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Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
{T 7} 
U 95/06 
 
Urteil vom 7. Mai 2007 
I. sozialrechtliche Abteilung 
 
Besetzung 
Bundesrichter Ursprung, Präsident, 
Bundesrichter Frésard, Seiler, 
Gerichtsschreiber Scartazzini. 
 
Parteien 
B.________, 1933, Beschwerdeführer, 
vertreten durch Rechtsanwalt Dr. Wolfram Kuoni, Schweizergasse 20, 8001 Zürich, 
 
gegen 
 
Schweizerische Unfallversicherungsanstalt (SUVA), Fluhmattstrasse 1, 6004 Luzern, Beschwerdegegnerin. 
 
Gegenstand 
Unfallversicherung, 
 
Verwaltungsgerichtsbeschwerde gegen den Entscheid des Obergerichts des Kantons Uri vom 9. Januar 2006. 
 
Sachverhalt: 
A. 
Der 1933 geborene B.________ war von Januar 1963 bis Juli 1994 bei der Firma X.________ AG angestellt und somit bei der Schweizerischen Unfallversicherungsanstalt (SUVA) obligatorisch gegen die Folgen von Berufs- und Nichtberufsunfällen sowie Berufskrankheiten versichert. Im Jahre 1992 wurde beim Versicherten Blasenkrebs festgestellt. Die SUVA anerkannte dieses Leiden sowie Rezidive in den Jahren 2004 und 2006 als Berufskrankheit und erbringt dafür die gesetzlichen Versicherungsleistungen. Im Juli 1994 wurde beim Versicherten zusätzlich Magenkrebs festgestellt. Mit Verfügung vom 23. August 2004 verweigerte die SUVA die Anerkennung des Magenkarzinoms als Berufskrankheit. Eine dagegen erhobene Einsprache wurde mit Entscheid vom 22. November 2004 abgewiesen. 
B. 
Die dagegen erhobene Beschwerde wies das Obergericht des Kantons Uri, Verwaltungsgerichtliche Abteilung, mit Entscheid vom 9. Januar 2006 ab. 
C. 
B.________ lässt Verwaltungsgerichtsbeschwerde führen und beantragen, in Aufhebung des kantonalen Entscheides sei festzustellen, dass das Magenkarzinom auf eine versicherte Berufskrankheit zurückzuführen sei, wofür rückwirkend die gesetzlichen Leistungen auszurichten seien. Zudem wird beantragt, nach vorinstanzlicher Verletzung des Akteneinsichtsrechts sei dem Beschwerdeführer dieser Anspruch vollumfänglich zu gewähren. 
 
Die SUVA schliesst auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde, während das Bundesamt für Gesundheit auf eine Vernehmlassung verzichtet. 
D. 
Nach Abschluss des Schriftenwechsels hat der Beschwerdeführer mit Eingabe vom 12. Mai 2006 beantragen lassen, das neu eingereichte medizinische Gutachten von Prof. Dr. med. N.________ vom 10. April 2006 sei im Verfahren zu berücksichtigen. Im Rahmen eines zweiten Schriftenwechsels hat die Beschwerdegegnerin gestützt auf die ärztliche Beurteilung des SUVA-Arztes Dr. med. R.________ vom 15. Februar 2007 erneut auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde geschlossen. Seine Stellungnahme dazu hat der Beschwerdeführer auf einen weiteren ärztlichen Bericht von Prof. Dr. med. N.________ vom 6. März 2007 gestützt. 
 
