegenstand 
Strafverfahren; unentschuldigtes Fernbleiben von der Gerichtsverhandlung, 
 
Staatsrechtliche Beschwerde gegen den Entscheid des Obergerichts des Kantons Luzern, II. Kammer, vom 25. Oktober 2005. 
 
Sachverhalt: 
A. 
X.________ wurde vom Kriminalgericht des Kantons Luzern der mehrfachen Widerhandlung gegen das Betäubungsmittelgesetz schuldig gesprochen und zu viereinhalb Jahren Zuchthaus, abzüglich der erstandenen Untersuchungshaft und des vorzeitigen Strafvollzugs verurteilt. Zudem wurde er für sieben Jahre des Landes verwiesen. 
 
Der frühere Verteidiger von X.________ legte gegen das Urteil des Kriminalgerichts beim Obergericht des Kantons Luzern Appellation ein. Mit Eingabe vom 17. August 2005 verlangte der neue und jetzige Verteidiger von X.________ die psychiatrische Begutachtung seines Mandanten im Hinblick auf eine mögliche Einweisung in eine Arbeitserziehungsanstalt sowie die Verschiebung der Appellationsverhandlung. Das Obergericht setzte in der Folge die ursprünglich auf den 23. August 2005 angesetzte Appellationsverhandlung auf den 25. Oktober 2005, 14.00 Uhr an. 
 
Weder X.________ noch sein Verteidiger erschienen am 25. Oktober 2005 auf die anberaumte Zeit um 14.00 Uhr zur Appellationsverhandlung. Nach Ablauf der Respektviertelstunde stellte der Präsident die Abwesenheit des Angeklagten und dessen Verteidigers fest. Am anschliessend geführten Telefongespräch zwischen dem Gerichtsweibel und dem Verteidiger stellte sich heraus, dass sich dieser auf dem Weg zur Gerichtsverhandlung befand und der Meinung war, dass die Verhandlung auf 15.00 Uhr angesetzt worden war. Der zur Appellationsverhandlung erschienene Staatsanwalt wurde gebeten, bis zum Eintreffen des Verteidigers und des Angeklagten im Gerichtsgebäude anwesend zu sein, damit die Frage, ob verhandelt wird oder nicht, kontradiktorisch behandelt werden könne. 
 
Um 14.57 Uhr trafen X.________ und sein Verteidiger im Gerichtssaal ein. Der Angeklagte erklärte, dass er wie sein Verteidiger davon ausgegangen sei, die Appellationsverhandlung finde um 15.00 Uhr statt. Er habe die Vorladung des Obergerichts erhalten, wisse aber nicht, wo er sie zu Hause hingelegt habe. Der Verteidiger gab an, dass er in seiner Agenda den Zeitpunkt 15.00 Uhr als Beginn der Gerichtsverhandlung eingetragen resp. die Zeitspanne zwischen 15.00 Uhr und 18.00 Uhr für die Appellationsverhandlung reserviert habe. Es sei ihm nicht klar, weshalb sowohl er als auch der Angeklagte davon ausgegangen seien, die Appellationsverhandlung beginne um 15.00 Uhr. Der Staatsanwalt beantragte, infolge des verspäteten Erscheinens auf die Appellation nicht einzutreten. Das Obergericht entschied gleichentags, dass das Appellationsverfahren durch Dahinfallen der Appellation als erledigt von der Geschäftskontrolle abgeschrieben wird. 
B. 
X.________ hat gegen den Entscheid des Obergerichts vom 25. Oktober 2005 staatsrechtliche Beschwerde erhoben. Er beantragt die Aufhebung des angefochtenen Entscheids. 
C. 
Das Obergericht beantragt die Abweisung der Beschwerde, soweit darauf einzutreten sei. Die Staatsanwaltschaft des Kantons Luzern beantragt ebenfalls die Beschwerdeabweisung. Der Beschwerdeführer hat repliziert. 
 
Das Bundesgericht zieht in Erwägung: 
1. 
1.1 Der Beschwerdeführer rügt eine Verletzung des Verbots des überspitzten Formalismus (Art. 29 Abs. 1 BV). Seiner Auffassung nach hätte die Verspätung nur zur Auferlegung der Mehrkosten, nicht aber zur Abschreibung des Appellationsverfahrens führen dürfen. 
1.2 Das Obergericht stützte seinen Entscheid auf § 242 Abs. 1 des Gesetzes des Kantons Luzern vom 3. Juni 1957 über die Strafprozessordnung (StPO/LU), wonach die Appellation dahinfällt, wenn der Appellant nicht zur Verhandlung erscheint. Gemäss den obergerichtlichen Erwägungen werde dem Appellanten jeweils eine Respektviertelstunde eingeräumt. Weder der Beschwerdeführer noch sein Verteidiger seien indessen innerhalb der Respektzeit vor Gericht erschienen. Auch könne der Beschwerdeführer nicht Gründe angeben, die sein Fehlverhalten entschuldigt hätten. Der geltend gemachte Irrtum reiche als Entschuldigungsgrund nicht aus. 
 
Das Obergericht schloss, die Abschreibung des Appellationsverfahrens stelle keine Verletzung des Verbots des überspitzten Formalismus dar. Der Beschwerdeführer habe rechtzeitig von der Vorladung Kenntnis erhalten. Nach Auffassung des Gerichts hätte der Beschwerdeführer den Gerichtstermin ohne weiteres einhalten können, wenn er seiner Sorgfaltspflicht nachgekommen wäre. Die Sanktion des Dahinfallens der Appellation gemäss § 242 Abs. 1 StPO/LU sei vertretbar. Der pünktliche Beginn einer Gerichtsverhandlung biete Gewähr für einen ordentlichen Gang der Rechtspflege und sei auch zur Einhaltung des Beschleunigungsgebots erforderlich. 
1.3 Der Beschwerdeführer bringt dagegen vor, die Säumnisfolge des Dahinfallens der Appellation sei unverhältnismässig, da ein wesentliches Interesse des Beschwerdeführers an der Durchführung der Appellationsverhandlung bestehe. Auch sei die Respektviertelstunde nicht unabdingbare Voraussetzung für einen geregelten Gang der Rechtspflege. So gewähre der Kanton Zürich eine volle Stunde Respektzeit. Entscheidend für die Säumnisfolge könne nur sein, ob der konkrete Verfahrensgang durch die Verspätung wesentlich behindert worden sei und ob die Verfahrensparteien in guten Treuen gehandelt hätten oder nicht. 
1.4 Das aus Art. 29 Abs. 1 BV und dem Grundsatz von Treu und Glauben fliessende Verbot des überspitzten Formalismus wendet sich gegen prozessuale Formenstrenge, die als exzessiv erscheint, durch kein schutzwürdiges Interesse gerechtfertigt ist, zum blossen Selbstzweck wird und die Verwirklichung des materiellen Rechts in unhaltbarer Weise erschwert oder gar verhindert. Das Bundesgericht prüft frei, ob eine solche Rechtsverweigerung vorliegt (BGE 127 I 31 E. 2a/bb S. 34, 121 I 177 E. 2b/aa S. 179, je mit Hinweisen). 
1.5 Nach den Angaben des Obergerichts zur kantonalen Praxis wird den Verfahrensparteien bei Säumnis jeweils eine Respektviertelstunde zugebilligt. Damit gibt das Obergericht implizit zu erkennen, dass es die strikte Anwendung von § 242 Abs. 1 StPO/LU als zu streng erachtet. Eine Milderung der Säumnisfolge von § 242 Abs. 1 StPO/LU besteht in der Möglichkeit, in analoger Anwendung von § 48 StPO/LU über die Fristwiederherstellung ein schriftliches Gesuch um Ansetzung eines neuen Gerichtstermins zu stellen. Indessen hätte die Einreichung eines solchen Gesuchs vorliegend keinen Sinn gehabt, da der Beschwerdeführer die Gründe seines verspäteten Erscheinens zur Appellationsverhandlung bereits mündlich darlegen konnte. 
 
Zur Beurteilung der Frage, ob das Verbot des überspitzten Formalismus verletzt ist, muss auf die gesamten Verfahrensumstände abgestellt werden. Vorliegend hätte das Obergericht die Möglichkeit gehabt, die Appellationsverhandlung nach Ablauf der Respektviertelstunde abzubrechen und sich mit einer anderen Rechtssache zu befassen. Stattdessen nahm das Gericht mit dem Verteidiger telefonisch Kontakt auf, wartete, bis dieser und der Beschwerdeführer eintrafen, und führte darauf eine kontradiktorische Verhandlung über die Verfahrensabschreibung durch. Unter diesen Umständen die Appellation wegen Nichterscheinens des Appellanten als dahingefallen zu erklären, ist durch keine schutzwürdigen Interessen gerechtfertigt. Anstelle der Durchführung einer kontradiktorischen Verhandlung über die Verfahrensabschreibung hätte das Obergericht ohne weiteres sogleich die Appellationsverhandlung abhalten können. Der Gang der Rechtspflege wäre dadurch nicht gestört worden. Daher ist das Verbot des überspitzten Formalismus hier durch die Anwendung von § 242 Abs. 1 StPO/LU verletzt worden. 
2. 
Somit ergibt sich, dass die staatsrechtliche Beschwerde begründet und der angefochtene Entscheid des Obergerichts aufzuheben ist. Bei diesem Verfahrensausgang sind keine Kosten zu erheben (Art. 156 Abs. 2 BV). Hingegen hat der Kanton Luzern dem obsiegenden Beschwerdeführer eine angemessene Parteientschädigung zu zahlen (Art. 159 Abs. 2 BV). 
 
Demnach erkennt das Bundesgericht: 
1. 
Die staatsrechtliche Beschwerde wird gutgeheissen und der angefochtene Entscheid des Obergerichts des Kantons Luzern, II. Kammer, vom 25. Oktober 2005 aufgehoben. 
2. 
Es werden keine Kosten erhoben. 
3. 
Der Kanton Luzern hat den Beschwerdeführer für das bundesgerichtliche Verfahren mit Fr. 2'000.-- zu entschädigen. 
4. 
Dieses Urteil wird dem Beschwerdeführer, der Staatsanwaltschaft des Kantons Luzern und dem Obergericht des Kantons Luzern, II. Kammer, schriftlich mitgeteilt. 
Lausanne, 3. März 2006 
Im Namen der I. öffentlichrechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
Der Präsident: Die Gerichtsschreiberin: