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Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
 
 
 
{T 0/2} 
 
2C_712/2016  
   
   
 
 
 
Urteil vom 6. September 2016  
 
II. öffentlich-rechtliche Abteilung  
 
Besetzung 
Bundesrichter Zünd, präsidierendes Mitglied, 
Bundesrichterin Aubry Girardin, 
Bundesrichter Donzallaz, 
Bundesrichter Stadelmann, 
Bundesrichter Haag, 
Gerichtsschreiber Errass. 
 
Verfahrensbeteiligte 
A.________, Beschwerdeführer, vertreten durch Rechtsanwalt Dominic Frey, 
 
gegen  
 
Migrationsamt des Kantons Aargau. 
 
Gegenstand 
Ausschaffungshaft / Haftüberprüfung, 
 
Beschwerde gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts des Kantons Aargau, 2. Kammer, vom 14. Juli 2016. 
 
 
Sachverhalt:  
 
A.   
A.________, geboren 1984, irakischer Staatsangehöriger, gelangte im Jahre 2004 in die Schweiz und stellte ein Asylgesuch. Mit Entscheid vom 15. Februar 2007 hielt das Bundesamt (heute Staatssekretariat) für Migration fest, er erfülle in seiner eigenen Person zwar die Flüchtlingseigenschaft nicht, werde aber als Flüchtling anerkannt, und es werde ihm Asyl gewährt, da seiner Ehefrau die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt worden war. Am 23. Mai 2006 kam eine gemeinsame Tochter zur Welt. Nach erfolgter Scheidung heiratete A.________ 2012 seine heutige Ehefrau, die ebenfalls aus dem Irak stammt und mit der er seit dem 24. April 2014 eine gemeinsame Tochter hat. Seit 2009 verfügt A.________ über die Niederlassungsbewilligung. 
Die Bundesanwaltschaft liess A.________ am 21. März 2014 verhaften. Mit Urteil vom 18. März 2016 sprach ihn das Bundesstrafgericht von verschiedenen Anklagepunkten frei, verurteilte ihn aber wegen Unterstützung einer kriminellen Organisation (Art. 260ter Ziff. 1 Abs. 1 StGB) sowie mehrfacher Förderung und versuchter Förderung der rechtswidrigen Einreise (Art. 116 Abs. 1 lit. a AuG) zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren und sechs Monaten. Eine schriftliche Begründung dieses Urteils liegt noch nicht vor; es ist damit auch nicht rechtskräftig. Die Verurteilung wegen Unterstützung einer kriminellen Organisation beruht darauf, dass A.________ ein Facebook-Account für einen anderen eingerichtet hat, welches alsdann der Verbreitung von Nachrichten der Organisation "Islamischer Staat" diente, der er selber nicht zugehört. Für die Tatbestände der Förderung der rechtswidrigen Einreise besteht kein solcher Zusammenhang. 
Mit Beschluss vom 11. Juli 2016 veranlasste das Bundesstrafgericht die vorzeitige Entlassung von A.________ aus dem vorzeitigen Strafvollzug per 21. Juli 2016, weil zu diesem Zeitpunkt zwei Drittel der ausgesprochenen, aber noch nicht rechtskräftigen Freiheitsstrafe verbüsst waren und es aufgrund eines guten Führungsberichts sowie einer grundsätzlich positiven Legalprognose unverhältnismässig wäre, den vorzeitigen Strafvollzug aufrechtzuerhalten. 
 
B.   
Mit Verfügung vom 12. Juli 2016 ordnete das Bundesamt für Polizei (fedpol) die Ausweisung von A.________ an und verhängte ein unbefristetes Einreiseverbot; einer allfälligen Beschwerde entzog es die aufschiebende Wirkung. Die Ausweisungsverfügung beruht auf Art. 68 AuG, wonach fedpol zur Wahrung der inneren oder äusseren Sicherheit der Schweiz gegenüber Ausländerinnen und Ausländern die Ausweisung verfügen kann. In der Verfügung ist allerdings auch festgehalten, A.________ mache geltend, gegen ihn läge im Irak ein Haftbefehl vor und es drohe ihm Folter und Todesstrafe. Diese Frage bedürfe noch fundierter Abklärung durch das Staatssekretariat für Migration. 
Das Amt für Migration und Integration des Kantons Aargau ordnete am 13. Juli 2016 Ausschaffungshaft an, welche das Verwaltungsgericht des Kantons Aargau mit Urteil vom 14. Juli 2016 mit Wirkung auf den Zeitpunkt der Entlassung aus dem vorzeitigen Strafvollzug (21. Juli 2016) bis zum 20. Oktober 2016 bestätigte. 
 
C.   
A.________ hat am 18. August 2016 Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten an das Bundesgericht erhoben. Er beantragt, den Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Aargau aufzuheben und ihn aus der Ausschaffungshaft zu entlassen; eventualiter beantragt er, eine Eingrenzung auf das Gebiet der Stadt Baden mit täglicher Meldepflicht anzuordnen. Er ersucht zudem um Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege. 
Das Amt für Migration und Integration und das Verwaltungsgericht des Kantons Aargau beantragen Abweisung der Beschwerde. Das Staatssekretariat für Migration führt in seiner Vernehmlassung vom 1. September 2016 aus, für Personen, die aus dem Zentral- und Südirak - Kirkuk, von wo der Beschwerdeführer stamme, gehöre zum Zentralirak - seien zwangsweise Rückführungen zwar nicht zumutbar, begleitete oder unbegleitete nach Bagdad hingegen technisch möglich. Zu der Frage, ob dem Beschwerdeführer bei einer Rückkehr Folter oder Todesstrafe drohe, äussert sich die Vernehmlassung jedoch nicht. 
 
 
Erwägungen:  
 
1.  
 
1.1. Das Verwaltungsgericht stützt seinen Haftentscheid auf Art. 76 Abs. 1 lit. b Ziff. 3 und 4 AuG. Danach kann, wenn ein erstinstanzlicher Weg- oder Ausweisungsentscheid eröffnet worden ist, die zuständige Behörde die betroffene Person zur Sicherstellung des Vollzugs in Haft nehmen, wenn konkrete Anzeichen befürchten lassen, dass sie sich der Ausschaffung entziehen will, insbesondere weil sie der Mitwirkungspflicht nicht nachkommt (Ziff. 3) bzw. ihr bisheriges Verhalten darauf schliessen lässt, dass sie sich behördlichen Anordnungen widersetzt (Ziff. 4).  
 
1.2. Grundvoraussetzung der Ausschaffungshaft ist ein erstinstanzlicher Ausweisungs- oder Wegweisungsentscheid; dieser braucht nicht bereits rechtskräftig zu sein.  
Der Beschwerdeführer ist ein anerkannter Flüchtling, dem in der Schweiz Asyl gewährt worden ist. Das Staatssekretariat für Migration hat bisher weder die Flüchtlingseigenschaft des Beschwerdeführers aberkannt noch dessen Asyl widerrufen (vgl. Art. 63 AsylG). Gemäss Art. 65 AsylG richtet sich die Weg- oder Ausweisung von Flüchtlingen nach Art. 64 in Verbindung mit Art. 63 Abs. 1 lit. b und Art. 68 AuG, wobei Art. 5 AsylG vorbehalten bleibt; wenn die Weg- oder Ausweisung vollzogen worden ist, erlischt das Asyl (Art. 64 Abs. 1 lit. d AsylG). Das Bundesgericht hat aufgrund dieser gesetzlichen Regelung entschieden, dass das Asyl nicht zwingend widerrufen werden muss, bevor über die Weg- oder Ausweisung eines Flüchtlings entschieden wird (BGE 139 II 65 E. 4 S. 67 ff.), dass diesfalls aber namentlich das Rückschiebungsverbot (Art. 25 Abs. 2 BV, Art. 5 AsylG), auf das Art. 65 AsylG verweist, mit dem Weg- oder Ausweisungsentscheid zu prüfen ist, und ebenso die Einhaltung des Folterverbots (Art. 25 Abs. 3 BV, Art. 3 EMRK; BGE 139 II 65 E. 5 und 6 S. 71 ff. bzw. 74 ff.). 
Formell liegt hier zwar ein erstinstanzlicher Ausweisungsentscheid des Bundesamtes für Polizei vor. Mit diesem wird aber weder die Einhaltung des Rückschiebungsverbots noch des Folterverbots geprüft, vielmehr hält der Entscheid ausdrücklich fest, dass diese Fragen vertiefter Abklärung bedürften, welche durch das Staatssekretariat für Migration vorzunehmen sei. Damit liegt aber materiell kein Ausweisungsentscheid vor, der - wenn er einmal in Rechtskraft erwachsen sollte - vollzogen werden könnte. Vielmehr sind vorerst erst Teilaspekte geprüft worden, während andere, die Voraussetzung für die Ausweisung und deren Vollzug bilden, einem späteren Entscheid des Staatssekretariats für Migration überlassen werden. Insofern handelt es sich lediglich um eine unter Bedingung erlassene Ausweisung. Entsprechend ist die Haftvoraussetzung eines erstinstanzlichen Ausweisungsentscheids (noch) nicht gegeben. 
 
1.3. Selbst wenn man davon ausginge, ein erstinstanzlicher Ausweisungsentscheid liege vor, würde es an einem Haftgrund fehlen. Konkrete Anzeichen dafür, dass sich der Beschwerdeführer der Ausschaffung entziehen würde (vgl. BGE 140 II 1 E. 5.3 S. 4), können entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts nicht darin erblickt werden, dass der Beschwerdeführer erklärt, nicht in sein Heimatland zurückkehren zu wollen. Der Beschwerdeführer hat vorgebracht, davon Kenntnis erhalten zu haben, dass gegen ihn im Irak ein Haftbefehl bestehe und dass ihm die Todesstrafe drohe. Das ist nicht zum vornherein unglaubwürdig, sondern bedarf, wie schon das Bundesamt für Polizeiwesen festgehalten hat, vertiefter Abklärung. Nach der Rechtsprechung darf aber einem Asylbewerber, solange das Verfahren hängig ist, nicht zum Nachteil gereichen, dass er in seiner Heimat Verfolgung befürchtet und aus diesem Grund erklärt, nicht dorthin zurückkehren zu wollen (BGE 129 I 139 E. 4.2.1 i.f. S. 147); das nämliche muss bei einem anerkannten Flüchtling gelten, solange nicht abgeklärt ist, ob seine Befürchtung, Verfolgung ausgesetzt zu sein, zutreffend ist oder nicht; man würde ihm sonst zumuten, sich widersprüchlich zu verhalten. Wenn das Verwaltungsgericht vom Beschwerdeführer, ohne dass ihm eine solche Frage gestellt worden wäre, erwartet, dass er die Bereitschaft zur Rückkehr bekundet, falls doch kein Haftbefehl gegen ihn vorliege, mutet dies zu einem Zeitpunkt, wo genau dies der umstrittene Punkt ist, irreal an. Den Akten lässt sich im übrigen entnehmen, dass der Beschwerdeführer aus dem vorzeitigen Strafvollzug seiner Frau geschrieben hat, nach seiner Entlassung mit ihr zusammen im Irak ein Haus bauen und dort leben zu wollen (act. 351). Das war allerdings noch bevor ihm bekannt wurde, dass gegen ihn ein Haftbefehl vorliege. Es zeigt immerhin, dass der Beschwerdeführer entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts, sich einer Rückkehr wohl nicht widersetzen würde, wenn seine Befürchtung sich als unzutreffend erweisen sollte.  
Schliesslich kann aus der strafrechtlichen Verurteilung entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts nicht der Schluss gezogen werden, dass sich der Beschwerdeführer generell behördlichen Anordnungen widersetzt. 
 
2.   
Damit erweist sich die angeordnete Ausschaffungshaft als bundesrechtswidrig, weil weder ein vollständiger erstinstanzlicher Ausweisungsentscheid vorliegt, der bei Rechtskraft vollzogen werden könnte, noch ein Haftgrund gegeben ist. Das angefochtene Urteil ist aufzuheben und der Beschwerdeführer aus der Haft zu entlassen. 
Entsprechend diesem Verfahrensausgang sind keine Kosten zu erheben (Art. 66 Abs. 1 und 4 BGG). Der Kanton Aargau hat den Beschwerdeführer für das bundesgerichtliche Verfahren zu entschädigen (Art. 68 Abs. 1 und 2 BGG). Entsprechend wird das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege gegenstandslos. Die Entschädigung ist jedoch dem Vertreter auszurichten. 
 
 
 Demnach erkennt das Bundesgericht:  
 
1.   
Die Beschwerde wird gutgeheissen, das Urteil des Verwaltungsgerichts des Kantons Aargau vom 14. Juli 2016 aufgehoben und das Amt für Migration und Integration des Kantons Aargau angewiesen, den Beschwerdeführer aus der Haft zu entlassen. 
 
2.   
Es werden keine Kosten erhoben. 
 
3.   
Der Kanton Aargau hat den Rechtsvertreter des Beschwerdeführers für das bundesgerichtliche Verfahren mit Fr. 2'000.-- zu entschädigen. 
 
4.   
Dieses Urteil wird den Verfahrensbeteiligten, dem Verwaltungsgericht des Kantons Aargau, 2. Kammer, und dem Staatssekretariat für Migration schriftlich mitgeteilt. 
 
 
Lausanne, 6. September 2016 
 
Im Namen der II. öffentlich-rechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
 
Das präsidierende Mitglied: Zünd 
 
Der Gerichtsschreiber: Errass