Das Bundesgericht zieht in Erwägung: 
1. 
Das Bundesgesetz über das Bundesgericht vom 17. Juni 2005 (BGG; SR 173.110) ist am 1. Januar 2007 in Kraft getreten (AS 2006 1205, 1243). Da der angefochtene Entscheid vorher ergangen ist, richtet sich das Verfahren noch nach OG (Art. 132 Abs. 1 BGG; BGE 132 V 393 E. 1.2 S. 395). 
2. 
2.1 Im Beschwerdeverfahren um die Bewilligung oder Verweigerung von Versicherungsleistungen ist die Überprüfungsbefugnis des Bundesgerichts nicht auf die Verletzung von Bundesrecht einschliesslich Überschreitung oder Missbrauch des Ermessens beschränkt, sondern sie erstreckt sich auch auf die Angemessenheit der angefochtenen Verfügung; das Gericht ist dabei nicht an die vorinstanzliche Feststellung des rechtserheblichen Sachverhalts gebunden und kann über die Begehren der Parteien zu deren Gunsten oder Ungunsten hinausgehen (Art. 132 OG). 
2.2 Der Beschwerdeführer hat mit Eingabe vom 12. Mai 2006 beantragen lassen, es sei das neu eingereichte medizinische Gutachten von Prof. Dr. med. N.________ vom 10. April 2006 zu berücksichtigen. Nach Ablauf der Rechtsmittelfrist können - ausser im Rahmen eines zweiten Schriftenwechsels - keine neuen Akten mehr eingebracht werden. Vorbehalten ist der Fall, dass solche Aktenstücke neue erhebliche Tatsachen oder entscheidende Beweismittel im Sinne von Art. 137 lit. b OG darstellen und als solche eine Revision des Gerichtsurteils rechtfertigen könnten (BGE 127 V 353 E. 4 S. 357). 
2.3 Bei dem am 12. Mai 2006 unaufgefordert eingereichten Gutachten vom 10. April 2006 handelt es sich um neue Vorbringen nach Abschluss des Schriftenwechsels, welche im Rahmen eines zweiten Schriftenwechsels nach Art. 110 Abs. 4 OG zu beachten sind und welche zu einer neuen Stellungnahme des SUVA-Arztes Dr. med. R.________ vom 15. Februar 2007 sowie zu einem weiteren Gutachten von Prof. Dr. med. N.________ geführt haben. Wie aus dem Folgenden ersichtlich ist, sind im Hinblick auf den Ausgang des Verfahrens die Voraussetzungen zur Berücksichtigung der nachträglich eingereichten Beweismittel vorliegend erfüllt. 
3. 
3.1 Das kantonale Gericht hat die gesetzlichen Bestimmungen über die gemäss Art. 9 Abs. 1 UVG in Verbindung mit Art. 14 UVV anerkannten Berufskrankheiten sowie die Rechtsprechung zum notwendigen Beweisgrad der überwiegenden Wahrscheinlichkeit (BGE 126 V 353 E. 5b S. 360) zutreffend dargelegt. Ebenfalls richtig hat die Vorinstanz ausgeführt, dass die allfälligen Ansprüche des Beschwerdeführers unter die Regelung von Art. 9 Abs. 1 UVG, nicht aber unter die in Anhang 1 Ziff. 2 UVV genannten Krankheiten fallen. Der Beschwerdeführer kam aber mit Stoffen gemäss Anhang 1 Ziff. 1 UVV in Kontakt, sodass im vorliegenden Fall das Erfordernis einer Wahrscheinlichkeit von mehr als 50 % (BGE 119 V 200 E. 2a S. 200 f.) erfüllt sein muss. Dies kann gegebenenfalls im Einzelfall nachgewiesen werden. Soweit im Einzelfall die Medizin über die Genese einer Krankheit keine Auskunft geben kann, ist auf epidemiologische Studien abzustellen, und eine Anerkennung als Berufskrankheit im Einzelfall ist ausgeschlossen (BGE 126 V 183 E. 4c S. 189 f.). Das gilt nicht nur für die nach Art. 9 Abs. 2 UVG, sondern auch nach Art. 9 Abs. 1 UVG geregelten Fälle. Unter diesen Umständen muss das relative Risiko (SMR oder SIR) mehr als 2 sein (SVR 2000 UV Nr. 22 S. 75 E. 4b, U 293/99). 
3.2 
3.2.1 Die von der Vorinstanz geprüften epidemiologischen Studien weisen überwiegend Werte auf, die ein relatives Risiko von weniger als 2 ergeben. Der Beschwerdeführer bestreitet dies nicht, erwähnt jedoch zwei in den Akten liegenden Studien, nach denen das SMR grösser als 2 ist. 
3.2.2 Die Studie Coggon untersucht die Bevölkerung einer bestimmten Stadt. Sie gibt für die dortigen Gummiarbeiter zwei SMR-Werte an, und zwar den Wert 1,7 und den Wert 2,5. Der höhere Wert ergab sich aber nur unter Berücksichtigung der Ernährungsgewohnheiten, welche - was die allgemeine epidemiologische Erkenntnis unterstreicht - ein erheblicher Risikofaktor für Magenkrebs sind. Zudem weist dieser Wert ein sehr hohes 95%-Vertrauensintervall (1.0-6.4) auf, was die Aussagekraft relativiert. Die Studie kommt denn auch zum Schluss (S. 301), es sei unwahrscheinlich, dass der hohe Magenkrebsanteil in der untersuchten Population einzig mit der Beschäftigung in den dortigen Industrien erklärt werden könne. 
3.2.3 Die ebenfalls in den Akten liegende Studie Straif et al. gibt keine SMR-Werte (Vergleich zwischen Gummi-Arbeitern und Gesamtbevölkerung), sondern Hazard Rate Ratios verschiedener Gruppen von Gummiarbeitern in Relation zur Exposition gegenüber verschiedenen Stoffen. Die erhobenen Werte beruhen zudem auf absolut kleinen Fallzahlen und weisen dementsprechend grosse 95%-Vertrauensintervalle auf (S. 301). Die Studie folgert einen Zusammenhang zwischen Staubexposition und Magenkrebsrisiko (S. 303 f.), enthält aber entgegen der Darstellung des Beschwerdeführers keinen SMR-Wert von mehr als 2, sondern von 1,17 (Tabelle 3). 
 
Über die konkrete Staubexposition des Beschwerdeführers während seiner Berufstätigkeit bestehen keine quantitativen Angaben. Es ist daher nicht erwiesen, dass er zu den am höchsten exponierten Arbeitern im Sinne der Studie Straif et al. gehörte. 
3.3 In der Verwaltungsgerichtsbeschwerde kritisiert der Beschwerdeführer, die SMR-Werte würden sich nicht auf Krankheitsfälle, sondern nur auf Todesfälle beziehen. In den genannten Studien sind keine epidemiologischen Daten ersichtlich, gemäss denen bei Berücksichtigung sämtlicher Krankheitsfälle sich Werte von mehr als 2 gegenüber der Gesamtbevölkerung ergäben. In Bezug auf Staubexposition im Steinkohlebergbau hat eine Studie von Morfeld et al. (Abstract eines Vortrags an der 47. Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Arbeitsmedizin und Umweltmedizin, 21.-24. März 2007) auch bei den Erkrankungsfällen nur SIR-Werte von 1,2-1,3 ergeben. Diese Studie betrifft zwar nicht die Gummiindustrie, belegt aber, dass SMR- und SIR-Werte vergleichbar sind. Sie kann insofern hier beigezogen werden, als auch in der Gummiindustrie die Magenkrebsfälle primär auf die Staubexposition zurückgeführt werden. 
3.4 Aus dem Gesagten geht hervor, dass der epidemiologische Nachweis einer vorwiegend berufsbedingten Krankheit gesamthaft nicht erbracht ist. 
4. 
Der Beschwerdeführer versucht allerdings unter Berufung auf die Gutachten von Prof. Dr. med. N.________ eine Berufskrankheit im Einzelfall nachzuweisen. 
4.1 Soweit Prof. Dr. med. N.________ seine Argumentation vor allem auf das Fehlen anderer Risikofaktoren und auf den Umstand abstützt, dass beim Beschwerdeführer das Karzinom vor dem mittleren Erkrankungsalter aufgetreten ist, kann dies nicht überzeugen. 
4.2 Der Gutachter führt weiter aus, dass die Magenkrebshäufigkeit bei Gummiarbeitern mit der Höhe der Staubexposition zusammenhängt. Dies ist aufgrund der zitierten Literatur als belegt zu erachten. Indessen ist nach der Aktenlage nicht belegt, dass der Beschwerdeführer zu den am meisten exponierten Arbeitern gehörte. Der Gutachter setzt zwar voraus, dass der Beschwerdeführer zu den Höchstexponierten gehörte; dies ergibt sich aber entgegen seiner Annahme nicht schon daraus, dass der Blasenkrebs als Berufskrankheit anerkannt wurde. Denn die Anerkennung von Blasenkrebs als Berufskrankheit hängt bei Gummiarbeitern nicht davon ab, dass im Einzelfall eine besonders hohe Exposition nachgewiesen wird. 
4.3 Das kantonale Gericht stellt darauf ab, dass es keine epidemiologischen Nachweise gibt, wonach der SMR-Wert für Magenkrebs bei Gummiarbeitern höher als 2 wäre. Das trifft in genereller Weise zu. Es gibt indessen Studien - vor allem die in den Rechtsschriften wiederholt zitierte Studie Straif -, wonach innerhalb der Gruppe der Gummiarbeiter die Höchstexponierten eine deutlich höhere Magenkrebshäufigkeit aufweisen als die weniger exponierten. Daraus (vgl. S. 301, Tabelle 4) ergibt sich (allerdings bei sehr grossen Vertrauensintervallen), dass bei den Höchst-Talk-Exponierten die HRR 4,3 ist gegenüber den am wenigsten exponierten Gummiarbeitern. Geht man davon aus, dass die wenig exponierten Arbeiter ein mit der Gesamtbevölkerung vergleichbares Risiko haben, ergäbe sich dadurch für die Höchstexponierten ein SMR-Wert von deutlich mehr als 2. 
4.4 Der Beschwerdeführer stützt sich hinsichtlich der Exposition auf die Gutachten von Prof. Dr. med. N.________, welcher die Berufskrankheit bejaht, weil er davon ausgeht, der Versicherte habe zu den Höchstexponierten gehört. Die Gutachten dieses Arbeitsmediziners und die Erkenntnisse des SUVA-Arztes Dr. med. R.________ in seinen früheren Berichten sowie im Arztbericht vom 15. Februar 2007 führen zu grundlegend unterschiedlichen Ergebnissen. Dabei könnte die Anspruchsberechtigung des Versicherten allenfalls gegeben sein, wenn auf die Expertise von Prof. Dr. med. N.________ abgestellt würde und zusätzlich nachgewiesen werden könnte, dass der Beschwerdeführer den fraglichen Schadstoffen in hohem Masse ausgesetzt war. 
4.5 Trotz langer Zeitdauer seit der Auflösung des Arbeitsverhältnisses (1994) kann nicht zum vornherein ausgeschlossen werden, dass eine entsprechende, durch die SUVA durchzuführende Abklärung über mehrere Jahrzehnte zurück verwertbare Ergebnisse bezüglich der tatsächlichen Exposition ergeben würde und der Expositionsnachweis damit erbracht werden könnte. Dabei ist zu berücksichtigen, dass es sich bei der Firma X.________ AG um eine noch in Betrieb stehende Grossfirma handelt, sodass es möglich sein sollte, ehemalige Mitarbeiter ausfindig zu machen und allenfalls auch Berichte des Fabrikinspektorats des Kantons Uri oder andere für Schadstoffexposition relevante Unterlagen beizuziehen, wobei der Versicherte auch selber befragt werden kann. Gelingt der Nachweis einer besonders hohen Schadstoffexposition nicht, wird es damit sein Bewenden haben und wird der Beschwerdeführer keine Ansprüche geltend machen können. Gelingt dieser Nachweis indessen, wird die SUVA, sollte sie sich den Gutachten von Prof. Dr. med. N.________ nicht unterziehen können, eine Oberexpertise anzuordnen haben, bevor sie neu über die Leistungsansprüche des Beschwerdeführers befindet. Der kantonale Entscheid ist in diesem Sinne aufzuheben und die Sache an die Beschwerdegegnerin zurückzuweisen. 
5. 
Bei diesem Ausgang ist die Rüge der Verletzung des Akteneinsichtsrechts gegenstandslos. Im Rahmen der neu vorzunehmenden Abklärungen wird die Beschwerdeführerin dem Beschwerdeführer selbstverständlich Einsicht in alle Akten zu gewähren haben, auf die sie sich stützt. 
6. 
Das Verfahren ist kostenlos (Art. 134 OG). Dem Prozessausgang entsprechend hat der Beschwerdeführer Anspruch auf eine Parteientschädigung (Art. 135 in Verbindung mit Art. 159 Abs. 2 OG). 
Demnach erkennt das Bundesgericht: 
 
1. 
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird in dem Sinne gutgeheissen, dass der Entscheid des Obergerichts des Kantons Uri, Verwaltungsgerichtliche Abteilung, vom 9. Januar 2006 und der Einspracheentscheid der SUVA vom 22. November 2004 aufgehoben werden und die Sache an die Schweizerische Unfallversicherungsanstalt zurückgewiesen wird, damit sie, nach erfolgter Abklärung im Sinne der Erwägungen, über die Versicherungsleistungen neu verfüge. 
2. 
Es werden keine Gerichtskosten erhoben. 
3. 
Die Schweizerische Unfallversicherungsanstalt hat dem Beschwerdeführer für das Verfahren vor dem Bundesgericht eine Parteientschädigung von Fr. 2'500.- (einschliesslich Mehrwertsteuer) zu bezahlen. 
4. 
Das Obergericht des Kantons Uri, Verwaltungsgerichtliche Abteilung, wird über eine Parteientschädigung für das kantonale Verfahren entsprechend dem Ausgang des letztinstanzlichen Prozesses zu befinden haben. 
5. 
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Obergericht des Kantons Uri, Verwaltungsrechtliche Abteilung, und dem Bundesamt für Gesundheit zugestellt. 
Luzern, 7. Mai 2007 
Im Namen der I. sozialrechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
Der Präsident: Der Gerichtsschreiber: