Wichtiger Hinweis:
Diese Website wird in älteren Versionen von Netscape ohne graphische Elemente dargestellt. Die Funktionalität der Website ist aber trotzdem gewährleistet. Wenn Sie diese Website regelmässig benutzen, empfehlen wir Ihnen, auf Ihrem Computer einen aktuellen Browser zu installieren.
Zurück zur Einstiegsseite Drucken
Grössere Schrift
 
[AZA 7] 
I 554/00 Gb 
 
IV. Kammer 
 
Präsident Borella, Bundesrichter Rüedi und Bundesrichterin 
Leuzinger; Gerichtsschreiber Hadorn 
 
Urteil vom 5. September 2001 
 
in Sachen 
Bundesamt für Sozialversicherung, Effingerstrasse 20, 3003 Bern, Beschwerdeführer, 
 
gegen 
G.________, Beschwerdegegner, vertreten durch seinen Vater K.________, wohnhaft an gleicher Adresse, und dieser vertreten durch lic. iur. Georg Biedermann, Metzggasse 2, 8400 Winterthur, 
 
und 
Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich, Winterthur 
 
Mit Verfügung vom 19. Februar 1999 lehnte die IV-Stelle des Kantons Zürich die Übernahme medizinischer Massnahmen für G.________ (geb. 8. Oktober 1989) ab, da die Diagnose eines Psychoorganischen Syndroms (POS) erst nach Vollendung des 9. Altersjahres gestellt worden sei. 
Die dagegen erhobene Beschwerde hiess das Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich mit Entscheid vom 29. August 2000 gut. Es stellte fest, dass G.________ an einem POS als anerkanntem Geburtsgebrechen leide. 
Das Bundesamt für Sozialversicherung (BSV) führt Verwaltungsgerichtsbeschwerde mit dem Antrag, der kantonale Entscheid sei aufzuheben. 
 
Die Eltern von G.________ lassen auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde schliessen, während die IV-Stelle auf eine Vernehmlassung verzichtet. 
 
Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung: 
 
1.- Das kantonale Sozialversicherungsgericht hat die gesetzlichen Bestimmungen über medizinische Massnahmen zur Behandlung von Geburtsgebrechen bei Minderjährigen (Art. 13 Abs. 1 IVG, Art. 1 Abs. 1 und 2 GgV), die Voraussetzungen für Leistungen der Invalidenversicherung bei kongenitalem Psychoorganischem Syndrom (Ziff. 404 GgV Anhang) sowie die dazu ergangene Rechtsprechung, namentlich zu den Voraussetzungen rechtzeitiger Diagnosestellung und rechtzeitigem Behandlungsbeginn vor Vollendung des 9. Altersjahres (BGE 122 V 113), richtig dargelegt. Darauf wird verwiesen. Ergänzend ist auf die soeben ergangenen Urteile L. vom 28. August 2001 (I 323/00) und S. vom 31. August 2001 (I 558/00) zu verweisen, in welchen das Eidgenössische Versicherungsgericht diese Rechtsprechung bestätigt und namentlich festgehalten hat, dass aus Gründen der Rechtssicherheit nicht auf die Voraussetzungen rechtzeitiger Diagnose und rechtzeitigen Behandlungsbeginns verzichtet werden kann. 
 
2.- Das versicherte Kind wurde am 8. Oktober 1998 9 Jahre alt. Demnach ist zu prüfen, ob Diagnosestellung und Behandlungsbeginn vor diesem Datum erfolgt sind. 
a) Die Vorinstanz erwog, das POS sei erst am 26. Oktober 1998, somit etwas mehr als 2 Wochen zu spät, durch Dr. 
med. S.________, Spezialärztin FMH für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie, festgestellt worden. Jedoch habe der Hausarzt, Dr. med. E.________, Arzt für Allgemeine Medizin FMH, bereits am 29. September 1998, also rechtzeitig, eine Verdachtsdiagnose gestellt und den Versicherten sofort an die Fachärztin Dr. S.________ überwiesen. 
Diese habe aus terminlichen Gründen vor Vollendung des 
9. Altersjahres keine Untersuchung durchführen können. 
Unter solchen Umständen sei die Diagnosestellung als rechtzeitig zu betrachten, da sich das Krankheitsbild in dieser kurzen Zeit auf Grund von äusseren Einflüssen nicht massgeblich verändert haben könne. Zudem habe das versicherte Kind schon ab der ersten Primarklasse Massnahmen und Therapien erhalten für Symptome, die auf eine POS-Erkrankung hinwiesen. 
 
b) Demgegenüber wendet das Beschwerde führende BSV ein, Dr. E.________ habe keine Diagnose gestellt, sondern lediglich eine spezialärztliche Abklärung veranlasst. Dies genüge nicht, um ein Geburtsgebrechen anzuerkennen. Aus Gründen der Rechtssicherheit und der Gleichbehandlung aller Versicherten sei strikte am Erfordernis der Diagnosestellung vor Vollendung des 9. Altersjahres festzuhalten, selbst wenn diese im konkreten Einzelfall nur um wenige Tage verpasst werde und das Ergebnis infolge dessen hart erscheinen möge. Es gebe in der Invalidenversicherung viele andere abstrakte Grenzwerte, welche bestimmend dafür seien, ob ein Leiden als Geburtsgebrechen anerkannt werden könne oder nicht. Vorliegend sei überdies auch das Erfordernis des rechtzeitigen Behandlungsbeginns nicht erfüllt, könne doch ohne vorherige Diagnosestellung keine POS-spezifische Behandlung erfolgen. 
c) Im Bericht vom 26. Oktober 1998 schreibt Dr. 
E.________, "nach Rücksprache mit Kantonsschularzt 29.9.98 eingeleitete kinderpsych. Abklärung wegen POS, Abklärung terminlich erst am 26.10.98 möglich". Unter "Diagnose" wird kein POS erwähnt. In dem diesem Bericht beigelegten "Problemorientierten Fragebogen für das infantile POS" gibt der Arzt an, es bestehe der Verdacht auf das erwähnte Gebrechen. 
 
d) In BGE 122 V 122f. Erw. 3c/bb hat das Eidgenössische Versicherungsgericht betont, dass fehlende Diagnose (und fehlende Behandlung) vor vollendetem 9. Altersjahr die unwiderlegbare Rechtsvermutung begründen, dass es sich nicht um ein angeborenes POS handelt. Das Gericht hat in den erwähnten Urteilen L. vom 28. August 2001 (I 323/00) und S. vom 31. August 2001 (I 558/00) erklärt, dass aus Gründen der Rechtssicherheit nicht auf die klaren Voraussetzungen der rechtzeitigen Diagnosestellung und des rechtzeitigen Behandlungsbeginns verzichtet werden kann. Eine Auflockerung dieser beiden Begriffe würde neue Unsicherheiten schaffen. Auch in den erwähnten zwei Fällen erfolgte die Diagnosestellung nur wenige Tage nach dem 9. Geburtstag, und auch dort wurde geltend gemacht, die für die Behandlung vorgesehenen Spezialisten und Institutionen seien wegen Überlastung nicht in der Lage gewesen, rechtzeitig die notwendigen Massnahmen vorzukehren. 
 
e) Die genannten Ausführungen von Dr. E.________ genügen dem Begriff der Diagnosestellung nicht. Ein Verdacht und eine deshalb eingeleitete Abklärung sind noch keine Diagnose. Daran vermag nichts zu ändern, dass von der Vollendung des 9. Altersjahres bis zur Diagnose nur zwei Wochen vergingen. Mit dem 9. Geburtstag setzt die unwiderlegbare Rechtsvermutung ein, dass kein angeborenes POS vorliegt. 
Daran vermögen die medizinisch begründeten Erwägungen der Vorinstanz, wonach sich das Krankheitsbild in so kurzer Zeit nicht ändere, nicht zu rütteln. Es vermag daher nichts zu ändern, wenn sich ex post herausstellt, dass eine rechtzeitige Diagnose an sich möglich gewesen wäre. Ebenso wenig hilft weiter, dass sich mit nachträglichen Untersuchungen das rechtzeitige Vorliegen aller Symptome rechtsgenüglich belegen lässt. Denn die Symptome sind erst für die beweisrechtliche Frage relevant, ob die Diagnose auch zutreffe (BGE 122 V 117 Erw. 2f), vermögen somit aus einer verspätet gestellten Diagnose keine rechtzeitige zu machen. Auch wenn das Ergebnis für den Versicherten hart erscheint, muss es aus Gründen der Rechtssicherheit damit sein Bewenden haben, dass die Diagnosestellung unter den Umständen des vorliegenden Falles nicht rechtzeitig erfolgt ist. 
 
f) Zudem dürfte auch die zweite Voraussetzung des rechtzeitigen Behandlungsbeginns nicht erfüllt sein. Wohl hat der Versicherte bereits Massnahmen und Therapien erhalten. 
Diese wurden jedoch nicht wegen eines POS, sondern wegen anderer, mit dem POS vereinbaren Symptomen gewährt. 
Nach dem Bericht von Dr. S.________ vom 4. Dezember 1998 hat der Knabe bislang keine "gezielte Therapie im Sinne der Schulmedizin" erhalten. Indessen braucht diese Frage nicht abschliessend geprüft zu werden, da die Invalidenversicherung nach dem Gesagten für medizinische Massnahmen auf Grund von Ziff. 404 GgV Anhang nicht leistungspflichtig ist. Ob statt der Invalidenversicherung die Krankenversicherung Leistungen zu erbringen hat, ist im vorliegenden Prozess nicht zu prüfen. 
Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht: 
 
I. In Gutheissung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird 
der Entscheid des Sozialversicherungsgerichts des Kantons 
Zürich vom 29. August 2000 aufgehoben. 
 
II. Es werden keine Gerichtskosten erhoben. 
III. Dieses Urteil wird den Parteien, dem Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich, der IV-Stelle des Kantons Zürich und der Ausgleichskasse des Kantons 
 
 
Zürich zugestellt. 
Luzern, 5. September 2001 
 
Im Namen des 
Eidgenössischen Versicherungsgerichts 
Der Präsident der IV. Kammer: 
 
Der Gerichtsschreiber: