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Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
{T 0/2} 
1P.8/2003 /sta 
 
Urteil vom 4. Februar 2003 
I. Öffentlichrechtliche Abteilung 
 
Bundesgerichtspräsident Aemisegger, Präsident, 
Bundesgerichtsvizepräsident Nay, Bundesrichter Féraud, 
Gerichtsschreiberin Leuthold. 
 
X.________, Beschwerdeführer, vertreten durch Rechtsanwalt Ruedi Bollag, Im Lindenhof, Postfach 41, 9320 Arbon, 
 
gegen 
 
Staatsanwaltschaft des Kantons Aargau, Frey-Herosé-Strasse 12, 5001 Aarau, 
Obergericht des Kantons Aargau, Beschwerdekammer in Strafsachen, Obere Vorstadt 38, 5000 Aarau. 
 
persönliche Freiheit, Art. 10 Abs. 2 BV, Art. 5 EMRK (Sicherheitshaft), 
 
Staatsrechtliche Beschwerde gegen den Entscheid des Obergerichts des Kantons Aargau, Beschwerdekammer in Strafsachen, vom 5. Dezember 2002. 
 
Sachverhalt: 
A. 
Die beiden türkischen Staatsangehörigen X.________ und A.________ heirateten im Jahre 1983. Aus der Ehe gingen der Sohn B.________ (geboren 1985) und die Tochter C.________ (geboren 1992) hervor. Am 9. Dezember 1999 reichte A.________ gegen ihren Ehemann die Scheidungsklage ein. Mit Urteil vom 2. Februar 2001 wurde die Ehe geschieden. 
 
Frau A.________ hatte am 28. November 2000 gegen ihren Ehemann Strafanzeige erstattet und geltend gemacht, sie sei von ihm in der Nacht vom 27./28. November 2000 unter massivem psychischem Druck und unter Waffendrohung wiederholt zum Geschlechtsverkehr genötigt worden. Die Staatsanwaltschaft des Kantons Aargau erhob am 21. Januar 2002 gegen X.________ Anklage wegen Nötigung, mehrfacher Vergewaltigung und Widerhandlung gegen das Waffengesetz. Der Angeklagte bestritt die ihm zur Last gelegten Vorwürfe. Das Bezirksgericht Baden sprach X.________ mit Urteil vom 13. November 2002 im Sinne der Anklage schuldig und bestrafte ihn mit drei Jahren Zuchthaus und mit einer Busse von Fr. 500.-- ; ausserdem verwies es ihn für 8 Jahre unbedingt des Landes. Mit Beschluss vom gleichen Tag ordnete das Bezirksgericht an, der Angeklagte werde zur Sicherung des Strafvollzuges und zur Vermeidung der Fortsetzung der strafbaren Tätigkeit in Haft genommen. Diesen Beschluss focht der Angeklagte mit einer Beschwerde beim Obergericht des Kantons Aargau an. Am 5. Dezember 2002 wies das Obergericht die Beschwerde ab. 
B. 
X.________ liess dagegen mit Eingabe vom 6. Januar 2003 durch seinen Anwalt staatsrechtliche Beschwerde beim Bundesgericht erheben. Er beantragt, der Entscheid des Obergerichts sei aufzuheben. Ausserdem ersucht er um Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege für das bundesgerichtliche Verfahren. 
C. 
Die Staatsanwaltschaft des Kantons Aargau stellt unter Verzicht auf Gegenbemerkungen den Antrag, die Beschwerde sei abzuweisen. Das Obergericht verzichtete auf eine Vernehmlassung. 
 
Das Bundesgericht zieht in Erwägung: 
1. 
Der Beschwerdeführer macht geltend, die Abweisung seiner Beschwerde gegen die Anordnung der Sicherheitshaft verletze das Recht auf persönliche Freiheit nach Art. 10 Abs. 2 BV und Art. 5 Ziff. 1 lit. c EMRK
1.1 Bei staatsrechtlichen Beschwerden, die gestützt auf das verfassungsmässige Recht der persönlichen Freiheit wegen Anordnung oder Fortdauer der Haft erhoben werden, prüft das Bundesgericht im Hinblick auf die Schwere des Eingriffs die Auslegung und Anwendung des entsprechenden kantonalen Rechts frei. Soweit jedoch reine Sachverhaltsfeststellungen und damit Fragen der Beweiswürdigung zu beurteilen sind, greift das Bundesgericht nur ein, wenn die tatsächlichen Feststellungen der kantonalen Instanz willkürlich sind (BGE 128 I 184 E. 2.1 S. 186; 123 I 31 E. 3a S. 35, je mit Hinweisen). Die vom Beschwerdeführer ebenfalls angerufene Vorschrift von Art. 5 EMRK geht ihrem Gehalt nach nicht über den verfassungsmässigen Anspruch auf persönliche Freiheit hinaus. Indessen berücksichtigt das Bundesgericht bei der Konkretisierung dieses Anspruchs auch die Rechtsprechung der Konventionsorgane (BGE 114 Ia 281 E. 3 S. 282 f. mit Hinweisen). 
1.2 Nach § 67 Abs. 1 und 2 der Strafprozessordnung des Kantons Aargau ist die Anordnung oder Aufrechterhaltung der Haft zulässig, wenn der Angeschuldigte einer mit Freiheitsstrafe bedrohten Tat dringend verdächtig ist und überdies Flucht-, Kollusions- oder Fortsetzungsgefahr besteht. 
 
Der dringende Tatverdacht ist im vorliegenden Fall, in welchem der Beschwerdeführer erstinstanzlich schuldig gesprochen und zu drei Jahren Zuchthaus verurteilt wurde, unbestrittenermassen gegeben. 
 
Zur Frage der Fortsetzungsgefahr, die das Bezirksgericht bejaht hatte, führte das Obergericht aus, an der Hauptverhandlung vor dem Bezirksgericht habe der Beschwerdeführer - trotz verschiedener aktenkundiger Hinweise u.a. des Hausarztes seiner geschiedenen Ehefrau - bestritten, dass sich diese während der fünfzehnjährigen Dauer der Ehe mehrfach ins Frauenhaus begeben habe, um sich vor seinen Gewalttätigkeiten in Sicherheit zu bringen. Frau A.________ habe an der Hauptverhandlung ausgesagt, ihre "Desinteresse-Erklärung" (bezüglich einer Verurteilung des Beschwerdeführers) habe sie nur wegen der Kinder unterzeichnet, derentwegen sie auch so lange in der ehelichen Gemeinschaft ausgeharrt habe. Sie behaupte indes nicht, dass der Beschwerdeführer - ausser via Telefon - seit der Anzeigeerstattung noch mit ihr in Kontakt gestanden sei. Er habe sie allerdings zum Rückzug der Anzeige aufgefordert und ihr in Aussicht gestellt, dass sie für diesen Fall die Kinder, welche bei den Eltern des Beschwerdeführers in der Türkei lebten, zurückerhalte. Das Obergericht nahm an, trotz der geltend gemachten massiven Gewaltübergriffe des Beschwerdeführers während der Ehe bestehe keine hohe Wahrscheinlichkeit dafür, dass er gegen seine geschiedene Frau mit ähnlichen Übergriffen Druck ausüben würde. Es verneinte daher im Gegensatz zum Bezirksgericht das Bestehen einer Fortsetzungsgefahr. Hingegen vertrat das Obergericht die Ansicht, es bestehe Fluchtgefahr. Der Beschwerdeführer hält diese Auffassung für verfassungswidrig. 
1.3 Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts braucht es für die Annahme der Fluchtgefahr eine gewisse Wahrscheinlichkeit, dass sich der Angeschuldigte, wenn er in Freiheit wäre, der Strafverfolgung und dem Vollzug der Strafe durch Flucht entziehen würde. Die Schwere der drohenden Strafe darf als ein Indiz für Fluchtgefahr gewertet werden. Sie genügt jedoch für sich allein nicht, um den Haftgrund zu bejahen. Vielmehr müssen die konkreten Umstände des betreffenden Falles, insbesondere die gesamten Verhältnisse des Angeschuldigten, in Betracht gezogen werden (BGE 125 I 60 E. 3a S. 62; 117 Ia 69 E. 4a S. 70, je mit Hinweisen). 
 
Das Bezirksgericht Baden hat den Beschwerdeführer der Nötigung, der mehrfachen Vergewaltigung sowie der Widerhandlung gegen das Waffengesetz schuldig gesprochen und zu drei Jahren Zuchthaus verurteilt. Sollte die Berufungsinstanz, an welche der Beschwerdeführer gemäss seinen Angaben nach Erhalt der Begründung des erstinstanzlichen Entscheids gelangen wird, das Urteil des Bezirksgerichts bestätigen, so hätte er eine empfindliche Freiheitsstrafe zu gewärtigen. Es kann ohne weiteres davon ausgegangen werden, schon mit Rücksicht auf die Schwere der drohenden Strafe bestehe ein erheblicher Anreiz zur Flucht. 
 
Hinsichtlich der persönlichen Situation des Beschwerdeführers hielt das Obergericht fest, die Fluchtgefahr erscheine aufgrund der persönlichen Verhältnisse des Beschwerdeführers evident. Dieser halte sich schon seit Jahren während mehreren Monaten im Jahr in seiner türkischen Heimat auf, wo auch seine von seinen Eltern betreuten Kinder lebten oder - was die Tochter C.________ betreffe - bis zur Überführung in die Schweiz gelebt hätten. Der Beschwerdeführer sei erst zehn Tage vor der erstinstanzlichen Hauptverhandlung von einem dreimonatigen Aufenthalt in der Türkei in die Schweiz eingereist, und er sei nach der Verhandlung sofort in seine Heimat zurückgekehrt. Die Gefahr liege daher nahe, dass er sich dem mit dem erstinstanzlichen Urteil konkret gewordenen drohenden Strafvollzug dadurch entziehe, dass er nicht mehr in die Schweiz zurückkomme. Dies konkretisiere sich bereits dadurch, dass der Beschwerdeführer in der Begründung der gegen den Haftentscheid des Bezirksgerichts erhobenen Beschwerde zum Ausdruck gebracht habe, er werde zur Besprechung über den weiteren Aufenthalt der sich hier befindlichen Tochter C.________ nicht mehr in die Schweiz zurückkehren, solange der Haftbefehl aufrechterhalten bleibe. 
 
In der staatsrechtlichen Beschwerde wird nichts vorgebracht, was geeignet wäre, diese Überlegungen des Obergerichts als verfassungswidrig erscheinen zu lassen. Es ist unbestritten, dass sich der Beschwerdeführer, welcher türkischer Staatsangehöriger ist, regelmässig in der Türkei aufhält, dass sein Sohn bei seinen Eltern in der Türkei lebt und dass auch seine Tochter bis Ende Oktober 2002 dort lebte. Zudem steht fest, dass der Beschwerdeführer nach der erstinstanzlichen Hauptverhandlung vom 13. November 2002 in die Türkei zurückgekehrt ist. In der staatsrechtlichen Beschwerde wird betont, der Beschwerdeführer sei im Jahre 2001 aufgefordert worden, eine von der Bezirksanwaltschaft Winterthur im Juni 2000 gegen ihn wegen Fahrens in angetrunkenem Zustand ausgefällte Strafe von zwei Monaten Gefängnis in der Schweiz zu verbüssen, und er habe dies "anstandslos" getan. Diesem Umstand kommt indes kein entscheidendes Gewicht gegen die Annahme von Fluchtgefahr zu, denn die Verbüssung einer zweimonatigen Gefängnisstrafe kann klarerweise nicht mit dem im hängigen Strafverfahren drohenden Vollzug einer Zuchthausstrafe von drei Jahren verglichen werden. Sodann ist darauf hinzuweisen, dass in der an das Obergericht gerichteten Beschwerde vom 25. November 2002 erklärt wurde, aufgrund des Beschlusses des "BG Arbon" (richtig: BG Baden) sei an eine Rückkehr des Beschwerdeführers in die Schweiz "selbstverständlich nicht zu denken". Das Obergericht konnte mit guten Gründen annehmen, angesichts der persönlichen Verhältnisse des Beschwerdeführers bestehe eine erhebliche Gefahr, er werde sich dem drohenden Strafvollzug dadurch entziehen, dass er nicht mehr in die Schweiz zurückkehre. Werden die gesamten Verhältnisse des Beschwerdeführers in Betracht gezogen, so verletzte das Obergericht das Grundrecht der persönlichen Freiheit nicht, wenn es die Fluchtgefahr bejahte und deshalb die vom Beschwerdeführer gegen den Haftanordnungsentscheid des Bezirksgerichts erhobene Beschwerde abwies. 
 
Nach dem Gesagten ist die staatsrechtliche Beschwerde abzuweisen. 
2. 
Dem Begehren des Beschwerdeführers um Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege im Sinne von Art. 152 Abs. 1 und 2 OG kann mit Rücksicht auf die gesamten Umstände des Falles entsprochen werden. 
 
Der Anwalt des Beschwerdeführers hat dem Bundesgericht eine Aufstellung über seinen Arbeitsaufwand und die Auslagen eingereicht. In Anwendung der Art. 3, 6 (Abs. 2) und 9 des Tarifs vom 9. November 1978 über die Entschädigungen an die Gegenpartei für das Verfahren vor dem Bundesgericht (SR 173.119.1) erscheint eine Entschädigung von insgesamt Fr. 1'800.-- als angemessen. 
 
Demnach erkennt das Bundesgericht: 
 
1. 
Die staatsrechtliche Beschwerde wird abgewiesen. 
2. 
Dem Beschwerdeführer wird die unentgeltliche Rechtspflege gewährt: 
2.1 Es werden keine Kosten erhoben. 
2.2 Rechtsanwalt Ruedi Bollag, Arbon, wird als amtlicher Anwalt des Beschwerdeführers bezeichnet und für das bundesgerichtliche Verfahren aus der Bundesgerichtskasse mit Fr. 1'800.-- entschädigt. 
3. 
Dieses Urteil wird dem Beschwerdeführer sowie der Staatsanwaltschaft und dem Obergericht des Kantons Aargau, Beschwerdekammer in Strafsachen, schriftlich mitgeteilt. 
Lausanne, 4. Februar 2003 
Im Namen der I. öffentlichrechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
 
Der Präsident: Die Gerichtsschreiberin: