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Eidgenössisches Versicherungsgericht 
Tribunale federale delle assicurazioni 
Tribunal federal d'assicuranzas 
 
Sozialversicherungsabteilung 
des Bundesgerichts 
 
Prozess {T 7} 
C 231/06 
 
Urteil vom 5. Dezember 2006 
IV. Kammer 
 
Besetzung 
Präsident Ursprung, Bundesrichterin Widmer und Bundesrichter Schön; Gerichtsschreiberin Schüpfer 
 
Parteien 
Kantonale Arbeitslosenkasse St. Gallen, Davidstrasse 21, 9000 St. Gallen, Beschwerdeführerin, 
 
gegen 
 
F.________, Beschwerdegegner 
 
Vorinstanz 
Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen, St. Gallen 
 
(Entscheid vom 5. September 2006) 
 
Sachverhalt: 
A. 
Der 1979 geborene F.________ war seit September 2004 im Verkauf und als "Bauallrounder" bei der Firma X.________ AG tätig. Am 31. Mai 2005 löste die Firma das Arbeitsverhältnis aus wirtschaftlichen Gründen fristlos auf. Gleichzeitig wurde mit F.________ verabredet, dass er begonnene Arbeiten trotz Kündigung noch bis im Juni beendige. Am 18. Oktober 2005 wurde über die Gesellschaft der Konkurs eröffnet, in welchem F.________ eine Forderung für in der Zeit von Februar bis Juni 2005 geleistete Überstunden, Ferienentschädigung und Spesen im Betrag von Fr. 29'565.20 eingab. Der Versicherte stellte am 19./31. Oktober 2005 bei der Arbeitslosenkasse des Kantons St. Gallen einen Antrag auf Insolvenzentschädigung. Dieser wurde mit Verfügung vom 16. Dezember 2005 abgewiesen, weil F.________ nach der Kündigung bis zur Konkurseröffnung keine rechtlichen Schritte unternommen habe, um die ausstehenden Forderungen geltend zu machen. Da er der ihm obliegenden Schadenminderungspflicht nicht hinreichend nachgekommen sei, bestehe kein Anspruch auf Insolvenzentschädigung. Mit Einspracheentscheid vom 18. Januar 2006 hielt die Arbeitslosenkasse an dieser Verfügung fest. 
B. 
In Gutheissung der hiegegen erhobenen Beschwerde gelangte das Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen zum Schluss, der Vorwurf, der Versicherte habe mit seinem Verhalten die Schadenminderungspflicht verletzt, sei nach den gesamten Umständen nicht gerechtfertigt. Dementsprechend hob es den angefochtenen Einspracheentscheid auf und wies die Sache an die Arbeitslosenkasse zurück, damit sie über die Insolvenzentschädigung neu verfüge (Entscheid vom 5. September 2006). 
C. 
Die Arbeitslosenkasse führt Verwaltungsgerichtsbeschwerde mit dem Rechtsbegehren, in Aufhebung des kantonalen Entscheids sei festzustellen, dass der Versicherte keinen Anspruch auf Insolvenzentschädigung habe. 
 
F.________ lässt sich mit dem Antrag auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde vernehmen. Das Staatssekretariat für Wirtschaft (seco) verzichtet auf Vernehmlassung. 
 
Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung: 
1. 
Im vorinstanzlichen Entscheid werden die gesetzlichen Bestimmungen über den Anspruch auf Insolvenzentschädigung (Art. 51 Abs. 1 AVIG), den Umfang des Anspruchs (Art. 52 Abs. 1 AVIG in der seit 1. Juli 2003 gültigen Fassung) sowie über die Pflichten des Arbeitnehmers im Konkurs- oder Pfändungsverfahren (Art. 55 Abs. 1 AVIG; BGE 114 V 59 Erw. 3d; ARV 2002 Nr. 8 S. 62 ff. und Nr. 30 S. 190 ff., 1999 Nr. 24 S. 140 ff.) zutreffend dargelegt. Darauf wird verwiesen. 
2. 
2.1 Die Bestimmung von Art. 55 Abs. 1 AVIG, wonach der Arbeitnehmer im Konkurs- oder Pfändungsverfahren alles unternehmen muss, um seine Ansprüche gegenüber dem Arbeitgeber zu wahren, bezieht sich dem Wortlaut nach auf das Konkurs- und Pfändungsverfahren. Sie bildet jedoch Ausdruck der allgemeinen Schadenminderungspflicht, welche auch dann Platz greift, wenn das Arbeitsverhältnis vor der Konkurseröffnung aufgelöst wird (BGE 114 V 60 Erw. 4; ARV 1999 Nr. 24 S. 140 ff.). Die Vorinstanz hat dabei richtig festgehalten, auch eine ursprüngliche Leistungsverweigerung infolge Verletzung der Schadenminderungspflicht im Sinne der zu Art. 55 Abs. 1 AVIG ergangenen Rechtsprechung (Erw. 1) setze voraus, dass dem Versicherten ein schweres Verschulden, also vorsätzliches oder grobfahrlässiges Handeln oder Unterlassen vorgeworfen werden kann (vgl. Urs Burgherr, Die Insolvenzentschädigung, Zahlungsunfähigkeit des Arbeitgebers als versichertes Risiko, Diss. Zürich 2004, S. 166 und FN 640). Das Ausmass der vorausgesetzten Schadenminderungspflicht richtet sich nach den jeweiligen Umständen des Einzelfalls. 
2.2 Vom Arbeitnehmer wird in der Regel nicht verlangt, dass er bereits während des bestehenden Arbeitsverhältnisses gegen den Arbeitgeber Betreibung einleitet oder eine Klage einreicht. Er hat jedoch seine Lohnforderung gegenüber dem Arbeitgeber in eindeutiger und unmissverständlicher Weise geltend zu machen (ARV 2002 Nr. 30 S. 190). Zu weitergehenden Schritten ist die versicherte Person dann gehalten, wenn es sich um erhebliche Lohnausstände handelt und sie konkret mit einem Lohnverlust rechnen muss. Denn es geht auch für die Zeit vor Auflösung des Arbeitsverhältnisses nicht an, dass die versicherte Person ohne hinreichenden Grund während längerer Zeit keine rechtlichen Schritte zur Realisierung erheblicher Lohnausstände unternimmt, obschon sie konkret mit dem Verlust der geschuldeten Gehälter rechnen muss (Urteile G. vom 19. Oktober 2006 C 163/06; F. vom 6. Februar 2006, C 270/05; B. vom 20. Juli 2005, C 264/04; G. vom 14. Oktober 2004, C 114/04 und G. vom 4. Juli 2002, C 33/02). 
3. 
Vorliegend ist einzig umstritten, ob der Beschwerdegegner nach Auflösung des Arbeitsverhältnisses seiner Schadenminderungspflicht nachgekommen ist. 
3.1 Auf Grund der Akten ist davon auszugehen, dass der Lohn des Beschwerdegegners bis Ende Mai 2005 regelmässig und rechtzeitig beglichen wurde. Offen ist derjenige für den Monat Juni, als das Arbeitsverhältnis zwar schon - fristlos - aufgelöst war, der Versicherte aber noch auf Bitte der Arbeitgeberin hin gearbeitet hatte. Darüber hinaus wurden ausgewiesene Spesen, Ferienansprüche, ein Anteil 13. Monatslohn und geleistete Überzeit nicht bezahlt. Gemäss glaubhafter Darstellung des Beschwerdegegners wurde ihm im Juni versichert, durch die Bezahlung der im Juni noch fertiggestellten Arbeiten wäre die Gesellschaft in der Lage, seine offenen Forderungen zu begleichen. Unter Beachtung der für die Rechnungsstellung benötigten Zeit und der für deren Begleichung üblichen Frist von 30 Tagen durfte er bis Anfangs August objektiv mit einer baldigen Zahlung rechnen. Bis dahin musste er keinesfalls rechtliche Schritte gegen die Arbeitgeberin in Erwägung ziehen. Folgerichtig gelangte der Versicherte am 10. August 2005 wieder an die Arbeitgeberin und forderte schriftlich die Überweisung des offenen Betrages von Fr. 29'565.20. Ende September wandte er sich telefonisch und schriftlich an die Arbeitslosenkasse und das Betreibungsamt. Offenbar suchte der Beschwerdegegner bei diesen Institutionen Rat hinsichtlich des weiteren Vorgehens. Auch dies ist als Bemühung um Zahlungseingang und zur Vermeidung von Schaden zu werten (vgl. beispielsweise Urteil G. vom 14. Oktober 2004, C 114/04 Erwägung 3.2.2). 
3.2 Wie die Vorinstanz richtig festgehalten hat, ist für eine Leistungsverweigerung wegen Verletzung der Schadenminderungspflicht ein schweres Verschulden vorausgesetzt, wobei im Einzelfall aufgrund der Umstände zu entscheiden ist, ob der Arbeitnehmer genügend und rechtzeitig reagiert hat (Urteil F. vom 6. Februar 2006, Erw. 3.1, C 270/05). Es kann dabei nicht verlangt werden, dass er sich juristisch fehlerlos verhält (Urteil F. vom 21. Dezember 2005, Erw. 3.2, C 63/05). Geht die Beschwerde führende Arbeitslosenkasse bereits von einer Verletzung der Schadenminderungspflicht aus, wenn ein Versicherter nach Ablauf einer dreissigtägigen Zahlungsfrist nicht mittels Betreibung oder Klage gegen seinen ehemaligen Arbeitgeber vorgeht, verkennt sie die Realitäten im Arbeitsleben und geht über das hinaus, was in der Rechtsprechung in der Regel verlangt wird. So erfüllte ein Versicherter die Schadenminderungspflicht, als er nach einer ersten schriftlichen Mahnung drei Monate zuwartete, bis er unzuständigenorts eine Lohnklage einreichte und nach dem Unzuständigkeitsentscheid nach weiteren ca. 50 Tagen beim zuständigen Gericht klagte (Urteil F. vom 21. Dezember 2005, C 63/05). Im Urteil G. vom 19. Oktober 2006 (C 163/06) hat ein Versicherter nach Beendigung des Arbeitsverhältnisses während rund 4 1/2 Monaten nichts Aktenkundiges unternommen, hingegen glaubhaft gemacht, dass er verschiedentlich telefonisch intervenierte. Im konkreten Einzelfall hat das Eidgenössische Versicherungsgericht die Schadenminderungspflicht als nicht verletzt erachtet. Würde jede Forderung, die nicht innert dreissig Tagen beglichen wird, eingeklagt, stünde das Justizsystem am Anschlag. Solches entspräche nicht einem Vorgehen, das jedem vernünftigen Menschen als selbstverständlich erscheint, was aber erforderlich ist, um bei Nichtbefolgen einer entsprechenden Verhaltensregel von einem groben Verschulden auszugehen. 
3.3 Schliesslich wendet die Beschwerdeführerin ein, man habe dem Versicherten auf seine telefonische Anfrage am 30. September 2005 dringend empfohlen, seine Forderung mittels Betreibung geltend zu machen. Anstatt dies zu befolgen, habe er angegeben, vorerst die genauen Beträge der offenen Benzin- und Telefonrechnungen sowie die Lohnbeträge zusammenstellen zu müssen. Das schwere Verschulden des Beschwerdegegners sei anzunehmen, weil er der klaren Anweisung der Arbeitslosenkasse keine Folge geleistet habe. Diesbezüglich ist mit dem kantonalen Gericht indessen festzuhalten, dass eine Anfangs Oktober 2005 eingeleitete Betreibung auf den entstandenen Schaden keinen Einfluss mehr haben konnte, nachdem bereits mit Entscheid vom 18. Oktober 2005 über die Gesellschaft der Konkurs eröffnet wurde. Ob nach der telefonischen Erkundigung und Beratung am 30. September 2005 noch weitere Schritte hätten unternommen werden müssen, ist damit für die Frage der Verletzung der Schadenminderungspflicht irrelevant. 
 
Zusammenfassend steht fest, dass, soweit eine Verletzung der Schadenminderungspflicht überhaupt anzunehmen wäre, eine solche nach den gesamten Umständen jedenfalls nicht derart schwer wiegt, dass sie mit einer Leistungsverweigerung zu sanktionieren ist. 
 
Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht: 
1. 
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird abgewiesen. 
2. 
Es werden keine Gerichtskosten erhoben. 
3. 
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen, dem Amt für Arbeit des Kantons St. Gallen und dem Staatssekretariat für Wirtschaft zugestellt. 
Luzern, 5. Dezember 2006 
Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts 
Der Präsident der IV. Kammer: Die Gerichtsschreiberin: