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Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
{T 0/2} 
5P.474/2005 /bnm 
 
Urteil vom 8. März 2006 
II. Zivilabteilung 
 
Besetzung 
Bundesrichter Raselli, Präsident, 
Bundesrichterin Escher, Bundesrichter Marazzi, 
Gerichtsschreiber Zbinden. 
 
Parteien 
X.________ (Ehefrau), 
Beschwerdeführerin, 
vertreten durch Rechtsanwältin Béatrice Abegglen, 
 
gegen 
 
Y.________ (Ehemann), 
Beschwerdegegner, 
vertreten durch Fürsprech Dr. Urs Tschaggelar, 
Obergericht des Kantons Solothurn, Zivilkammer, Amthaus I, Amthausplatz, 4500 Solothurn. 
 
Gegenstand 
Art. 9 BV (Eheschutzmassnahmen), 
 
Staatsrechtliche Beschwerde gegen das Urteil des Obergerichts des Kantons Solothurn, Zivilkammer, vom 24. November 2005. 
 
Sachverhalt: 
A. 
Im Rahmen von Eheschutzmassnahmen für das kinderlose Ehepaar verpflichtete der Gerichtspräsident von Solothurn-Lebern mit Urteil vom 15. Februar 2005 den Ehemann, Y.________, der Ehefrau, X.________, einen monatlichen Unterhaltsbeitrag von Fr. 300.-- zu bezahlen. Dieses Urteil erwuchs in Rechtskraft. 
B. 
Mit Eingabe vom 6. Juli 2005 beantragte der Ehemann im Rahmen einer Abänderungsklage die Aufhebung des Unterhaltsbeitrages an die Ehefrau. In diesem Verfahren schloss die Ehefrau auf Abweisung der Klage und beantragte ihrerseits, die IV-Stelle der Ausgleichskasse Solothurn anzuweisen, den Unterhaltsbeitrag direkt von der IV-Rente des Ehemannes abzuziehen und den Betrag auf ihr Konto zu überweisen. Mit Urteil vom 22. September 2005 gab der Gerichtspräsident dem Abänderungsbegehren des Ehemannes nicht statt, hiess demgegenüber das Begehren der Ehefrau gut und nahm die verlangte Anweisung vor (Dispositiv-Ziff. 3). 
 
In Gutheissung eines Rekurses des Ehemannes hob das Obergericht des Kantons Solothurn Ziff. 3 des Präsidialurteils (Anweisung an die Ausgleichskasse) auf mit der Begründung, Art. 20 Abs. 1 ATSG sehe die verlangte Direktzahlung nur an eine unterstützungspflichtige Person vor. 
C. 
Die Ehefrau führt staatsrechtliche Beschwerde mit den Begehren, das obergerichtliche Urteil aufzuheben und ihr für das bundesgerichtliche Verfahren die unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung zu gewähren. Es sind keine Vernehmlassungen eingeholt worden. 
 
Das Bundesgericht zieht in Erwägung: 
1. 
Gemäss Art. 20 Abs. 1 des Bundesgesetzes über den Allgemeinen Teil des Sozialversicherungsrechts (SR 830.1; ATSG) können Geldleistungen ganz oder teilweise "einem geeigneten Dritten oder einer Behörde ausbezahlt werden, der oder die der berechtigten Person gegenüber gesetzlich oder sittlich unterstützungspflichtig ist oder diese dauernd fürsorgerisch betreut". Solche Leistungen an Dritte sind überdies an zwei Voraussetzungen geknüpft, welche hier indes nicht von Belang sind, weshalb vorliegend nicht näher darauf einzugehen ist (Art. 20 Abs. 1 lit. a und b ATSG). Das Obergericht hat dafürgehalten, nach dem klaren Wortlaut dieser Bestimmung könne die IV-Rente des Beschwerdegegners im Umfang des zugesprochenen Unterhaltsbeitrages nur an eine unterstützungspflichtige Person weitergeleitet werden. Die Überweisung an eine unterstützungsberechtigte Person - wie hier die Beschwerdeführerin - komme nicht in Betracht; damit sei dem Massnahmenrichter verwehrt, dem Antrag der Beschwerdeführerin entsprechend die IV-Stelle der Ausgleichskasse anzuweisen, den Unterhaltsbeitrag direkt von der IV-Rente des Beschwerdegegners abzuziehen und den Betrag auf das Konto der Beschwerdeführerin zu überweisen. Eine solche Massnahme sei nur für Kinderrenten möglich. 
2. 
2.1 Die Beschwerdeführerin beanstandet im Wesentlichen, es sei willkürlich, die zivilrichterliche Anweisung allein auf den Unterhalt für Kinder zu beschränken und die unterhaltsberechtigte Ehefrau davon auszuklammern. Mit der Einführung des ATSG habe der Gesetzgeber den Zweck der alten Normen des Sozialversicherungsrechts, die Gewährleistung zweckmässiger Verwendung von Sozialversicherungsleistungen, nicht preisgegeben, sei doch mit der Einführung des fraglichen Gesetzes keine Verschlechterung der Stellung der Unterhaltsgläubiger von Rentenbezügern, sondern einzig eine Vereinheitlichung und Vereinfachung des Verfahrens beabsichtigt gewesen. Indem sich das Obergericht an den genauen Wortlaut von Art. 20 Abs. 1 ATSG geklammert und damit triftige Gründe nicht beachtet habe, die sich aus Sinn und Zweck der Norm sowie aus deren Entstehungsgeschichte ergeben und gegen einen wortwörtliche Auslegung sprechen, sei es in Willkür verfallen. In der Lehre werde denn auch eine Anweisung nach Art. 132, 177 oder Art. 291 ZGB für Sozialversicherungsleistungen bejaht. Schliesslich habe sich das Bundesgericht in BGE 102 V 37 für einen Vorrang des Zivilrechts vor dem Sozialversicherungsrecht ausgesprochen. 
2.2 Das Gesetz muss in erster Linie aus sich selbst heraus, d.h. nach Wortlaut, Sinn und Zweck und den ihm zugrunde liegenden Wertungen ausgelegt werden (BGE 127 V 1 E. 4a S. 5, 88 E. 1d S. 92; 125 II 206 E. 4a S. 208; 124 III 259 E. 3a S. 262). Ist der Wortlaut einer Vorschrift klar und unzweideutig, so ist die rechtsanwendende Behörde daran gebunden, sofern nicht triftige Gründe zur Annahme bestehen, dass er nicht den wahren Sinn der Bestimmung wiedergibt (BGE 124 II 265 E. 3a S. 268; 118 Ib 187 E. 5a S. 191; 113 Ia 12 E. 3c S. 14, 437 E. 3 S. 444). Solche triftigen Gründe können sich aus der Entstehungsgeschichte, aus Sinn und Zweck der Norm und aus dem Zusammenhang mit anderen Gesetzesbestimmungen ergeben. Weicht die Behörde vom klaren Wortlaut ab, ohne dass solche Gründe vorliegen, handelt sie willkürlich (BGE 113 Ia 12 E. 3c S. 14; 115 Ia 120 E. 2d S. 123; 119 Ia 433 E. 4 S. 439; 125 I 164 E. 3c). 
2.3 
2.3.1 Wie sich bereits aus der Marginalie zu Art. 20 ATSG ergibt, bezweckt auch diese Bestimmung die "Gewährleistung zweckmässiger Verwendung" sozialversicherungsrechtlicher Leistungen (siehe dazu auch: Kieser, ATSG-Kommentar, 2003, N. 2 zu Art. 20 ATSG). Daraus lässt sich indes - entgegen der Auffassung der Beschwerdeführerin - kein triftiger Grund ableiten, um die Bestimmung mit Bezug auf die für eine Überweisung von Geldleistungen geeigneten Personen nicht ihrem Wortlaut entsprechend auszulegen. 
2.3.2 Dies gilt ebenso für die Entstehungsgeschichte, aus welcher sich vielmehr Anhaltspunkte für eine sich am Wortlaut orientierende Auslegung gewinnen lassen. Nach Auffassung der Schweizerischen Gesellschaft für Versicherungsrecht sollte die "Regel", wonach Leistungen zur zweckmässigen Verwendung an Dritte bezahlt werden können, im Allgemeinen Teil verankert werden. Bereits Art. 27 des Entwurfs zum Bundesgesetz zu einem Allgemeinen Teil zum Sozialversicherungsrecht sah vor, dass Geldleistungen unter bestimmten hier nicht relevanten Voraussetzungen ganz oder teilweise an "eine geeignete Drittperson oder Behörde auszuzahlen" sind, "die dem Berechtigten gegenüber gesetzlich oder sittlich unterstützungspflichtig ist oder ihn dauernd fürsorgerisch betreut". (Bericht und Entwurf zu einem allgemeinen Teil der Sozialversicherung). Dieser Grundsatz wurde schliesslich in Art. 20 Abs. 1 ATSG aufgenommen. 
2.3.3 Im Rahmen der Entstehung des Gesetzes erachtete die nationalrätliche Kommission es als richtig, die in den Einzelgesetzen bestehenden Abweichungen vom Grundsatz, wie er im ATSG verankert werden soll, beizubehalten (Kieser, a.a.O., N. 1 zu Art. 20 ATSG). Sie hielt zum Beispiel mit Bezug auf Art. 22bis AHVG (Zusatzrente zur Invalidenrente des Ehegatten) und Art. 34 IVG (Kinderrente) ausdrücklich fest: "Es handelt sich um zusätzliche Möglichkeiten der separaten Auszahlung der Zusatzrenten, welche auf Begehren und ohne Voraussetzung der Fürsorgeabhängigkeit auch weiterhin vorgenommen werden sollen." Die Kommission schlug daher vor, in den beiden Artikeln eine Abweichungsklausel einzufügen (Parlamentarische Initiative Sozialversicherungsrecht, Bericht der Kommission des Nationalrates für soziale Sicherheit und Gesundheit, vom 26. März 1999, BBl 1999 S. 4563). In der geltenden Fassung gemäss Anhang Ziff. 7 des ATSG sieht Art. 22bis Abs. 2 AHVG vor, dass die Zusatzrente in Abweichung von Art. 20 ATSG unter gewissen hier nicht relevanten Voraussetzungen dem "nicht rentenberechtigten Ehegatten" auszuzahlen ist. Artikel. 35 Abs. 4 IVG in der Fassung gemäss Anhang Ziff. 8 des ATSG behält nunmehr mit Bezug auf Kinderrenten auch von Art. 20 ATSG abweichende zivilrichterliche Anordnungen vor. 
2.3.4 Wie sich aus der Entstehungsgeschichte ergibt, bilden Art. 22bis AHVG und 35 Abs. 4 IVG Ausnahmen zum Grundsatz des Art. 20 Abs. 1 ATSG, wonach die Versicherungsleistung einem geeigneten gegenüber dem Rentenberichtigten unterstützungspflichtigen Dritten oder einer gegenüber dem Rentenberechtigten unterstützungspflichtigen Behörde ausbezahlt werden kann. Aus der Entstehungsgeschichte, aber auch aus dem Zusammenhang mit anderen Normen kann ohne Willkür geschlossen werden, Artikel 20 Abs. 1 ATSG sei wortgetreu auszulegen. 
2.4 Die Auffassung der Beschwerdeführerin findet überdies auch in der Lehre keine Stütze, zumal die bemühten Autoren ihre Ausführungen nicht auf die Bestimmungen des AHVG bzw. IVG beziehen. Schwenzer erwähnt unter dem Titel "Gegenstand und Inhalt der Anweisung" Sozialleistungen (Famkom Scheidung, 2005, N. 6 zu Art. 132 ZGB), während Sutter/Freiburghaus von "öffentlich rechtlichen Sozialleistungen" sprechen (Kommentar zum Scheidungsrecht, 1999, N. 9 zu Art. 132). Die zitierte Rechtsprechung (BGE 102 V 37) schliesslich bezieht sich auch nicht auf die aktuellen Bestimmungen. 
 
Zusammenfassend erweist sich das obergerichtliche Urteil im Ergebnis als mit Art. 9 BV vereinbar. 
3. 
Unbehelflich ist schliesslich die Rüge der Beschwerdeführerin, die wortwörtliche Auslegung von Art. 20 Abs. 1 ATSG verletze das Gleichheitsgebot (Art. 8 BV) sowie den Grundsatz von Treu und Glauben (Art. 9 BV). 
 
Bundesgesetze sind für das Bundesgericht und die anderen rechtsanwendenden Behörden massgebend (Art. 191 BV). Eine Korrektur der Norm mittels verfassungskonformer Auslegung scheitert am klaren Wortlaut und Willen des historischen Gesetzgebers (BGE 131 II 697 E. 5). Auch unter diesem Blickwinkel lässt sich dem Obergericht nicht vorwerfen, es habe sich zu Unrecht vom klaren Wortlaut von Art. 20 Abs. 1 ATSG leiten lassen. 
4. 
Die staatsrechtliche Beschwerde ist folglich abzuweisen. Bei diesem Ausgang des Verfahrens wird die Beschwerdeführerin kostenpflichtig (Art. 156 Abs. 1 OG). Eine Parteientschädigung ist nicht zu sprechen, da keine Vernehmlassung eingeholt worden ist. 
5. 
Die staatsrechtliche Beschwerde hat sich von Anfang an als aussichtslos erwiesen; dem Gesuch der Beschwerdeführerin um unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung kann nicht entsprochen werden (Art. 152 Abs. 1 OG). 
 
Demnach erkennt das Bundesgericht: 
1. 
Die staatsrechtliche Beschwerde wird abgewiesen. 
2. 
Das Gesuch der Beschwerdeführerin um unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung wird abgewiesen. 
3. 
Die Gerichtsgebühr von Fr. 1'500.-- wird der Beschwerdeführerin auferlegt. 
4. 
Dieses Urteil wird den Parteien und dem Obergericht des Kantons Solothurn, Zivilkammer, schriftlich mitgeteilt. 
Lausanne, 8. März 2006 
Im Namen der II. Zivilabteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
Der Präsident: Der Gerichtsschreiber: